Ukraine: Warum ein „Verhandlungsfrieden“ nicht so einfach ist
Wie realistisch sind Verhandlungen mit Russland, und würde ein Einstellen der Kampfhandlungen den Einwohnern der Ukraine tatsächlich Frieden bringen?
Russische Offizielle kommunizieren eigentlich sehr klar, was Sache ist: Außenminister Lawrow betont, dass die Ziele Russlands nach wie vor „Entnazifizierung“, die Anerkennung der von Russland annektierten bzw. beanspruchten „neuen Gebiete“ und die Entmilitarisierung der Ukraine sind. Sollte diese den Forderungen nicht nachkommen, werde das russische Militär sie durchsetzen, fügt er hinzu.
Übersetzt heißt das: Man will die Regierung stürzen, Vasallen einsetzen und durch die Entmilitarisierung sicherstellen, dass dieser Zustand irreversibel ist. Eine Aussicht, die freilich für keinen Staat dieser Welt akzeptabel wäre. Wenn Russland von „neuen Gebieten“ spricht, geht es nicht mehr „nur“ um den Donbas, sondern auch um Saporischschja und die Oblast Cherson – Regionen die man im Herbst 2022 nach Scheinreferenden zu russischem Staatsgebiet erklärt hat.
„Es kann keinen Friedensplan für die Ukraine geben, der nicht die heutigen Realitäten auf dem russischen Territorium berücksichtigt.“
Kreml-Sprecher Dmitri Peskov
Unter diesen „neuen Realitäten” versteht die Kreml-Führung die russischen Gebietsansprüche in der Ukraine, welche sich auf die genannten Regionen beziehen, die Moskau allerdings nur teilweise unter militärische Kontrolle gebracht hat. Viele besetzte Gebiete konnte die Ukraine inzwischen befreien, wie z.B. die Hauptstadt der gleichnamigen Oblast Cherson. Würde die Ukraine auf die Forderung des Kremls eingehen, müsste sie kampflos auch von der Ukraine kontrollierte Gebiete den Besatzungstruppen übergeben. Der in Russland populäre Komödiant Yevgeny Petrosyan drückt es bei der russischen Neujahrsgala 2022 so aus: „Ob es euch gefällt oder nicht, Russland vergrößert sich!”
Die Glaubwürdigkeit Russlands als Verhandlungspartner liegt bei null
Den ukrainischen Friedensplan, der einen vollständigen Abzug russischer Truppen vorsieht, lehnt Moskau kategorisch ab. Ein Blick auf die Propaganda in den russischen Staatsmedien gibt ebenso wenig Hoffnung auf glaubhafte Verhandlungslösungen von russischer Seite. In der Sendung des Top-Propagandisten Solowjow spricht der „Politikexperte” Dmitry Drobnitsky sogar von einem „Nazi-Problem” in Kasachstan und weist auf die zahlreichen ethnischen Russen in dem Nachbarland hin.
Solowjow selbst schreckt in seinen jüngsten Hasstiraden nicht einmal davor zurück, von Raketenangriffen auf Berlin und Paris zu fantasieren oder die Deutsche Wiedervereinigung und die Unabhängigkeit ehemaliger Sowjetrepubliken in Abrede zu stellen. In einer anderen Sendung des russischen Staatsfernsehens wurde sogar von den „vergessenen Biolaboratorien” in Kasachstan gesprochen – ein altbekanntes Schreckgespenst, das bereits bei der Invasion der Ukraine als einer der zahlreichen „Kriegsgründe” gedient hat.
Der kasachische Journalist Arman Shuarev zeigte sich in einem Video so empört über die feindseligen Andeutungen des russischen Botschafters in Kasachstan, dass er in einem Video seinem Ärger Luft machte.
Immer neue Gründe für den Krieg – nicht nur in der Ukraine
Mit seiner Kritik ist er in Kasachstan nicht allein: Astana hat jüngst sogar Generatoren an die von Energieausfällen erschütterte Ukraine geschickt und zeigt sich so kritisch wie diplomatisch möglich, wenn man bedenkt, dass Kasachstan eigentlich ein Bündnispartner Russlands ist. Die ehemalige Sowjetrepublik ist Teil des von Russland dominierten Verteidigunspakts „OVKS“ und Mitglied in der Eurasischen Wirtschaftsunion. Doch auch das schützt nicht davor, ins Fadenkreuz der russischen Propagandadrohungen zu geraten.
Allerdings braucht es keine Analyse des Umgangs Moskaus mit Verbündeten, um massive Zweifel an potenziellen Sicherheitsgarantien zu hegen. Zu oft wurden Versprechen gebrochen und Aussagen des Kremls als Lügen entlarvt.
Dabei muss man nicht einmal zum Budapester Memorandum (1994) oder dem Russisch-Ukrainischen Freundschaftsvertrag (1997) zurückgehen, die die territoriale Integrität der Ukraine eigentlich garantieren sollten. Noch bei der Ankündigung der „Spezialoperation” behauptete Putin, dass es kein Okkupationsregime geben würde – wenige Tage vor der Invasion wurde sogar die Vermutung ins Lächerliche gezogen, dass überhaupt eine militärische Operation geplant wäre. Betrachtet man den unvergleichlichen Desinformations- und Propagandaapparat der Russischen Föderation, wird deutlich, dass Moskau ein ganzes Menü an erfundenen Kriegsgründen jederzeit abrufen und so neue militärische Abenteuer „begründen” kann.
Was bei den Forderungen nach Friedensverhandlungen auch oft unterschlagen wird, ist die Situation in den von Russland okkupierten Gebieten. Neben den bekannten Kriegsverbrechen wie Vergewaltigungen und Folter sind Plünderungen an der Tagesordnung. Davon berichten nicht nur ukrainische Journalisten, Menschenrechtler und Augenzeugen, sondern auch russische Soldaten selbst.
Eine geradezu absurde Videokampagne bewirbt den Kriegseinsatz in der Ukraine derzeit als Chance, das Haushaltsbudget aufzubessern, um zum Beispiel der Tochter ein neues Smartphone kaufen zu können. Eine bittere Ironie, bedenkt man, dass russische Soldaten immer wieder Smartphones gestohlen haben, deren Weg über Belarus bis nach Russland oft noch per Ortung nachvollziehbar war. In einer Recherche der New York Times wurden kürzlich russische Kriegsverbrecher identifiziert, weil sie Smartphones der davor exekutierten Zivilisten für Anrufe nach Russland genutzt haben.
Kriegsverbrechen müssen geahndet werden
Eine zentrale Forderung des kürzlich präsentierten ukrainischen Friedensplans ist neben dem Truppenabzug auch die juristische Verfolgung der russischen Kriegsverbrechen. Diese werden von russischer Seite derzeit nicht nur nicht bestraft, sondern auch vehement geleugnet.
Besonders auffällig ist der Fall Igor Girkin. Der Moskauer Nationalist und Warlord spielte bereits 2014 eine tragende Rolle in der Destabilisierung der Donbas-Region. 2022 wurde er von einem niederländischen Gericht für den Abschuss der Passagiermaschine MH17 (298 Tote) zu lebenslanger Haft verurteilt. Girkin hat auch in Interviews zugegeben, dass er 2014 unter anderem die Anweisung zur Exekution mehrerer ukrainischer Aktivisten gegeben hat. Juristische Konsequenzen gab es für ihn in Russland keine – erst kürzlich hat er wieder ein Video veröffentlicht, in dem er eine militärische Konfrontation mit Kasachstan prognostiziert.
Für das Regime spielt es seit jeher keine Rolle, ob es erdrückende Beweise für Kriegsverbrechen durch die russische Armee bzw. Söldner gibt, es wird prinzipiell geleugnet und versucht, mit gezielter Desinformation Verwirrung zu stiften.
Nicht geleugnet, aber zu einer „humanitären Geste“ umgedeutet wird die Deportation von Kindern aus den besetzten Gebieten nach Russland. Filtrationslager, in welchen Folter, Umerziehungskurse und stundenlange Verhöre vorherrschen, wurden von der russischen Botschaft in den USA nur lapidar „Checkpoints für Zivilisten“ genannt.
Es zeigt sich also, dass das Leid in der Ukraine durch die russische Invasion nicht nur auf direkte Kampfhandlungen und Angriffe auf die zivile Infrastruktur beschränkt ist. Wer Friedensverhandlungen fordert, sollte die Realitäten in Russland und in den besetzten Gebieten zumindest mitbedenken – denn die Darstellung, dass es nur „an der Sturheit“ der ukrainischen Führung scheitert, ist nicht nur stark vereinfacht, sondern schlicht falsch.
Solange die Rahmenbedingung für „Frieden“ eine Terrorherrschaft der Besatzungsmacht ist, wird die Mehrheit der Ukrainer wohl weiterhin lieber Widerstand leisten.
Ist ein Ende des militärischen Widerstands gleichbedeutend mit Frieden?
Fast täglich erreichen uns Nachrichten aus der Ukraine von Drohnen- und Raketenangriffen auf zivile Infrastruktur. Viele davon weitab der eigentlichen Frontlinien. Was ist also das Ziel dieser Angriffe, die nicht nur zu Toten und Verletzten, sondern auch zu landesweiten Ausfällen der Energieversorgung führen? Der Kreml will den Widerstand brechen, eben nicht nur in Bezug auf den Versuch der Ukrainer, Gebiete zu befreien, sondern um das definierte Endziel zu erreichen: die totale Unterwerfung des Nachbarlandes, Einverleibung mehrerer Oblaste in die Russische Föderation und Installation einer Marionettenregierung.
Mit der territorialen Beanspruchung ukrainischer Gebiete weit über den Donbas hinaus hat die russische Regierung die Chance auf konstruktive Verhandlungen praktisch verunmöglicht. Die außenpolitische Sprecherin und Parteichefin der SPÖ, Pamela Rendi-Wagner, fordert im November in einer Presseaussendung: „EU und Österreich müssen alles für Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg tun“. Selten werden in solchen Forderungen aber konkrete Vorstellungen präsentiert, wie so eine Verhandlungslösung überhaupt aussehen könnte. Der Begriff „Verhandlungslösung“ wirft aber bereits die Frage auf: Welche Probleme sollen denn durch Verhandlungen gelöst werden? Die Besatzung der Ukraine durch Russland, regelmäßige Angriffe und Kriegsverbrechen sind Fakten, die „Kriegsgründe“ Russlands aber bewegen sich im Reich von Mythen und Propaganda. Vereinfacht gesagt: Es gab kein real nachvollziehbares „Problem“ für Russland, welches man jetzt lösen könnte.
Manche interpretieren das Bedürfnis der Ukraine, NATO-Mitglied zu werden, als „Sicherheitsproblem“ für Moskau. Dabei wird aber oft außer acht gelassen, dass es 1) keinerlei Anzeichen dafür gab, dass von der NATO eine Gefahr für Russland ausgehen könnte, und 2) das Bedürfnis einer NATO-Mitgliedschaft in der ukrainischen Bevölkerung erst nach der russischen Aggression 2014 eine absolute Mehrheit gefunden hat.
Welche „Zugeständnisse“ könnte man also Russland eigentlich machen, ohne einen militärischen Überfall auf ein friedliches Land zu belohnen? Ist ein Waffenstillstand ohne Sicherheitsgarantien nicht vielleicht eine Einladung für die russische Führung, sich nach einer „Verschnaufpause“ mit „neuem Elan“ wieder dem Eroberungskrieg zu widmen?
Abwesenheit von Kampfhandlungen bedeutet auch nicht das Ausbleiben von Kriegsverbrechen, ganz im Gegenteil: Exekutionen, Folter, Plünderungen, Massengräber, Deportationen, Umerziehungslager, das sind alles Dinge, welche die ukrainische Bevölkerung genau dort erlebt, wo es eben keinen Widerstand mehr gibt, wo die russische Armee und Söldnertruppen freie Hand haben. All diese Verbrechen in den besetzten Gebieten würden mit einem Waffenstillstand nicht enden – wohl aber die Hoffnung, so wie in Cherson, Izium oder Butscha, von der ukrainischen Armee befreit zu werden.
Für uns Europäer sollte sich nach einem Blick auf die Landkarte auch noch eine weitere Frage stellen: Was bedeutet es für unsere Sicherheitsarchitektur, wenn in Europa durch Gewalt Grenzen verschoben werden und wir diesen Zustand anerkennen würden?
DIETMAR PICHLER ist Programmatic Director am Zentrum für Digitale Medienkompetenz. Der geborene Wiener ist seit 15 Jahren in unterschiedlichen Funktionen im Bereich Marketing und Kommunikation tätig. Nach seinem Masterabschluss im Bereich Kommunikationsmanagement absolvierte er diverse universitäre Fortbildungen in den Bereichen Wirtschaft, Internationale Beziehungen, European Studies und Social Media. Zudem ist Dietmar Pichler Initiator der europäischen Medienplattform „stopovereurope.eu“ und als Vorstandsmitglied des Vereins „Vienna goes Europe“ tätig.