25 Jahre Karfreitagsabkommen: Ein Sieg der Diplomatie
Pfarrer Edward Daly hat ein blutbeschmiertes weißes Taschentuch in die Höhe gestreckt. Der katholische Priester führt vier Männer, die den schwerverletzten, angeschossenen 17-jährigen Jake Duddy tragen. Sie versuchen, den Teenager in Sicherheit zu bringen, doch Duddy wird wenig später in einer Nebengasse sterben, Daly wird ihm die letzte Ölung spenden. Das Bild dieser verzweifelten Gruppe von Männern, die versuchen, sich vor den Schüssen der britischen Armee zu schützen, das blutbefleckte Taschentuch in der Hand des Priesters, wurde zu einer Ikone des Bloody Sunday. An diesem 30. Jänner 1972 schossen Fallschirmjäger der britischen Spezialeinheit Parachute Regiments in der nordirischen Stadt Derry bei einer nicht genehmigten Demonstration gegen die britische Internierung von Katholik:innen ohne Anklage auf mindestens 26 Demonstrierende. 13 Menschen starben, darunter Jake Duddy.
30 Jahre Blutvergießen
Der Bloody Sunday wurde ein Fanal der Troubles, des nordirischen Bürgerkriegs, der zwischen den späten 1960ern und 1998 wütete. Über 50.000 Menschen wurden über die Jahre verletzt, 3.532 Menschen starben auf beiden Seiten.
Der Hintergrund: Katholische Gruppen rund um ihren bewaffneten Flügel, die Irish Republican Army (IRA), wollten eine Vereinigung mit der (vorwiegend katholischen) Republik Irland. Ihnen standen unionistische Protestant:innen mit der Miliz der Ulster Defence Association (UDA) gegenüber, die Nordirland weiterhin als Teil des Vereinigten Königreichs erhalten wollten. Irland war seit dem Mittelalter de facto eine britische Kolonie und hatte sich erst im 20. Jahrhundert die Unabhängigkeit erkämpft. Die irischen Nationalist:innen in Nordirland wollten diese Unabhängigkeit aber auch auf diese Provinz erweitern, während die dortige (damalige) protestantische Mehrheitsbevölkerung und London das ablehnten.
Nach dem Bloody Sunday eskalierte die Gewalt, die IRA führte zahlreiche Bombenattentate durch, unter anderem ermordete sie 1979 Lord Mountbatten, den ehemaligen Ersten Marinelord und Onkel der Queen, und versuchte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1984 in einem Hotel in Brighton mit einer Bombe zu ermorden. Die britische Seite reagierte mit Schüssen auf Demonstrierende, die Abschottung von katholischen Wohngebieten durch Mauern und erbärmliche Haftbedingungen für katholische Kämpfer:innen bis hin zur Zwangsernährung.
Hoffnung auf Frieden
Doch 1998 wurde geschafft, was wenige für möglich hielten. Unter höchster Beteiligung aus den USA kam am 10. April 1998 ein Vertrag zustande, der den Nordirlandkonflikt beendete: Das Karfreitagsabkommen.
Davor war monatelang von den Konfliktparteien auf beiden Seiten und den USA mit Senator George Mitchell verhandelt worden. In der Karwoche spitzte sich die Situation zu, die Verhandlungen drohten – wieder einmal – zu scheitern. Erst die Anreise der Premierminister Großbritanniens und Irlands, Tony Blair und Bertie Ahern, und Telefonkonferenzen mit US-Präsident Bill Clinton wendeten das Blatt. In den Morgenstunden des Karfreitags war das fein gewebte Abkommen spruchreif, das Garantien und Gesprächsforen, nicht zuletzt zur Bildung einer regionalen Allparteienregierung, vorsah. Es hat wohl eine besondere Symbolik, dass ausgerechnet am Tag, an dem traditionell des Leidens Jesu gedacht wird, ein Konflikt, der auch entlang von Glaubensgrenzen geführt wurde, mit einem Friedensabkommen beendet wurde.
Tatsächlich brachte das Karfreitagsabkommen Frieden auf der Grünen Insel. Die IRA und die UDA legten ihre Waffen nieder, daraus wurden die politischen Parteien Sinn Féin der Nationalist:innen und die Democratic Unionist Party (DUP) der Unionist:innen. Grenzkontrollen auf der Insel wurden abgeschafft, in den zerrissenen Gemeinden wurde langsam versucht, Ausgleich und Frieden zu finden.
Dieser Tage feiert das Karfreitagsabkommen seinen 25. Geburtstag. Dessen Bilanz ist, was die Absicherung des Friedens angeht, ein Erfolg. Die bewaffneten Kämpfe, die Entführungen, die Attentate haben aufgehört. Anlässlich des Jubiläums kam sogar US-Präsident Joe Biden (selbst mit irischen Wurzeln) für eine Rede zusammen mit den britischen und irischen Premierministern nach Belfast. Doch politisch hat vor allem der Brexit den Frieden im Land und die Idee des Karfreitagsabkommens massiv beeinträchtigt. Der heurige halbrunde Geburtstag ist keine ungetrübte Party.
Brexit: Wenn Nationalismus auf wackligen Frieden stößt
Das Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU vergiftete die politische Stimmung zwischen den großen Parteien Sinn Féin und DUP. Vor allem die DUP, die für den Brexit warb, wollte das notwendige Fortbestehen von EU-Regeln, um die Grenzen zur Republik Irland offenhalten zu können, nicht akzeptieren. Das ging so weit, dass sie die Regierungsbildung der Provinzregierung in Belfast blockierte – das Karfreitagsabkommen sieht vor, dass sowohl Sinn Féin als auch DUP in einer Regierung vertreten sein müssen, um beide Bevölkerungsgruppen in der Koalition zu vertreten. Politisch geht seitdem in Nordirland nichts weiter, nicht einmal die Fördergelder, die London für die Provinzen nach Covid zusätzlich freigemacht hat, können abgeholt werden, da es keine Provinzregierung gibt, die entscheiden könnte, was mit dem Geld passiert.
Auch vom wirtschaftlichen Sonderstatus Nordirlands – Teil des UK und freie Grenze zu Irland und zur EU – kann die Provinz nicht profitieren, da mutige Politik, die diesen Standortvorteil nutzen würde, nicht vorhanden ist. Immer mehr Menschen wenden sich deshalb auch von den traditionellen Parteien ab, bei der letzten Wahl in Nordirland im Mai 2022 war die überkonfessionelle Alliance bereits drittstärkste Partei.
Wegen dieser Selbstblockade der regionalen Politik plante Joe Biden seine Rede auch nicht im Parlament in Belfast, sondern eröffnete einen Universitätscampus in der Provinzhauptstadt. Es wäre zu hoffen, dass die ehemaligen Konfliktparteien diese Peinlichkeit als Anstoß nehmen, endlich wieder für Nordirland zu arbeiten. Zu tun gäbe es genug, gerade auch um die Gräben, die der Brexit teilweise wieder aufgerissen hat, zu überwinden. Und auch die Machtteilungsklausel zwischen DUP und Sinn Féin müsste neu gedacht werden. Regeln, die vor einer Generation funktioniert haben, reichen nicht mehr, wie die aktuelle Blockade der DUP zeigt.