Das Problem mit der Schulgesundheit
Der ärztliche Bereich in der Schule wird von vielen als Nebensächlichkeit wahrgenommen. Dabei hätte er eigentlich eine wichtige Rolle in der Gesundheitsprävention – wenn da nicht der übliche Dschungel an Kompetenzen wäre. Ein Überblick.
Einstimmig angenommene Anträge sind im Parlament eine Seltenheit, noch seltener folgen diesen Entschließungsanträgen auch wirklich Taten. Aber hin und wieder gibt es Wunder – wie die Spending Review Schulgesundheit.
Der Titel ist unsexy, ja. Aber die Frage der Schulgesundheit ist ein sehr großes Problemfeld. Denn es wäre nicht Österreich, wenn nicht auch in diesem Bereich mehrere Ebenen mitspielen würden: Sowohl zwischen Ministerien als auch zwischen Bund, Ländern und Gemeinden gibt es mehrere politische Verantwortungen. Daher ist der Bereich Schulgesundheit ein perfektes Beispiel, wie ein Land absolut handlungsunfähig ist – und der Reformbedarf immer nur größer wird.
Warum wir Schulgesundheit brauchen
Gerade die Pandemie hat diesen Reformbedarf bestätigt, und auch die Debatten über den Mutter-Kind-Pass belegen ihn. Denn Covid führte zu einem Einbruch der Impfquoten – wie viele Menschen sich impfen lassen, das ist im Bereich Schulimpfungen nämlich ausnahmsweise tatsächlich nachweisbar.
Das zeigt, wie wichtig Schule als Ort der Gesundheitsversorgung ist. Eben weil die Schule ein einfacher Zugangsort ist: Fast jedes Kind ist dort und kann erreicht werden. Denn Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Schichten haben trotz aller Gesundheitsstrukturen in Österreich oft nur wenig Kontakt zum Gesundheitswesen: wenig Zahnarztbesuche, keine regelmäßigen Kontrollen beim Kinderarzt und keine Kontrolle, ob alle Impfungen durchgeführt wurden. Das hat langfristige Auswirkungen wie schlechte Zähne, Kieferfehlstellungen, mangelnder Impfschutz und spät diagnostizierter Diabetes – und damit einen riesigen Einfluss auf das Leben der Menschen.
Gerade deshalb bietet sich die Schule gut an, um Kindern die Angst vor Ärztinnen und Ärzten zu nehmen und zu zeigen, dass Kontrolluntersuchungen nicht wehtun. Dass Gesundheitsprävention kein kompliziertes Fremdwort ist, sondern ein gelebtes Prinzip voller Vorteile. Dazu müsste das Wesen der Schulgesundheit aber ordentlich funktionieren. Stattdessen liest man vom Mangel an Ärztinnen und Ärzten in den Schulen und verpassten Impfungen.
Wofür wir Schulärztinnen und Schulärzte brauchen
Weil sich viele nur aus der eigenen Schulzeit daran erinnern oder durch eigene Kinder damit konfrontiert werden, wissen viele nichts über den Bereich Schulgesundheit. Und er ist auch kompliziert: Zwei Ministerien, die Länder und die Gemeinden sind auf verschiedenste Arten zuständig, je nach Bundesland und Schultyp gibt es immer wieder Abweichungen. Grundsätzlich aber ist das Gesundheitsministerium laut Ministeriumsgesetz für „die Gesundheitsversorgung der schulbesuchenden Bevölkerung“ zuständig, das Bildungsministerium regelt über das Schulunterrichtsgesetz die Aufgaben der Schulärzt:innen. In der Praxis müssen diese Ärztinnen und Ärzte vom Schulerhalter organisiert werden – also je nach Schule von einem privaten Erhalter, dem Bildungsministerium oder Ländern und Gemeinden bei den Pflichtschulen.
Gesetzlich vorgesehen ist eine Untersuchung pro Schuljahr, abseits davon sind beratende Tätigkeiten und die Teilnahme an Schulkonferenzen vorgesehen. Per Verordnung hat das Gesundheitsministerium zusätzlich Richtlinien für die Schulimpfprogramme vorgegeben, im Fall von Krankheitsausbrüchen gibt es ebenso eine Mitwirkungspflicht. Die Aufgaben halten sich also halbwegs in Grenzen – obwohl fünf Stellen mitdiskutieren.
Wie viele gibt es eigentlich?
Oft sind Schulärzt:innen für mehrere Schulen zuständig oder haben als Hauptberuf eine eigene Praxis in Allgemeinmedizin oder als Kinderärzt:innen. Aufgrund der wahllosen Verteilung von Ärzt:innen in Österreich und besonders in diesen Fachgebieten gibt es deshalb seit Jahren auch bei Schulärzt:innen einen Mangel. 2010 wurde deshalb eine Aufstockung von 4.000 Ärzt:innen gefordert, damals ging sich das Angebot von einer Stunde pro 100 Kinder aus, und auch schon damals gab es einen erhöhten psychosozialen Beratungsaufwand. Auch und gerade in der Schule ist Gesundheit nicht mehr nur körperliche Unversehrtheit, sondern auch psychische und soziale.
Wie viele Schüler:innen dieses Angebot nutzten und wie hoch der Bedarf in der Praxis wirklich ist, weiß aber niemand. Angenommen wird, dass die Zahl der Kinder mit Diabetes, Asthma, Allergien und Übergewicht gestiegen ist. Zumindest weisen Berichte aus der Stellungskommission darauf hin, aufgrund der mangelnden Auswertungen im Bereich Schulgesundheit gibt es aber keine gesicherten Daten. Sicher ist aber, dass sich die Situation bei den Schulärzt:innen nicht verbessert hat.
2019 wurde der Mangel in Wien so eklatant, dass an Schulen keine Zeckenimpfungen mehr angeboten wurden und anstelle der 2010 verfügbaren 2.500 Mediziner:innen mit dem Diplom für Schulmedizin gab es laut Ärztekammer Ende 2022 nur noch 1.369 Schulärzt:innen. Hier kann also tatsächlich von einem Ärztemangel gesprochen werden – was kein Wunder ist. Immerhin ist Schulärzt:in kein eigenes Fach und wird de facto nie als Hauptberuf ausgeübt. Wozu also der Aufwand?
Das Problem mit dem Mutter-Kind-Pass
Gelernte Österreicher:innen mögen sagen, dass das ein weiterer Beweis für den Zusammenbruch des Gesundheitssystems ist. Aber das System ist immer noch auf die Abwehr bereits vorhandener Krankheiten ausgerichtet – dementsprechend gibt es hier einiges an Änderungsbedarf.
In anderen europäischen Ländern gibt es anstelle des Mutter-Kind-Passes eine strukturierte Versorgung von Kindern bis 18 – bis dahin wird also sozusagen aufgepasst, dass Kinder bestimmte Kontrollen machen. In Österreich gibt es den Pass bis zum fünften Lebensjahr des Kindes: Ab dem Zeitpunkt, wo die Untersuchungen nicht mehr verpflichtend sind, werden diese auch signifikant weniger genutzt.
Der Mutter-Kind-Pass sollte seit Jahren bis 18 erweitert werden, seit mehreren Monaten wird immer wieder über Kündigungsdrohungen der Ärztekammer, Untersuchungserweiterungen und Reformen diskutiert. Faktisch gibt es aber seit November 2022 nur eine richtige Änderung: und zwar die Gesetzesnovelle zur Digitalisierung des Passes. Die hat allerdings keinen Einfluss auf den Untersuchungsrahmen und ist für die Diskussion daher irrelevant.
Wenn das Bildungssystem Probleme abfedert
Ab dem Ende der Untersuchungen, die für den vollen Erhalt des Kinderbetreuungsgeldes nötig sind, ist es also eine reine Ermessenssache der Eltern, ob oder wie häufig Kinder untersucht werden. Wer nicht weiß, dass Schwangerschaftsdiabetes das Risiko einer Diabetes-Erkrankung beim Kind erhöht, wird das nicht kontrollieren. Wer nicht groß auf die eigene Ernährung achtet, wird seine Kinder weniger dazu anhalten, und wer im Alltag selbst keinen Sport macht, wird auch seltener seine Kinder für Sport begeistern. Oft ist das keine Frage der eigenen Bereitschaft, sondern viele Eltern können sich gar keinen großen Fokus auf gesunde Ernährung oder die Teilnahmegebühren für Sportkurse der Kinder leisten, entweder zeitlich oder finanziell.
Das alles soll eben das Bildungssystem abfangen: Wer nie von selbst in die Arztpraxis geht, steigt einmal im Jahr in der Schule auf die Waage, wird abgemessen und abgehört. Klarerweise variieren diese Untersuchungen auch etwas, wie viel Zeit oder Anlass es für ausführliche Gespräche mit einzelnen Kindern über Sport- oder Ernährungsverhalten gibt, weiß keiner. Gemessen am Personalmangel ist aber davon auszugehen, dass nur wichtig ist, dass die Untersuchung stattfinden kann. Gemessen an beispielsweise den Zahlen aus Vorarlberg ist aber davon auszugehen, dass das ohnehin nicht unbedingt passiert – und wenn, gibt es Zettel mit Gewichts- oder Größeneinträgen, die einfach im Archiv verschwinden.
Spending Review schafft Überblick
Das aktuelle Schularztwesen kostet pro Jahr rund 30 Millionen Euro – einen Mehrwert sieht aber kaum jemand darin. Keiner weiß, wie viele Kinder welche Krankheiten haben oder wie sich kindliche Krankheitsbilder regional verteilen. Teilweise verlieren sogar Eltern den Überblick, welche Impfungen von den Schulen angeboten werden (sollten), und wenn es hart auf hart kommt, müssen auch Lehrkräfte bei einem chronisch kranken Kind die Medikamenteneinnahme kontrollieren – zumindest wurde ihnen die Aufgabe gesetzlich übertragen.
Insofern ist es nur nachvollziehbar, dass über Effizienzpotenziale nachgedacht wird – womit der Bogen geschlossen ist. Denn dieses Nachdenken wurde in einem jahrelangen Evaluierungsprozess zusammengefasst – der besagten Spending Review.
Für diese hat das Finanzministerium die unterschiedlichen gesetzlichen Hintergründe aufgeschlüsselt, um herauszufinden, wo es warum welche Probleme gibt. Und der Kompetenzwirrwarr ist definitiv eines der größten Probleme. Denn dadurch kann eine Stelle der anderen nicht unbedingt sagen, wer wo wie tätig ist und welche Daten wofür verwendet werden könnten – also werden sie meistens einfach nicht genutzt.
Überfällige Reformen in der Schulgesundheit
Den letzten Versuch, aus Schulen etwas über den Gesundheitszustand der Kinder herauszufinden, gab es 2019. Der damalige Verordnungsentwurf wurde allerdings nie erlassen. Die Spending Review selbst hatte bis 2018 einen grundsätzlichen Überblick geschaffen – und obwohl Spending Reviews zwar als Instrument einer faktenorientierten Politik dienen sollten, wurde diese mehrere Jahre lang nicht veröffentlicht. Erst nach mehreren Jahren, Anfragen und Anträgen wurde das nachgeholt.
Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass die Veröffentlichung des Review tatsächlich zur Einrichtung einer Reformgruppe führt. Denn die Zusammenarbeit zwischen Ministerien und Bundesländern wirkt aus diversen Gesprächen und Anfragebeantwortungen heraus zerfranst und sporadisch, Pilotprojekte für Reformen werden auf diversen Ebenen lieber mit wenig Abstimmung gestartet, wie genau das gesamthafte Bild aussieht, ist zumindest von außen nicht ersichtlich.
Kein Wunder, wenn man sich den Inhalt des Review ansieht. Selten sieht man so viele abweichende Interpretationen, und nur selten wird so detailliert aufgeschlüsselt, wie viele Gesetzesbeschlüsse einen Kompetenzdschungel in diesem Ausmaß auslösen. Und wie dieser wohl gelöst werden könnte. Denn auch die Reformvorschläge sind vielfältig und weitreichend – und das aus gutem Grund.