Der neue EU Asyl- und Migrationspakt: Vision oder Fiktion?
Nach jahrelangem Tauziehen ist es endlich so weit: Die EU hat es geschafft, sich auf eine grundlegende Reform ihres Asylsystems zu einigen. Am 10. April 2024 wurde der neue EU Asyl- und Migrationspakt, der im September 2020 von der EU-Kommission erstmalig präsentiert und seitdem verhandelt wurde, formal im EU-Parlament angenommen. Welche Reformen erwarten uns nun? Werden die EU-Staaten es schaffen, ein funktionierendes, gemeinsames Asylsystem zu errichten?
Der neue EU Asyl- und Migrationspakt ist eine Reaktion auf die herausfordernde Situation, die sich aus den hohen Ankunftszahlen von Flüchtlingen in den Jahren 2015 und 2016 ergaben. Ziel ist, ein nachhaltiges, gerechteres, effizienteres und krisenfestes Asylsystem für die EU zu schaffen. Der Pakt umfasst fünf zentrale Verordnungen, die entscheidende Neuerungen einführen.
Ein Kernstück des Pakts ist das Screening-Verfahrens an den EU-Außengrenzen. Innerhalb von sieben Tagen sollen dabei Identitätsfeststellungen sowie Gesundheits- und Sicherheitskontrollen bei Drittstaatsangehörigen, die in die EU einreisen, durchgeführt werden. Für Asylsuchende mit einer geringen Anerkennungschance sollen verbindliche Schnellverfahren an den EU-Außengrenzen innerhalb von drei Monaten durchgeführt werden. Bei negativem Verfahrensausgang sollen die Betroffenen innerhalb von drei weiteren Monaten rückgeführt werden. Zur Durchführung dieser Grenzverfahren sollen an den Außengrenzen entsprechende Aufnahmekapazitäten geschaffen werden.
Weitere wichtige Aspekte des Pakts sind die Ersetzung der Dublin-Regelungen und die Stärkung der Solidarität zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Dabei können weniger stark belastete Mitgliedstaaten wählen, ob sie Solidaritätsbeiträge in Form von Übernahmen von Asylsuchenden, Finanzbeiträgen oder alternativen Solidaritätsmaßnahmen, wie die Entsendung von Personal, leisten.
Im Falle eines starken Anstiegs an Einreisen von Asylsuchenden und Migrant:innen in die EU können Ausnahmeregelungen aktiviert werden, wie die Verlängerungen der Fristen für die Registrierung von Asylanträgen oder die Durchführung von Grenzverfahren für Asylwerber:innen mit hoher Anerkennungschance.
Darüber hinaus beinhaltet der Pakt Maßnahmen, die darauf abzielen, die Kriterien für die Anerkennung von Personen, die internationalen Schutz benötigen, anzugleichen und einheitliche Rechte sowie Aufnahmebedingungen für alle Asylsuchenden in der EU zu schaffen. Schlussendlich wird ein EU-Neuansiedlungsrahmen eingeführt, der Mitgliedstaaten auf freiwilliger Basis ermöglicht, besonders schutzbedürftige Drittstaatsangehörige auf legalem Wege aufzunehmen.
Erwartungen und Kontroversen
Der Weg zur Kompromissfindung war lang, denn das Thema Asyl wird nicht nur extrem emotionalisiert, sondern spiegeln sich darin auch die tief verwurzelten Divergenzen der Mitgliedstaaten wider – dementsprechend auch die Schwierigkeit des Balanceakts zwischen dem Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten.
Jetzt sind die Erwartungen an den Pakt sehr hoch: Hunderte Seiten an neuen Rechtsvorschriften liegen auf dem Tisch und schüren Hoffnungen. Seitdem das EU-Parlament und der Rat eine Einigung im Trilog erzielten, spricht man von einem historischen Moment. EU-Innenkommissarin Ylva Johansson nannte die Einigung einen „Durchbruch“, die Regierungen der Mitgliedsstaaten haben, mit wenigen Ausnahmen, die politische Einigung über den Pakt begrüßt und als Meilenstein bezeichnet.
Doch die Kontroversen bleiben bestehen. Beispielsweise wird kein Mitgliedstaat – so wie ursprünglich vorgesehen – zur Aufnahme von Asylsuchenden verpflichtet. Durch die Zahlung von 20.000 Euro kann man sich sozusagen freikaufen. Auch aus menschenrechtlicher Sicht gibt es eine Reihe an Bedenken. Dass Rückstaus in den Aufnahmezentren an den EU-Außengrenzen entstehen, wenn viele Personen auf einmal einen Asylantrag stellen oder, wenn Rückführungen weiterhin nicht funktionieren. Wenn die Aufnahmekapazitäten nicht ausreichen, könnten vermehrt humanitäre Krisengebiete wie auf den griechischen Inseln entstehen – an den EU-Außengrenzen würden de facto haftähnliche Lager errichtet, in denen auch die Festhaltung von Familien mit Kindern geplant ist. Es werden auch weiterhin die nationalen Behörden für die Abwicklung von Asylverfahren zuständig sein und keine europäische – was, wenn sich Staaten wie Ungarn weiterhin weigern, EU-Recht einzuhalten? Kann der Pakts seinen Erwartungen gerecht werden?
Die Herausforderung der Umsetzung
Am besten zum Punkt gebracht hat es die Renew-Abgeordnete Sophie in ’t Veld:
„Insgesamt ist dieser EU-Pakt alles andere als ideal. Aber nach Jahren des Stillstands und der Verstöße gegen europäisches Recht ist dies eine Chance für einen Neuanfang, die wir nicht ausschlagen dürfen. Alles hängt nun von der Umsetzung ab, die von Beginn an auf Menschlichkeit ausgerichtet sein muss.“
Der Erfolg des Pakts wird sich an seiner Umsetzung messen. Die Erwartungen dürfen groß sein, doch gut Ding braucht Weile: Mit der Annahme des Pakts beginnt erstmal eine zweijährige Umsetzungsphase bis 2026, in der die Kommission und die EU-Mitgliedstaaten Bedarfsanalysen und Umsetzungspläne ausarbeiten werden. Und gerade diese Phase ist ausschlaggebend, damit alle Mitgliedstaaten für eine effektive Umsetzung des Pakts bereit sind. Nun heißt es: den Reformwillen aufrechterhalten und die notwendigen Ressourcen – materiell, finanziell, personell – bereitstellen.
Der Pakt: Eine Chance für Europa
Ob der Pakt seinen Erwartungen gerecht werden kann, wird sich demnach noch zeigen müssen. Fakt ist: Der Status quo ist seit Jahren ein Desaster, in dem Mitgliedstaaten sich ihrer Verantwortung entziehen und Menschenrechte täglich gebrochen werden. Das kann Europa besser.
Und in diesem Kontext birgt der Pakt enorme Chancen: Nach Jahren der gescheiterten Reformen, des Stillstands und der Kritik hat die EU uns durch die Annahme des Pakts gezeigt, dass sie auch im Asyl- und Migrationsbereich reformfähig ist. Das ist ein großer Erfolg und ein wichtiges Zeichen vor den EU-Wahlen.
Einheitliche Standards, schnellere Verfahren, mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, bessere Kontrollen der Außengrenzen, legale Fluchtwege – der Pakt enthält eine Reihe an guten Vorschlägen. Wenn er richtig umgesetzt wird, schafft die EU nicht nur ein neues, funktionierendes Asylsystem, das sowohl Ordnung als auch Menschenrechte garantiert, sondern geht auch gestärkt aus der Bewältigung einer gesamteuropäischen Herausforderung hervor.
Gefragt ist nun: eine redliche Mitwirkung aller Mitgliedstaaten. Es muss alles dafür getan werden, dass eine Umsetzung mit ausreichenden Ressourcen erfolgt – Ressourcen für menschenrechtskonforme Aufnahmebedingungen und rechtsstaatliche Asylverfahren, zugleich für effektive Kontrollen und für die Wahrung der Grundrechte an den EU-Grenzen sowie unabhängige Aufklärung in Fällen von Rechtsbrüchen. Jene Staaten, die sich weigern, daran mitzuarbeiten, müssen streng in die Pflicht genommen werden. Denn eines ist klar: Nur gemeinsame europäische Anstrengungen können dazu führen, dass eine erfolgreiche Reform des EU-Asylsystems kein Wunschgedanke bleibt.