Der schleppende Ausbau der Psychotherapie
Durch die Pandemie wird mehr über Mental Health diskutiert – aber der Ausbau der notwendigen Versorgung passiert nur schleppend. Für die Bevölkerung bedeutet das immer mehr Privatausgaben: Diese liegen mittlerweile bei 43 Millionen Euro im Jahr.
Psychotherapie genießt seit der Pandemie nicht nur einen höheren Stellenwert in der politischen Debatte – sie wird auch notwendiger. Studien zeigen, dass gerade bei jungen Menschen die Anzahl der Mental-Health-Probleme stark angestiegen ist. Das bedeutet: depressive Symptome, Angstzustände, Schlafstörungen oder Suizidgedanken.
Trotzdem wird aktuell davon ausgegangen, dass nur rund ein Viertel der psychisch erkrankten Menschen in Psychotherapie ist. Viele bleiben also nach wie vor unbehandelt – und das wirkt sich aus: auf Krankenstandszahlen, Berufsunfähigkeit und das Pensionssystem. Die reine Anzahl der Krankenstandsfällen aus psychischen Gründen macht mit 144.524 Fällen keinen enorm hohen Anteil an Krankenständen aus, mit einer Dauer von 38,5 Tagen fallen diese Betroffenen aber besonders lang in der Arbeit aus.
Eine neue parlamentarische Anfragebeantwortung zeigt, dass viele die Behandlung ihrer psychischen Erkrankungen privat bezahlen: im Ausmaß von 43 Millionen Euro pro Jahr. Werfen wir daher einen Blick auf die Gründe für den schleppenden Ausbau der Kassenplätze für Psychotherapie. Und auf die Datenlage, die wir zum Thema haben.
Hohe Kosten durch psychische Belastung
Ein Anstieg der Krankenstände aufgrund psychischer Ursachen war schon in den 1990er Jahren zu bemerken – und das wirkt sich auch im weiteren Sozialsystem aus. 2015 war ein Drittel der krankheitsbedingten Frühpensionen, also der Invaliditätspensionen, auf psychische Erkrankungen zurückzuführen. Ein Wert, der bis heute auf diesem Niveau ist. Bedenkt man, dass pro Monat rund 6.000 Personen aus psychischen Gründen Rehabilitationsgeld beziehen, ist es kein Wunder, dass der Rechnungshof die Folgekosten von psychischer Krankheit 2019 mit 1,3 Milliarden Euro bezifferte.
Diese werden aber von unterschiedlichen Stellen bezahlt, und zwar hauptsächlich von der Pensionsversicherung. Dass die Sozialversicherungen deshalb lange keinen weiteren Ausbaubedarf gesehen haben, ist eine Folge der getrennten Rechnungsverantwortung. Dass Nachhaltigkeit im Pensionssystem aber keine Rolle spielt, ist genauso etabliert. Die große Kernfrage ist also, wie schnell der Ausbau der bezahlten Stunden weiter vorangetrieben werden kann. Eine Million Stunden ist ein Ausbau von 16 Prozent in den vergangenen fünf Jahren. Rechnet man die fünf Milliarden Euro Pensionskosten für diese Zeit gegen, wird klar: Das geht nicht schnell genug. Die 43 Millionen Euro, die die Bevölkerung selbst drauf zahlt, fallen da neben den Staatskosten kaum noch ins Gewicht. Im Alltag spüren die Betroffenen diese Kosten aber sehr wohl.
Warum der Ausbau so schleppend vorangeht
Zugegeben, das Problem ist nicht neu. Anfang der neunziger Jahre gab es nur für 8 Prozent der betroffenen Personen die nötige psychotherapeutische Betreuung. Deshalb wurde Psychotherapie in das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz aufgenommen: Es wurde also die Basis geschaffen, dass Sozialversicherungsträger – die damaligen Krankenkassen – die Kosten für Psychotherapie übernehmen können, bzw. sollen. So sollte diese besser zugänglich werden, damit die Betroffenen nicht zu viel ihres Einkommens für Gesundheit ausgeben müssen.
Genau dafür wurden 1991 auch die Sozialversicherungsbeiträge erhöht und damit auch die Lohnnebenkosten. Damit Versicherte diese Leistung erhalten, wird üblicherweise zwischen Versicherung und dem jeweiligen Berufsverband ein sogenannter „Gesamtvertrag“ abgeschlossen. Dieser regelt die Tarife, und Patientinnen und Patienten können einfach mit der E-Card bezahlen.
Gerade bei Psychotherapie ist aber nie so ein Vertrag zustande gekommen. Vor knapp 25 Jahren wurde die „Vertrauensbasis“ zwischen Versicherungen und Berufsverband nach jahrelangen Verhandlungen so nachhaltig zerstört, dass es bis heute zu keinen neuen Verhandlungen gekommen ist. Stattdessen bieten die Versicherungen Psychotherapie als sogenannte Sachleistung an. Und genau das führt zu einer Engstelle, die Therapie für viele Menschen quasi unmöglich macht.
Wo is’ mei Leistung?
Wenn Sie zu einem Arzt gehen und die Versicherung dafür bezahlt, genügt die E-Card für die Abwicklung. Als Sachleistung wird für Psychotherapie aber zuerst der Antrag gestellt, erst danach bekommen Sie einen Therapieplatz zugeteilt. So wird die Leistung, auf die ein Recht besteht, auch zur Verfügung gestellt. Dafür haben die ehemaligen Gebietskrankenkassen sogenannte Versorgungsverträge abgeschlossen, über die pro Jahr eine bestimmte Stundenanzahl oder Geldsumme für Psychotherapie zur Verfügung stand. Wobei beides begrenzt ist: 2012 gab es in Wien erstmals zu wenige Stunden, damals gab es für Psychotherapie einen umstrittenen Aufnahmestopp. Schlechte Nachrichten für die Patientinnen und Patienten.
Auch heute sind diese „vollfinanzierten Kassenplätze“ noch begrenzt: 2019 wie heute wird von monatelangen Wartelisten berichtet. Und das, obwohl die Versicherungsträger sich seit Jahren um einen Ausbau bemühen und die Gesamtzahl der Stunden in Österreich auch erhöht wurde.
Wie sich das auf Kosten und die Anzahl der Patientinnen und Patienten auswirkt, ist allerdings – wie so oft im Gesundheitssystem – in jedem Bundesland anders. Und es wirkt auch so, als ob verschiedene Strategien dahinterstecken würden:
Klar ersichtlich ist jedenfalls, dass sich die Zusammenlegung der Versicherungsträger noch nicht auswirkt – und dass es nach wie vor große Preisunterschiede gibt – die sich wiederum potenziell darauf auswirken, wie leicht oder schwer es in einem Bundesland ist, Psychotherapeut:innen für die Versorgung zu finden.
In Vorarlberg beispielsweise werden für eine Therapieeinheit über die Kasse nur knapp 50 Euro bezahlt, dafür gibt es dort aus dem Sozialfonds des Landes auch ein Angebot für bezahlte Psychotherapie. 2022 wurden so rund 35.000 Personen betreut – ob oder zu welchem Teil das dieselben Personen sind, die einen Kassenplatz bekommen haben, ist allerdings unmöglich herauszufinden, genauso wie ein österreichweit vollständiger Überblick über bezahlte Psychotherapie, da in jedem Bundesland andere Angebote zur Verfügung stehen.
Die Stundenkosten sind aber ohnehin nicht direkt mit dem Einkommen der Psychotherapeut:innen vergleichbar. Auch die Versorgungsvereine müssen Miete bezahlen, relativ sicher ist auch von zusätzlichem Personal auszugehen, z.B. für Terminvereinbarungen. Aber die Bandbreite ist eben groß – in Kärnten etwa kann man für die Kassenplätze 146 Euro pro Therapieeinheit berechnen. Kärnten ist damit ein besonders großer Ausreißer und das einzige Bundesland mit über 85 Euro pro Einheit. Unter diesem Aspekt zählt es also für den Großteil des Landes als Attraktivierungsmaßnahme, wenn die Tarife bis 2030 in allen Bundesländern auf 105 Euro erhöht werden sollen.
Alles muss man selber zahlen
Ein Tarif, der für viele Selbstzahler:innen sogar nach der Teuerung fast noch leistbar wirkt. Üblicherweise kann mit 120 bis 150 Euro pro Einheit gerechnet werden, der Zuschuss der ÖGK beläuft sich für eine Stunde (mittlerweile vereinheitlicht) aktuell aber nur auf 33,70 Euro. Da fast so viele Patientinnen und Patienten wie auf Kassenstellen auch selbst in Psychotherapie sind und die Rechnung nur für diese Kostenerstattung einreichen, kam die ÖGK beispielsweise mit Kassenplätzen und Zuschüssen im Jahr 2022 auf 91 Millionen Euro Kosten für Psychotherapie. Restbetrag für die Bevölkerung 2022, sofern die Rechnung auch eingereicht wurde: 42,5 Millionen Euro. 2023 waren es schon 43,3 Millionen.
Eine stolze Summe, wenn man bedenkt, dass ohnehin Sozialversicherungsbeiträge für diese Leistung bezahlt werden. Was in dieser Rechnung aber fehlt, ist die verbliebende Grausumme. Wir wissen nicht, wie viele Menschen ihre Rechnung nicht einreichen und wie viel Geld von den Zusatzversicherungen zurückfließt. Auch die Änderungen im Zuge der Gesundheitsreform und des Finanzausgleichs müssen erst berücksichtigt werden. So können seit 2024 bestimmte Psycholog:innen wie Psychotherapeut:innen behandeln – bis dato aber nur als Zuschussleistung der Versicherung.
Auch viele Psychitater:innen haben eine Ausbildung zur Psychotherapie, und über das Erfolgsprogramm „Gesund aus der Krise“ werden viele Kinder erreicht und ebenso wenig in den Statistiken zur psychischen Versorgung berücksichtigt. Die Folgekosten von schlechter psychischer Gesundheit sind also spätestens bei der Pension in einem gemeinsamen Topf zu finden. Die Zahlen über Bedarf und Versorgung sind aber über Bundesländer, Berufsgruppen und Zahlungsgruppen verteilt. Ein schlechtes Vorzeichen, um einen umfassenden Ausbau sicherzustellen.