Die Orbánisierung des EU-Ratsvorsitzes
Mit 1. Juli 2024 hat Ungarn turnusmäßig, nach Belgien und vor Polen ab 2025, für ein halbes Jahr den Vorsitz im EU-Rat übernommen. Es dauerte nicht lang, bis der ungarische Premier Viktor Orbán für negative Schlagzeilen sorgte.
Noch vor Orbáns Übernahme wurden Rufe laut, Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft nicht zu überlassen, sondern diesen Mitgliedstaat zu überspringen. Vor allem aus den Reihen der liberalen Renew Europe Group wurde das noch vor einem Jahr gefordert. Im EU-Rat konnte diese Forderung allerdings nicht beschlossen werden, weil die entsprechende Mehrheit dazu fehlte. 20 der 27 Staatschef:innen hätten diesem völlig neuartigen Beschluss zustimmen müssen. Orbán selbst protestierte dagegen lautstark, um gleich anschließend die EU international vorzuführen. Denn unmittelbar nach Übernahme des EU-Ratsvorsitzes unter dem Motto „Make Europe Great Again“ – mit beabsichtigter Assoziation an seinen Verbündeten, den ehemaligen US-Präsidenten und neuerlichen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump – begann der ungarische Premier mit einer beispiellosen Kompetenzüberschreitung.
Chronologie einer Brüskierung
Obwohl der EU-Ratsvorsitz ausschließlich organisatorische Aufgaben beinhaltet, darunter als Gastgeberland Tagungen und Sitzungen zu leiten und für die Kontinuität der Arbeit im Rat zu sorgen, maßte sich Orbán an, eine selbst so bezeichnete „Ukraine-Friedensmission“ zu starten. Völlig außerhalb der gültigen Rechtslage (gemäß dem Vertrag von Lissabon) ließ er mit einer fingierten Reisediplomatie international den Eindruck entstehen, im Namen der EU zu agieren.
1. Station in Kiew am 2. Juli
Ohne EU-interne Rücksprache besuchte Orbán am 2. Juli den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Gerade Orbán, der gegen EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine ist und immer wieder EU-Militärhilfen an die Ukraine verhindert oder zumindest verzögert hat, versucht sich als Friedensvermittler zu inszenieren. In Kiew angekommen, forderte er von Selenskyj Waffenstillstand, um mit Friedensgesprächen beginnen zu können – ohne freilich darauf einzugehen, auf welcher Grundlage und unter welchen Bedingungen diese überhaupt geführt werden sollten. Für Selenskyj war dieser Staatsbesuch angesichts Orbáns Doppelzüngigkeit ein schwieriger offizieller Akt. Einmal mehr forderte der ukrainische Präsident den Abzug aller russischen Truppen aus der Ukraine gemäß den seit 1991 bestehenden und völkerrechtlich anerkannten Grenzen.
In der ukrainischen Öffentlichkeit stieß Orbáns Blitzbesuch auf breite Skepsis. So bezeichnete das Online-Portal NV den ungarischen Premier als „trojanisches Pferd des Kremls“, womit es recht behalten sollte.
2. Station im Kreml am 5. Juli
Die anschließende Reise nach Moskau und der Besuch im Kreml waren genauso wenig mit der EU-Spitze abgesprochen und für diese völlig überraschend. Hatte bereits der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer für Kritik an seiner „ergebnislosen Reise“ gesorgt, als er am 11. April 2022 den Kriegstreiber Putin besucht hatte, so löste Orbán jetzt blankes Entsetzen aus. Unisono verkündeten alle Spitzenvertreter:innen der EU und NATO, dass Orbán kein Mandat für diesen Besuch habe. Der ungarische Premier entgegnete, dass er einer der wenigen Staatschefs wäre, die noch mit allen Seiten sprechen könnten. Außerdem könne Frieden nicht „von einem bequemen Sessel in Brüssel aus“ geschlossen werden, so der abtrünnige ungarische Premier.
Für die russische Staatspropaganda lieferte Orbán im freundschaftlichen Beisammensein mit seinem Geschäftspartner Putin sehnlichst erwartete Bilder, um den Eindruck der internationalen Isolation Russlands tunlichst zu zerstreuen (übrigens wie beim kürzlichen Kreml-Besuch des indischen Premiers Narendra Modi). Der Inhalt des gemeinsamen Gesprächs zwischen Orbán und Putin blieb im Dunkeln, genauso wie der Plan für die weitere Reise.
3. Station in Peking am 8. Juli
Orbáns nächste Station war Peking, wo ein für Ungarn wichtiger Wirtschaftspartner residiert. Schließlich ist geplant, dass in Ungarn eine Fabrik für Chinas Elektroautos gebaut wird; und das, obwohl (oder gerade weil) in der EU über die Einführung von Importzöllen für Chinas Elektroautos beraten wird.
Bei seinem Treffen mit dem chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping lobte Orbán die „wichtige Initiative“ des russischen Präsidenten, Friedensgespräche zu beginnen. Putin hatte ja im Juni verkündet, offen für Friedensverhandlungen zu sein, jedoch unter der inakzeptablen Bedingung, dass die Ukraine auf die von Russland völkerrechtswidrig besetzten Gebiete verzichten würde. Xi sprach sich wiederum für einen „offenen Dialog“ zwischen Russland und der Ukraine aus. Einigkeit bestand auch darin, dass sich beide Staatschefs erneut für einen Waffenstillstand und für ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine aussprachen. Ausgespart blieb auch bei diesem Treffen in Peking, welche konkreten Vorstellungen beide zur Ausgangslage für Friedensverhandlungen hätten.
Isoliert beim NATO-Gipfel in Washington
Beim NATO-Gipfel, der anlässlich des 75-jährigen Bestehens dieses internationalen Verteidigungsbündnisses von 9. bis 11. Juli stattfand, stieß Orbáns eigenmächtige Rundreise auf kein Verständnis. Zum Ende dieses Gipfels wurden Vorbereitungen hinsichtlich für die Allianz schwieriger Zeiten getroffen und dabei zukünftige Militärhilfen gemeinsam beschlossen. Diese sollten der Ukraine auch unabhängig von einer befürchteten zweiten US-Präsidentschaft des ausgewiesenen NATO-Gegners Donald Trump zugute kommen können. Als quasi weißer Elefant war der Antidemokrat Trump trotz physischer Abwesenheit allgegenwärtig. Denn es wurden Vorkehrungen getroffen, die auch unter Trumps Präsidentschaft nicht torpediert werden können. Trump war auch der Grund für Orbáns Brüskierung einer internationalen Organisation.
4. Station in Florida am 11. Juli
Noch vor Ende des NATO-Gipfels reiste Orbán ab, um seinen Freund Donald Trump in dessen Domizil in Florida zu besuchen. Beide Politiker stehen sich seit Jahren nahe, zumal die Orbánisierung der staatlichen Institutionen in Ungarn vielen der extremen Rechte innerhalb der Republikanischen Partei ein Vorbild ist. Bei ihrem gemeinsamen medienwirksamen Auftritt beteuerten beide selbsternannte Friedensbringer, dafür zu sorgen, dass der Krieg bald ein Ende findet – wenig überraschend ohne Hinweis, unter welchen Bedingungen. Abgesehen von Symbolpolitik und einer internationalen Eigenwerbung, die sich Orbán mit seiner deplatzierten Rundreise geleistet hat, wird bei dieser beispiellosen Kompetenzüberschreitung kein positiver Effekt für einen baldigen Frieden in Europa übrig bleiben. Zudem hat ein gescheitertes Attentat auf Donald Trump die internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Erste Reaktionen
In Europa selbst hängt sozusagen der Haussegen schief. Als erste Reaktion auf diese ersten zwei Wochen von Ungarns EU-Ratspräsidentschaft werden Schweden und die baltischen Länder bei den anstehenden Minister:innentreffen in Ungarn keine hochrangigen Vertreter:innen entsenden. Das könnte Schule machen und Orbáns Isolation auf EU-Ebene noch weiter fortsetzen. Schließlich mieden ihn viele Teilnehmer:innen bereits beim kürzlich stattgefundenen NATO-Gipfel und kritisierten sein Verhalten scharf. Infolge zahlreicher erwartbarer Absagen auf ministerieller Ebene könnte als erste unmittelbare Folge das anstehende Minister:innentreffen in Budapest abgesagt werden. Die österreichische Bundesregierung vertritt zu diesem Boykott übrigens keine einheitliche Linie. Auch wenn es vorerst schwierig erscheint, im EU-Rat dafür einen einstimmigen Beschluss zu fassen, werden proeuropäische Kräfte alles daran setzen, Ungarn diesen Vorsitz zu entziehen. Die notwendige Mehrheit von 20 der insgesamt 27 Staatschef:innen könnte nach einer derartigen beispiellosen EU-Brüskierung doch noch erreicht werden.
Erwartbare Konsequenzen
Gemäß dem Lissabon-Vertrag von 2009 ist stets ein Trio mit einem gemeinsamen Programm für die Ratspräsidentschaft vorgesehen; aus dem Grund, dass seit der großen EU-Erweiterung 2004 ein unerfahrener Staat von den anderen beiden mitgetragen werden kann. Demnach sollte es möglich sein, vorzeitig Polen mit dieser koordinatorisch ausgelegten Aufgabe zu betreuen. So könnte Polen unter Premierminister Donald Tusk nicht erst im Jänner 2025 die EU-Ratspräsidentschaft übernehmen, sondern schon jetzt. In der Geschichte der EU gab es einen vergleichbaren Fall, jedoch auf freiwilliger Basis: Nach dem 2016 per Volksabstimmung beschlossenen Brexit verzichtete die UK-Regierung auf den EU-Ratsvorsitz in der zweiten Jahreshälfte von 2017. Belgien sprang damals ein.
Ein Entzug dieser Funktion und ein Artikel-7-Verfahren gegen Ungarn wären angesichts des massiven Rechtsbruchs und damit einhergehenden internationalen Imageschadens für die EU nicht ausgeschlossen. Schließlich sind internationale Treffen im Namen der EU ausschließlich der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dem EU-Ratspräsidenten Charles Michel und dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell vorbehalten. Apropos EU-Chefdiplomatie: Sobald das EU-Parlament die estnische Premierministerin Kaja Kallas als neue EU-Außenbeauftragte bestätigt, wird eine erfahrene liberale Politikerin und ausgewiesene Putin-Kritikerin die internationalen Geschäfte übernehmen – vorausgesetzt, Ursula von der Leyen wird als Kommissionspräsidentin diese Woche wiedergewählt. Eine härtere Gangart der neuen Zentrumskoalition von EVP, S&D und Renew Europe gegenüber Autokrat:innen innerhalb und außerhalb der EU ist nicht ausgeschlossen. Über kurz oder lang wird Ungarns antieuropäischer Alleingang nicht ohne Folgen bleiben.