Die Vereinten Nationen 80 Jahre später

Die Vereinten Nationen feiern 2025 ihr 80-jähriges Bestehen. Aber ist das wirklich ein Grund zum Feiern? Brauchen wir die Vereinten Nationen in der jetzigen Form überhaupt noch? Schließlich hat sich die Sicherheitsarchitektur seit Ende des Zweiten Weltkriegs weitreichend verändert. Oder brauchen wir sie im 21. Jahrhundert sogar mehr denn je?
Mit der Kapitulation Japans endete am 2. September 1945 der Zweite Weltkrieg, nur rund anderthalb Monate später trat die Charta der Vereinten Nationen am 24. Oktober 1945 in Kraft. Der Grundstein für die heutige UN-Charta wurde von den Alliierten inmitten des Zweiten Weltkriegs gelegt: 1941 einigten sich Churchill und Roosevelt in Form der Atlantik-Charta und „Hoffnung für eine bessere Zukunft für die Welt“ auf eine neue Weltordnung nach dem Krieg. Ein Jahr später kamen insgesamt 26 Staaten – allesamt im Krieg mit den Achsenmächten, inklusive China (damals noch nationalistisch regiert) und der Sowjetunion – zusammen und einigten sich auf die erste „Erklärung der Vereinten Nationen“. Drei Jahre später gelang das, was nach dem Ersten Weltkrieg in Form des Völkerbunds noch scheiterte: Ein stabiler Staatenbund mit dem Ziel von nachhaltigem Frieden war geschaffen.
Der unreformierbare Blockierer?
Eine zentrale Säule in der Architektur der Vereinten Nationen ist der Sicherheitsrat, bestehend aus 15 Mitgliedern – wovon aber nur 5 permanente Mitglieder sind. Aber genau diese fünf – Frankreich, die USA, das Vereinigte Königreich, Russland (vorher Sowjetunion) und China (vorher Taiwan) – sind das Problem. Oder genauer gesagt deren Vetorecht Artikel 27 III der UN-Charta besagt: „Beschlüsse des Sicherheitsrats über alle sonstigen Fragen bedürfen der Zustimmung von neun Mitgliedern einschließlich sämtlicher ständigen Mitglieder. . Schaut man sich die systemischen Differenzen zwischen diesen Ländern an, ist es umso erstaunlicher, dass der Weltgemeinschaft vor 80 Jahren das Kunststück der Vereinten Nationen gelang. Es überrascht hingegen nicht, dass der Sicherheitsrat heutzutage aufgrund seiner Vetomächte in den großen Fragen de facto handlungsunfähig ist. Zu weit weg ist der Westen von Russland und China, zu groß die ideologischen Gräben und zu groß die Ziele, wie das Beispiel des Ukraine-Kriegs veranschaulicht: Niemals werden Blauhelme auf ukrainischen Boden kommen, und auch sonst werden keine Handlungen, die den Sicherheitsrat passieren müssen, in Gang gesetzt werden. Nicht umsonst hat Russland in den vergangenen Jahren am häufigsten vom Vetorecht Gebrauch gemacht. Auf der anderen Seite wäre der Israel-Palästina-Konflikt wohl anders verlaufen, wenn die USA Israel nicht mit ihrem Veto verteidigt hätten.
Eine echte Revolution wäre es, wenn man den Sicherheitsrat mit Blick auf das Vetorecht reformieren würde. Eine Zweidrittelmehrheit aller Mitglieder, eine einfach Mehrheit der permanenten Mitglieder – Möglichkeiten gäbe es. Sind sie wahrscheinlich? Nein. Und solange diese Frage verneint werden muss, wird die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen in Konflikten so stark eingeschränkt sein, dass sie die großen Konflikte nicht lösen können wird. Und selbst wenn, mit einer Änderung des Vetorechts alleine wäre es nicht getan: Egal wie der Sicherheitsrat entscheidet, er ist kein Staat, hat keine Armee und Polizei, um Zuwiderhandelnde zu inhaftieren. Was, wenn ein reformierter Sicherheitsrat etwas beschließt, die Entscheidung von den Staaten aber nicht vollzogen wird? Es würde realpolitisch wohl daran scheitern, die Entscheidung militärisch durchsetzen zu können.
Von Finanzen und Bilderbüchern
Verliert der Westen das Interesse an der Organisation? Zu diesem Ergebnis könnte man kommen, wenn man nur auf die Zahlen blickt, denn die 27 EU-Mitgliedstaaten und auch Japan leisten seit 2016 kontinuierlich einen kleineren Anteil zum UN-Budget:
Auch Russlands Beitrag am Gesamthaushalt der Vereinten Nationen hat über die Jahre immer weiter abgenommen. Die USA stehen konstant beim gedeckelten Höchstbeitrag von 22 Prozent, den sie zum UN-Budget beitragen, wohingegen Chinas Anteil von knapp 8 auf über 15 Prozent gewachsen ist. Sollte China den Höchstbeitrag – oder sogar mehr – anstreben, könnte das zu einem weiteren Konflikt mit den USA führen, schreibt Ronny Patz in der Zeitschrift der Vereinten Nationen:
China könnte seine gewachsene Rolle in der multilateralen Ordnung in den Vordergrund stellen und nur für sich selbst keine Deckelung verlangen. Im Gegenzug würde es aber wohl auf mehr Einfluss bei der Besetzung von UN-Positionen oder bei der Ausgestaltung politischer Prioritäten der Vereinten Nationen setzen. Die USA stünden dann vor der Wahl, China an sich vorbeiziehen zu lassen, selbst mehr Verantwortung zu übernehmen oder aber trotz einer möglicherweise aufgehobenen Deckelung weiterhin nur 22 Prozent zu zahlen. Das Resultat einer solchen Konfrontation wäre die Anhäufung von Schulden durch die USA, durch die sie mittelfristig ihr Stimmrecht in den Vereinten Nationen verlieren könnten.
Neben diesen potenziellen Konflikten wird sich die UN in ihrer Gesamtheit, aber auch die verschiedenen Bündnisse wie die EU, die G77, BRICS oder die Gruppe afrikanischen Staaten irgendwann die Frage stellen müssen, was die Organisation sein soll.
Es gibt freilich Beispiele, wo die Blauhelme für Sicherheit und Frieden gesorgt haben. Zypern wäre so eines: Hier haben die Friedenstruppen UNFICYP aufgrund des Konflikts zwischen den griechischen Zyprioten im Süden und den türkischen im Norden eingegriffen und eine Pufferzone eingerichtet, die seit 1974 Bestand hat. Die Lage auf der Insel ist stabil, Mission erfüllt.
Ein etwas heiklerer Fall ist Libyen: Auch dort haben die Vereinten Nationen interveniert, nachdem Muammar al-Gaddafi im Zuge des Bürgerkriegs von Rebellen getötet wurde. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL) kann – auf dem Papier – als Bilderbuchmission bezeichnet werden. Es gab ein klar definiertes Aufgabengebiet, unter anderem bestehend aus: der Etablierung einer Einheitsregierung, Unterstützung beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen und Überwachung im Hinblick auf die Menschenrechtslage, die Verhinderung der Verbreitung illegaler Waffen sowie bei der Unterstützung beim Grenzschutz.
Und dennoch: Der Nationale Übergangsrat, der nach Ende des Bürgerkriegs eingesetzt wurde, übergab seine Kompetenzen 2012 an den Allgemeinen Nationalkongress. Auch dieser hat kaum mehr Stabilität gebracht – nur zwei Jahre später hat eine Gegenregierung den Neuen Allgemeinen Nationalkongress installiert. Das von Gaddafi hinterlassene Machtvakuum hat dazu geführt, dass Libyen auch heute noch, 14 Jahre nach seinem Fall, als failed state bezeichnet werden kann. Auch UNSMIL konnte das nicht verhindern.
Von Kraken und Papiertigern
Die Vereinten Nationen sind mit ihren unzähligen verschiedenen (Sub-)Organisationen vor allem zweierlei: vielseitig und überall – gibt es doch kaum einen Bereich, an dem die UN nicht in irgendeiner Form beteiligt sind. Manche von ihnen leisten einen wichtigen Beitrag zur internationalen Staatengemeinschaft, ohne die Kooperationen wohl wesentlich komplizierter wären. In diese Kategorie der positiven Errungenschaften fallen beispielsweise die Internationale Atomenergiebehörde, die Weltbank, die Weltorganisation für geistiges Eigentum (WIPO) oder der Weltpostverein. Auf der anderen Seite stehen Agenturen wie UNRWA, die spätestens seit dem Massaker der Hamas in Israel auch einer breiteren Öffentlichkeit negativ bekannt sind.
Es ist also ein differenzierter Blick auf die UN notwendig, wenn man sie denn evaluieren möchte. Dass sie durchaus zu Achtungserfolgen imstande sind, zeigen Erfolge wie das Internationale Hochseeabkommen, das sich nach Jahrzehnten von Verhandlungen nun im Ratifizierungsprozess befindet. Wobei bei solchen Abkommen immer die Frage ist, ob sie ein Papiertiger bleiben oder tatsächlich ihren angedachten Zweck erfüllen.
Insbesondere die Handlungsfähigkeit des Sicherheitsrats und korrumpierte Agenturen wie UNRWA sind aber dringend reform- beziehungsweise abschaffungsbedürftig. In aufgeheizten Zeiten wie diesen ist es allerdings fraglich, ob die großen Reformen erstens gewünscht und zweitens durchsetzbar sind. Die Gretchenfrage bleibt außerdem: Ist die heutige globale Weltordnung noch relevant? Entspricht sie den Wünschen und Aspirationen der Mehrheit der Welt, oder nur der Staaten, die den Zweiten Weltkrieg gewonnen und diese Weltordnung aufgebaut haben? Oder will man den BRICS-Staaten, die die bestehende Ordnung ändern wollen, mehr Macht – beispielsweise im Sicherheitsrat via Erweiterung – geben?
80 Jahre später muss man also feststellen: Jedes internationale System leidet unter dem Prinzip der Anarchie. Es gibt keinen Chef, der die Polizei ausschicken kann, um Fehlverhalten zu sanktionieren. Daher ist jede Form der Vereinten Nationen immer nur so stark wie der Konsens, den man dort erreichen kann. Das hat unmittelbar nach dem katastrophalen Zweiten Weltkrieg unter anderem deshalb relativ gut funktioniert, weil es wenige Akteure gegeben hat. Der Großteil der Staaten war relativ arm, klein und hatte Angst vor einem Atomkrieg. Das hat sich heute geändert: Jede Menge Staaten wollen bei der Neugestaltung der Weltordnung mitreden. Es ist somit nicht unwahrscheinlich, dass es in den kommenden Jahren noch viel stärker zu Lagerbildungen kommt, aus denen die verschiedenen Interessengruppen versuchen werden, die Oberhand zu gewinnen.