Die nächsten 1.000 Tage: Die fatale Strategielosigkeit Europas in der Ukraine
Ein Rückzug der USA aus der Ukraine würde fast die Hälfte der Gesamthilfe ausmachen. Wirklich fatal für die Ukraine ist aber, dass Europa, statt sich zusammenzufinden und einen möglichen US-Ausfall auszugleichen, selbst keine strategische Zukunftsvision auf die Beine stellt. Wenn Europa in seinem eigenen Hinterhof keine gemeinsame Initiative auf die Reihe bekommt, kann man sich schwer über Washingtons fehlenden Einsatz beklagen.
Als vor 1.000 Tagen Russlands Diktator Wladimir Putin mit dem Einmarsch in der Ukraine den ersten Eroberungskrieg zwischen zwei international anerkannten Staaten in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg begann, war für die freie Welt schnell klar: Wenn man Putin gewähren lässt, brechen alle Dämme der Nachkriegsweltordnung. Die Ukraine darf nicht verlieren!
Gleichzeitig konnte man sich aber nicht darauf einigen, was das Gegenteil von „nicht verlieren“ sein sollte. So wirklich gewinnen durfte die Ukraine auch nicht, aus Angst vor einer möglichen Eskalation. Also bekam die Ukraine, sinngemäß nach Oberst Markus Reisner, Analyst des Österreichischen Bundesheers, genau so viel, um zu überleben, aber nie genug, um zu gewinnen. Und zwar sowohl aus Europa wie auch aus den USA. Weder Washington noch Brüssel konnte sich zu einer Strategie durchringen, die der Ukraine einen entscheidenden Vorteil verschafft hätte.
Zweieinhalb Jahre später führt dieser Kurs zu einem Dilemma – das für die Ukraine zur Katastrophe werden könnte. Mit Trumps Wahlsieg in den USA fällt der führende Unterstützer der Ukraine potenziell aus. Trump und das Team, das er um sich schart, sind keine Freunde von amerikanischen Steuerdollars in einem Krieg, den eigentlich Europa führen müsste. Doch fast noch schlimmer ist, dass auch ein lautstarker Freund der Ukraine, Olaf „Zeitenwende“ Scholz, aus Budgetgründen eine Kürzung der Ukrainehilfe um 50 Prozent in Aussicht stellt.
Wenn Trump und Scholz ihre Drohungen wahr machen, verliert die Ukraine über Nacht ihre beiden größten militärischen Unterstützer. Wenn man aber schon jetzt gerade genug zum Überleben hat, dann ist jede Kürzung ein Todesurteil. Es gibt keine Fettpolster, die man umschichten könnte, um den Kollaps zu vermeiden. Aufgrund der massiven und kriegsrechtswidrigen Angriffe Russlands auf zivile Einrichtungen ist humanitäre Hilfe für die Menschen gerade im Winter genauso wichtig wie Waffenlieferungen, um die Front gegen massive russische Angriffe zu halten.
Von Kriegsbeginn bis Ende August 2024 tabuliert das IfW Militärhilfen im Gesamtwert von etwa 115 Milliarden Euro. Dazu kam im Herbst noch ein Milliardenpaket aus den USA. So errechnet das IfW, dass eine Weiterführung der Hilfen wie gehabt für 2025 in etwa 100 Milliarden Euro für die Ukraine resultieren würde, davon knapp 60 Milliarden in Militärhilfe, an die 55 Milliarden an finanzieller und humanitärer.
Wenn die USA sich gänzlich zurückziehen, bliebe an militärischer Unterstützung nur etwa 34 Milliarden übrig, an finanzieller 46 Milliarden. Wenn aber zusätzlich noch Deutschland seine Drohung wahr macht, bleiben 29 Milliarden Militärhilfe und 27 Milliarden finanzieller Unterstützung. Insgesamt halb so viel wie erwartet.
Schon jetzt verliert die Ukraine aus Mangel an Artilleriemunition und aufgrund des Verbots, westliche Raketen auf russischem Staatsgebiet gegen Nachschub und Waffenproduktion einsetzen zu können, Gebiete im Frontbereich schneller als je zuvor seit unmittelbar beim russischen Einmarsch im Februar 2022. Dabei könnte es auch anders gehen. Der erste Gegenangriff der Ukraine brachte große Gebietsgewinne im Osten, auch die Überschreitung des Dnipro gelang.
Die Ukraine zeigt, dass sie mit relativ geringen Wirkmitteln große Teile des russischen Militärapparats dazu zwingen kann, die Köpfe niederzuhalten. Ukrainische Drohnen in Zusammenarbeit mit einer effizienten Luftverteidigung haben es geschafft, einen ausreichenden Teil des Schwarzen Meers von russischen Schiffen zu befreien und damit die Schifffahrt von ukrainischen Häfen wiederaufnehmen zu können. Die Ukraine exportiert mitten im Krieg wieder Getreide und Ölsaaten aus Odessa. Und der Angriff auf russisches Gebiet, auf dem sich ukrainische Truppen nun seit Wochen eingegraben haben und Putin und seine Generäle bis auf die Knochen blamieren, zeugt davon, dass die Ukraine mehr könnte, wenn sie nur dürfte.
Westliches Zögern kostet ukrainische Leben
Was die Ukraine brauchen würde, um die russischen Angriffe zu stoppen, wäre mehr Artillerie und Munition, mehr modernste Kampfflugzeuge, um russische Bomber auf größere Distanz halten zu können, und die Erlaubnis, tief im Hinterland russische Nachschublinien, Aufmarschareale und Produktionsstädten mit Raketen angreifen zu dürfen. Nun scheint es zumindest, als ob US-Präsident Joe Biden – zu spät, aber doch – den ukrainischen Kräften in der Region Kursk erlaubt, Raketen in der Verteidigung ihrer Stellungen auch in Russland einzusetzen. Scholz verweigert zwar weiterhin Lieferungen von Taurus-Raketen (Reichweite 500 km), aber der europäische Druck wächst, und Scholz hat bislang seine roten Linien immer verschoben, wenn erst die USA vorgeprescht waren und die europäischen Partner nachdrücklich wurden.
Für erfolgreiche Gegenangriffe wären modernste Kampfflieger und Raketen sowie gepanzerte Fahrzeuge und Kampfpanzer notwendig. Was die Ukraine hingegen bekommt, ist zu wenig und zu spät, und dann noch mit Limitierungen den Einsatz betreffend. Das Resultat ist ein russischer Vormarsch seit Frühjahr 2024, und ein Abwehrkampf, der für die Verteidiger tödlicher ist, als er sein müsste.
In den USA wird bald ein neuer Präsident die Macht übernehmen, der das allgemeine Verständnis über die Vorteile von Bündnissen nicht teilt. Das ist bedauerlich und wohl auch nicht im Interesse der USA. Allerdings ist der russische Angriff auf die Ukraine in der Tat viel mehr ein Problem für Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa als in den USA. Die Kritik daran, dass mehr amerikanische Steuerdollars in die Verteidigung der Ukraine investiert werden als europäische, ist gerechtfertigt.
Europa müsste also den teilweisen oder vollständigen Ausfall der USA kompensieren. Die deutsche Ankündigung, ihre Hilfe herunterzufahren, ist in diesem Zusammenhang eine Katastrophe. Auch in Frankreich wird viel über die Wichtigkeit der Ukraine für Europa gesprochen, bei den Taten bleibt Frankreich aber ein Zwerg, der 0,17 Prozent seines BIP für die Ukraine aufwendet und damit auf Rang 23 der Geber liegt. Das ist sogar noch ein Rang hinter dem neutralen Österreich. Deutschland gibt im Vergleich fast 0,4 Prozent, Polen 0,7 Prozent, Dänemark und Estland, die beiden führenden Nationen, 1,9 Prozent.
Welchen Anreiz haben kleinere Staaten, viel Geld aus ihren kleinen Budgets abzuzweigen, wenn sie sehen, dass trotz all ihrer Bemühungen die Kürzungen der großen Staaten die Lage in der Ukraine hoffnungslos erscheinen lassen? Es wird an den Großen liegen, letztendlich Unterstützungen in der Höhe und der Art aufzubringen, die der Ukraine eine wirkliche Chance geben, am Schlachtfeld eine Situation herzustellen, die Friedensverhandlungen ermöglicht. Würden alle europäischen Staaten sich an Dänemark und den kleinen baltischen Staaten orientieren, wäre das auch ohne die USA möglich. Zudem würde Putin endlich ein klares Signal bekommen, dass Europa den Ernst der Lage letztendlich erkannt hat und ihn langfristig nicht gewinnen lassen wird.
Arrangement mit Washington
Noch besser wäre es, ein strategisches Verständnis mit den USA einzugehen. Die USA wollen und brauchen europäische Unterstützung in ihrem Konflikt mit China. Europa versteht selbst, dass in China eine massive Herausforderung für die regelbasierte Weltordnung heranwächst, die es einzudämmen gilt. Europa könnte sich mit Trump auf eine angepasste, nicht unbedingt deckungsgleiche, Politik gegenüber China arrangieren, und im Gegenzug weitere Ukrainehilfe Washingtons einfordern.
Auch könnte sich Europa, das selbst offensichtlich nicht in der Lage ist, schnell moderne Waffen für die Ukraine bereitzustellen, bereit erklären, aus den USA zuzukaufen. Trump liebt nichts mehr als ein gutes Geschäft. Ja, Europa – und vor allem Frankreich – müsste über seinen Schatten springen und Euros an US-Waffenschmieden überweisen, aber solange es hierzulande ohnehin nicht genug zu kaufen gibt, ist die Europe-only-Position selbstzerstörend.
Das IfW bereitet einen für später im November erwarteten Bericht vor, der besagt, dass ein Stopp der Hilfen an die Ukraine mit einem resultierenden Sieg Russlands Deutschland langfristig das 10- bis 20-Fache der derzeitigen Hilfe kosten wird. Details werden debattiert werden, aber das Grundprinzip ist den meisten politischen Führungspersönlichkeiten seit dem russischen Einmarsch klar: Wenn Putin gewinnt, war die Ukraine nicht sein letztes Ziel. Für die Budgetkonsolidierung 2025 die Ukraine fallen zu lassen, wäre die schlechteste Zukunftsinvestition, die Deutschland – und Europa – je machen könnte.