Die vielen Baustellen im Gesundheitssystem
Die Pandemie hat vieles auf den Kopf gestellt, heißt es. Die meisten Probleme im Gesundheitssystem sind aber altbekannt. Ein Überblick über die zahlreichen Baustellen, die seit Corona nur mehr Aufmerksamkeit bekommen, aber schon lange akut sind.
Durch die Corona-Pandemie wird bei vielen Missständen im Gesundheitsbereich genauer hingeschaut. Sterbende in Gangbetten? Solche Skandalmeldungen werden gut geklickt. Sie sind aber kein neues Phänomen, sondern kommen immer wieder vor – auch ganz unabhängig davon, ob gerade Pandemie ist oder nicht.
Dabei ist Panik der Feind nachhaltiger Reformen – immerhin sollten diese nicht als PR-Aktion, sondern als langfristiger Plan angegangen werden. Wo es diese Reformen bräuchte? Gehen wir es Schritt für Schritt durch – oder Baustelle für Baustelle.
Baustelle #1: Das Ministerium, das oft nicht mitreden darf
Langfristige Änderungen sind aber nicht nur durch PR-Politik unwahrscheinlich – sondern auch durch die Verfassung. Denn in Österreich ist Gesundheitspolitik in vielen Bereichen Ländersache. Nicht nur das, die Verfassung gibt auch die „Verwaltungsautonomie“ der Krankenkassen und Kammern vor, in diesem Fall als Verhandlungspartner der Ärztekammer. Durch diese Autonomie ist es dem Bund de facto unmöglich, eine Maßnahme im Vollzug der anderen Stellen vorzugeben. Oder anders gesagt: Das Gesundheitsministerium kann im Bereich Gesundheitspolitik nur begrenzt mitreden.
Wenn man sich die Geschichte des Gesundheitssystems ansieht, sieht man aber trotzdem Wellenbewegungen: In den 80er Jahren – und auch davor – gab es z.B. Gemeindeärzt:innen. Diese waren einerseits niedergelassen und insofern Kassenärzt:innen – andererseits waren sie oft bei der Gemeinde angestellt, haben als Schulärzt:innen Untersuchungen durchgeführt, waren bei den Gesundheitsämtern und für die Totenbeschau zuständig. Im Vergleich dazu: Heute diskutieren wir unabhängig vom Fach über den Mangel an Kassenärzt:innen, in der Schule sind kaum welche zu finden, und selbst die Totenbeschau macht mittlerweile wieder durch den Mangel an Ärzt:innen Schlagzeilen.
Wie genau wir in diese Situation gekommen sind, das lässt sich kaum rekonstruieren. Aber eine Antwort findet sich wahrscheinlich auch in der „Ärzteschwemme“. In den 90er Jahren gab es so viele Medizinabsolventen, dass viele Ärzte Jahre zwischen Studienabschluss und Turnusausbildung warten mussten. Wer eine bestimmte Fachrichtung lernen wollte, musste beste Kontakte haben, um an einen Ausbildungsplatz zu kommen – und selbst wer im Turnus schon einmal auf der richtigen Fachstation war, konnte danach nicht unbedingt diese Fachausbildung machen.
Baustelle #2: Wer darf was im Gesundheitssystem?
Möglicherweise hängt damit auch der Wechsel in der Pflege zusammen. Denn ähnlich zu Gemeindeärzt:innen gab es Gemeindeschwestern, die wie die mobile Pflege unterwegs waren, und in Krankenhäusern durfte Pflegepersonal selbst Infusionen anhängen, wechseln oder ähnliche Aufgaben erledigen.
Bis das nicht mehr erlaubt war. Denn Infusionen dürfen mittlerweile nur Ärzt:innen setzen. Jeder Wundverband braucht eine ärztliche Unterschrift, und wer selbst ein Medikament wechselt, weil das Originalpräparat gerade nicht verfügbar ist, begibt sich in eine rechtliche Grauzone. Diese Unmenge an administrativem Aufwand ist in Krankenhäusern dazugekommen. Durch den Wechsel in Ausbildungsordnungen, den Generationenwechsel und die niedrige Anzahl von Medizinabsolvent:innen, die tatsächlich den Arztberuf ausüben, konnte dieses System nicht mehr so bestehen bleiben.
Seit Jahren ist deshalb von Problemen in der Pflege die Rede, seit Anfang des Jahrtausends wird immer wieder von widrigen Arbeitsbedingungen berichtet. Mehrere Minireformen, Änderungen der Ausbildungen in der Pflege wurden durchgeführt, und mit der Pflegereform von 2022 wird auch endlich erlaubt, dass Pflegekräfte solche Aufgaben selbst erledigen dürfen.
Absurd ist, dass das als „große Reform“ verkauft wird. Denn jeder in der Praxis weiß, dass Pflegekräfte seit Jahren selbst Infusionen setzen. Beim Reformvorschlag 2015 war die Erlaubnis dafür noch undenkbar. Seit damals dürften aber immerhin Produkte wie Windeln für Erwachsene von Pflegekräften verschrieben werden. „Dürften“ nur im Konjunktiv – wegen einer fehlenden zweiten Gesetzesänderung ist das in der Praxis nämlich immer noch nicht möglich. Dabei wäre genau so etwas ein Bereich, in dem das Gesundheitsministerium ansetzen könnte – trotz Föderalismus und Verwaltungsautonomie.
Baustelle #3: Zu wenig Zusammenarbeit zwischen Berufen
Genauso wie an der Zusammenarbeit zwischen Gesundheitsberufen – auch das wäre ein Job für das Ministerium. Kann ein Physiotherapeut Einlagen verschreiben lassen? Kann eine Hebamme nach einer Geburt selbst ein Rezept für eine Wundsalbe schreiben, wenn eine Frau durch das Stillen entzündete Brustwarzen bekommt? Darf eine Pflegekraft selbst eine Wundkontrolle vornehmen?
Für solche Kompetenzverschiebungen gibt es unzählige Beispiele. Bereitschaft dazu gibt es allerdings keine – denn die Ärztekammer hat meist die stärkere Verhandlungsposition. Immerhin sind Ärzt:innen (neben den Apotheker:innen) der einzige Gesundheitsberuf, der eine eigene Kammer als Vertretung hat. Die meisten anderen Berufe sind erst seit wenigen Jahren akademisiert, und viele kritisieren noch immer den Drang, die Ausbildungen zu erschweren und an Universitäten oder Fachhochschulen zu streben.
Baustelle #4: Keine Anreize für Kassenplätze
Gerade jetzt im Winter häufen sich wieder die Nachrichten von Gangbetten, vollen Krankenhausambulanzen und dem Mangel an niedergelassenen Ärzt:innen, besonders für Kinder. Seit vielen Jahren gibt es deshalb eine Debatte darüber, wie man Kassenstellen wieder attraktiver machen könnte.
Eine Debatte, in der es absolut keinen Sinn ergibt, vom Gesundheitsminister Maßnahmen zu fordern – denn die Selbstverwaltung der Krankenkassen bedeutet eben, dass der Minister der Versicherung so gut wie nichts ansagen kann. Er kann ihr zwar gesetzlich Aufgaben übertragen, und über die gesetzlichen Regelungen der Lohnnebenkosten bestimmt der Bund auch die Einnahmen der Versicherungsträger. Aber was genau eine Versicherung mit ihrem Geld macht, wie die Honorare für Ärzt:innen gestaltet sind – darauf hat das Ministerium kaum Einfluss.
Die Erstattung ist immer von den Leistungen einzelner Ärzt:innen abhängig. Das heißt, Kasse und (Landes-)Kammer verhandeln, wie viel welche Behandlung oder Untersuchung wert ist, und dafür erhält ein:e Ärzt:in dann eine bestimmte Summe. Wie Praxis, Personal oder neue Geräte für modernere Untersuchungen bezahlt werden, müssen diese aber selbst regeln. Wohl deshalb hat sich immer mehr eingebürgert, dass Ärzt:innen ihre Patient:innen in vielen Fällen „durchwinken“, die gleichen Dinge aufschreiben und wenig Zeit für die Anamnese oder persönliche Gespräche bleiben – die werden eben nicht erstattet.
Ob ein:e Ärzt:in im Gespräch z.B. draufkommt, dass Schlafprobleme einen psychischen Hintergrund haben und wie dieser behandelt werden sollte, ist deshalb stark davon abhängig, ob es überhaupt die Möglichkeit und die Bereitschaft gibt, sich die Zeit für solche Gespräche zu nehmen – oder ob die Anzahl von Patient:innen wichtiger ist. Nicht ideal, wenn man vom alten Berufsethos ausgeht, dass ein Arzt immer zuerst ein offenes Ohr hat.
Aber eine andere Regelung hat Kassenstellen noch viel unattraktiver gemacht: Dafür muss man nämlich ein bestimmtes Pensum an Patient:innen haben, hat Vorgaben für Öffnungszeiten und durch die Kasseneinnahmen nur einen vorgegebenen finanziellen Spielraum. Als Wahlarzt kann man verlangen, was man will – die Patient:innen bekommen 80 Prozent des Kassensatzes erstattet. Zusätzlich haben Wahlärzt:innen keine Vorgaben für Öffnungszeiten, können leichter nebenbei dazuverdienen und haben insgesamt einfach weniger Auflagen. Weitaus attraktiver als eine Kassenstelle also.
In Summe haben wir dadurch ein Problem bekommen, dass viel mehr Menschen Wahlärzt:innen sind – denn auch Krankenhäuser werden eher selten als attraktive Arbeitsplätze gesehen. Für die Patient:innen bedeutet das einen gefühlten Mangel, obwohl es in Österreich auf die Bevölkerung hochgerechnet so viele Ärzte wie in kaum einem anderen Land gibt.
Baustelle #5: Die Krankenhäuser sind unattraktiv
Gesundheitsminister wissen das seit Jahren, aber das führt zur nächsten Baustelle: Denn auch die Krankenhäuser sind Länderangelegenheit. Das bedeutet, das Ministerium kann ihnen ihre Ausgestaltung nicht vorschreiben.
Durch das Verteilungsproblem hat man in den Krankenhäusern aber nicht auf Personal verzichten können, weshalb Österreich die seit 2004 (!) geltende EU-Arbeitszeitvorschrift für Krankenhäuser noch immer nicht umgesetzt hat. Dadurch sind österreichische Krankenhäuser natürlich als Arbeitsplätze unattraktiver als die Konkurrenz im Ausland – immerhin gibt es eine höhere Wochenarbeitszeit. Insofern: Ein Punkt mehr gegen die Ärztetätigkeit in Österreich.
Baustelle #6: Die komplizierte Finanzierung
Viele dieser Probleme hängen an der Finanzierung. Niedergelassene Ärzte sind eben von abrechenbaren Leistungspositionen getrieben, und auch in Krankenhäusern geht es darum, welche Leistungen erbracht wurden und mit wie viel diese bezahlt werden. Andere Länder schauen verstärkt darauf, dass ihre Bürger:innen gar nicht krank werden – in Österreich gibt es dagegen kaum Leistungen, die zur Prävention beitragen. Das gesamte Gesundheitssystem ist auf Behandlung ausgelegt.
Ähnliches Problem: Auch pflegerische Leistungen zählen nicht. Deshalb ist es auch so schwierig, die Wertigkeit von Pflege zu ändern. Dazu kommt, dass die Finanzierung der Pflege auf Bund, Länder und Versicherungen aufgeteilt ist und jede Stelle im System das Gefühl hat, für die Verantwortung und die erwarteten Leistungen zu wenig Geld zu haben.
Die ÖGK beispielsweise würde schon Impfungen als Präventionsmaßnahme übernehmen – sie kann das aber eigenen Angaben zufolge mit dem vorhandenen Budget nicht. Die Länder könnten mit Ambulanzen in Krankenhäusern den Mangel an niedergelassenen Kassenärzten ausgleichen – aber dafür wollen sie einen größeren Beitrag der Versicherungen zur Krankenhausfinanzierung. Und der Gesundheitsminister soll am Schluss für alles die Verantwortung übernehmen und Gegenmaßnahmen setzen – weiß aber nicht einmal, wie viele Gefährdungsmeldungen es in Österreichs Krankenhäusern gibt.
Der große Hebel sollen nun die Verhandlungen zum Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Gemeinden sein. Unklar ist allerdings, wie genau sich das auswirkt. Erste Berichte zum Start der Verhandlungen sprechen von einer „Neuordnung im Gesundheitssystem“ – die Bundesländer wollen allerdings nicht nur mehr Geld, sondern auch mehr Verantwortung. Berücksichtigt man, dass es gerade bei Gesundheit aber ohnehin so wenige Durchgriffsmöglichkeiten für den Bund gibt, würde das eine weitere Zersplitterung fördern.
Langsam gibt es also zumindest ein steigendes Bewusstsein, dass die Finanzierung neu geregelt werden muss. Ob so eine Neuordnung aber dabei helfen würde, das Gesundheitswesen zu vereinheitlichen und die aktuellen Probleme zu lösen, ist zumindest nach aktuellem Informationsstand noch sehr fraglich.
Baustelle #7: Der einzige Ausweg sind Strukturreformen
Bei dieser, aber auch bei vielen anderen Baustellen im Gesundheitswesen sehen wir: Überall gibt es komplizierte Konstruktionen, in denen niemals eine Stelle allein Schuld ist. Die Versicherungsträger, Kammern, Ärzt:innen, Krankenhäuser, die Pflege, die Länder und das Ministerium – sie alle können allein wenig durchsetzen. Aber weil sie bei einer Lösung verlieren könnten, gibt es wenig Anreiz, etwas zu ändern.
Um diese Baustellen nachhaltig zu schließen, braucht es Strukturreformen. Ein unsexy Wort, das nicht sofort etwas bringt – aber gerade, wenn es um die Zuständigkeiten, Kompetenzen und Abrechnungswege im Gesundheitssystem geht, wären sie dringend nötig. Aber Reformen, die auch in zehn Jahren noch wirken, sind in der Politik selten – immerhin ist beim Eintreten einer Wirkung niemand der Verantwortlichen da, der die Lorbeeren einheimsen kann. Und darum wirkt es auch weiterhin eher unwahrscheinlich, dass die anderen Baustellen, die in diesem Artikel gezeigt wurden, in nächster Zeit geschlossen werden.