Ein kritischer Blick auf die Pflegereform II
Der zweite Teil der Pflegereform bietet viele neue Ankündigungen – aber nicht alles davon ist neu. Nach unserem kritischen Blick auf die Pflegereform aus dem letzten Jahr ein Update zu den neuen Maßnahmen.
Die Pflegereform 2022 wurde von der Bundesregierung mit Aussendungen, in Pressekonferenzen und in Reden als die größte Pflegereform seit Jahrzehnten gefeiert. Da diese aber gleichzeitig viel Kritik erhalten hat und nicht jeder Ansicht nach reicht, um im Pflegesystem nachhaltige Verbesserungen zu schaffen, gibt es einen zweiten Teil. Diesmal sind es 18 Maßnahmen, die die Regierung präsentiert, alleine sechs davon gestalten einen Punkt aus Teil eins aus – andere Änderungen sind wortident zu denen des Vorjahres. Zählt man inhaltlich beide Reformen zusammen, kommt man also bei weitem nicht auf die insgesamt 38 Maßnahmen.
Wie im Vorjahr wurde auch 2023 der „Tag der Pflege“ für die Präsentation der nächsten Schritte ausgewählt. Im Gegensatz zu 2022 gab es neben den Ankündigungen auch schon einzelne Gesetzesänderungen, die noch schnell im Parlament eingebracht und nur wenige Tage später bereits im Nationalrat beschlossen wurden. Mit Beschluss des Budgets Ende 2022 war die Pflegereform I überwiegend abgeschlossen. Übrig blieben 16 Millionen Euro, die für den fehlenden Punkt der 24-Stunden-Betreuung verwendet werden konnten. Konkrete Pläne für Reformen bei der 24-Stunden-Betreuung gab es aber noch nicht.
1. Angekündigt wird einiges
Aber zuerst zu den Inhalten – das Pflegepaket II hat nämlich gleich sechs Punkte, die sich auf besagten fehlenden Teil der 24-Stunden-Betreuung konzentrieren. Die verbleibenden Maßnahmen verteilen sich wieder auf Pflegekräfte und Angehörige. Im gleichen Stil wie im letzten kritischen Blick auf die Pflegereform gehen wir also auch dieses Jahr durch, was die Regierung ankündigt, und gehen danach ins Detail.
24-Stunden-Betreuung
- Erhöhung der Förderung
- Hausbesuche
- Teilbarkeit
- Beratungszentren
- Supervision und E-Learing
- Transparenz bei der Abrechnung
Maßnahmen für Gesundheits- und Krankenpflegeberufe
- Erweiterung Kompetenzen
- Leichtere Nostrifikation
- Anerkennung für Pflegeassistenz
- Mehr Möglichkeiten für Zivildiener
- Aufschulungen für Pflegefachassistent:innen
- Nachgraduierung für Diplomierte Gesundheits- und Krankenpfleger:innen
Maßnahmen für Angehörige
- Angehörigenbonus
- Pflegegeldeinstufungen durch Pflegekräfte
- Pflege-/Familienhospizkarenz für Selbstständige
- Rechtsanspruch auf Begleitung bei Kinderreha
- Ausweitung der Angehörigengespräche
- Unterstützung von Young Carers
Diese Liste zeigt wenig überraschende Prioritäten der Bundesregierung: Gerade angesichts der Teuerung wurde eine Erhöhung für 24-Stunden-Betreuung von so gut wie allen Seiten vehement gefordert, und dafür gab es im Budget auch noch Spielraum. Inwiefern das wirklich zur Pflegereform gehört, ist aber fraglich – immerhin ist 24-Stunden-Betreuung entgegen der weitläufigen Wahrnehmung kein Pflegeberuf. Die Ausbildung dauert nur wenige Wochen, und viele Personen sind lediglich über einen Gewerbeschein zur 24-Stunden-Betreuung berechtigt.
2. Positive Schritte bei Aufsicht, Qualifikation und Zusatzbelastung
Positiv zu bemerken ist, dass es mehr Beratungszentren und häufigere Kontrollbesuche durch gehobene Gesundheits- und Krankenpfleger:innen geben soll. Diese Besuche sollen sicherstellen, dass 24-Stunden-Betreuer:innen keine Fehler machen, wenn sie pflegerische Tätigkeiten übertragen bekommen. In Zukunft soll es bis zu vier Kontrollbesuche pro Jahr geben – allerdings fehlt es eben auch an gehobenen Pflegekräften. Gut möglich also, dass diese Maßnahme nur auf dem Papier existieren wird.
Zusätzliche Beratungszentren und mehr Supervision und E-Learning dagegen könnten die Arbeitsbedingungen und -umstände tatsächlich verbessern. Fraglich ist allerdings, wo und wie die Beratungen abgewickelt werden und welche genauen Inhalte dort vermittelt werden sollen. Weniger aufwendig wird dafür die zusätzliche Transparenz bei der Abrechnung: Denn viele Betreuer:innen werden von Agenturen vermittelt, jahrelang wurde über Scheinselbstständigkeit in dieser Branche diskutiert. Nun sollen Lohnnebenkosten, Vermittlungsgebühren etc. viel leichter verständlich dargestellt werden, der schlechte Ruf und potenzielle Scheinselbstständigkeiten könnten dadurch der Vergangenheit angehören.
Kritischer gesehen wird dafür von manchen die Teilbarkeit der Betreuer:innen. Zukünftig soll es nicht mehr unbedingt ein 1:1-Verhältnis in der 24-Stunden-Betreuung geben, in betreuten Wohneinrichtungen oder Alters-WGs soll ein:e Betreuer:in für bis zu drei Personen zuständig sein können. Das kann effizient sein, aber gleichzeitig die Belastung im Job so sehr erhöhen, dass Betreuer:innen lieber den Beruf wechseln oder zu besseren Bedingungen in Deutschland oder anderen Ländern arbeiten.
3. Vieles davon kennen wir schon
Viele Reformschritte sind auf diesen Wettkampf um Pflegekräfte aus dem Ausland ausgerichtet. Dazu gehört eine leichtere Anerkennung ausländischer Pflegeausbildungen und die Möglichkeit, während der Anerkennungsverfahren in niedriger qualifizierten Pflegeberufen zu arbeiten – das wurde bereits während der Pandemie so gehandhabt und immer wieder verlängert.
Das, aber genauso die zusätzlichen Anrechnungen, damit alte Ausbildungen auch mit den neuen Ausbildungsordnungen mithalten können, sollte nicht unbedingt als großer Wurf, sondern als Selbstverständlichkeit gesehen werden. Nur weil es zwischendurch Änderungen gab, ist die Ausbildung von jemandem, der sie vor 30 Jahren absolviert hat, nicht weniger wert, und Weiterqualifikation sollte immer leicht möglich sein. In Zukunft soll das auch tatsächlich der Fall sein, und auch Personen mit kürzeren Pflegeausbildungen sollen leichteren Zugang zur Weiterqualifikation auf höhere Pflegeausbildungen bekommen.
Auch andere Maßnahmen wurden schon vergangenes Jahr gefordert und hätten nicht auf heuer verschoben werden müssen. So wird beispielsweise das Gesundheits- und Krankenpflegegesetz noch einmal geändert, von Aufwertungen bei der Kompetenz ist die Rede, Pflegekräfte sollen zukünftig selbst Medizinprodukte verschreiben dürfen, z.B. Windeln bei inkontinenten Personen. Was wie eine winzige Änderung und Bürokratieabbau klingt, ist aber mit weitaus mehr Aufwand verbunden: Theoretisch können bestimmte Dinge bereits jetzt weiter verordnet werden, allerdings scheitert die Praxis an der Abrechnung mit der Sozialversicherung. Sollte dies gelingen, ist das aber kein Ergebnis der Reform, sondern es bräuchte einen Rahmenvertrag der Gesundheitskasse mit Pflegekräften – und solche Verträge kann die Bundesregierung nicht verhandeln oder anordnen. Ein großer Erfolg wäre der Abschluss eines Pflegevertrags und damit auch eine tatsächliche Weiterverordnung aber jedenfalls.
Ähnlich verhält es sich bei der Pflegegeldeinstufung durch Pflegekräfte: Dieser Reformteil wird zwar bei Angehörigenverbesserungen verbucht, bedeutet in der Praxis aber einen Kompetenzzuwachs für Pflegekräfte. Wer schon einmal auf einen Termin zur Einstufung und Überprüfung der Pflegestufe gewartet hat, weiß, dass diese Einstufungen oft lange dauern und umstritten sind. Viel diskutiert wurde etwa, dass nur Ärzt:innen diese Evaluierung machen dürfen, seitens des Pflegeverbands aber auf die realitätsnähere Bedarfseinschätzung durch Pflegekräfte verwiesen wurde – immerhin sind diese durch ihren Arbeitsalltag näher dran.
4. Angehörige sind noch immer Lückenbüßer
Wie bei der ersten Präsentation sind Angehörige eine eigene Zielgruppe – und werden damit belohnt, dass sich zwei Punkte wortident zum ersten Paket lesen, nämlich der Angehörigenbonus und die Ausweitung der Angehörigengespräche. Schon mit der Präsentation der Pflegereform II können mehr Menschen den Angehörigenbonus beziehen, auch wenn das Geld dafür im Budget noch nicht zugeordnet wurde. Es wird also auch heuer mit nachträglichen Budgetänderungen zu rechnen sein, weil die Pflegereform nicht rechtzeitig durchgeplant wurde.
Ein Problem, das sich wohl noch einmal bei der Pflege- und Familienhospizkarenz für Selbstständige wiederholen wird: Müssen Angestellte wegen eines Pflegefalls kurzzeitig in Karenz gehen, übernimmt die Sozialversicherung die Kosten für das Gehalt. Für das Unternehmen ist der Mitarbeiterausfall natürlich unpraktisch, aber es entstehen keine zusätzlichen Kosten. Für Selbstständige gibt es diese Möglichkeit nicht, da ja keine Vertretung da ist. Schon bei der Abwicklung vom Mutterschutz gibt es bei Selbstständigen oft Probleme, und Karenz wird deshalb de facto nur selten in Anspruch genommen. Doch jetzt soll es auch Modelle für Pflege- und Familienhospizkarenz geben.
Auch ein Rechtsanspruch auf Begleitung bei Kinder-Reha klingt gut. Eltern haben dann also ein Recht, ihre Kinder auf Reha zu begleiten – aber wenn Plätze für die Unterbringung von Begleitpersonen fehlen, wird der Anspruch nicht viel helfen, und auch die Problematik der Young Carers wird durch eine Informationskampagne nicht verbessert werden. Denn große Einigkeit, dass Kinder und Jugendliche nicht aus Mangel an Alternativen bei der Pflege von Angehörigen einspringen sollen, gibt es ja. Die Frage ist: Auch wenn Lehrer:innen oder Hausärzt:innen darauf sensibilisiert werden, wie sie solche Young Carers erkennen können, materialisiert sich nicht das nötige Pflegepersonal nicht einfach. Viel eher übernehmen Kinder diese Aufgabe, wenn die finanziellen Mittel nicht reichen oder Systeme zu kompliziert sind, um Pflege oder Betreuung von außen zu organisieren.
5. Was nach wie vor offen bleibt
Die vorhandenen Punkte lassen einige Fragen offen. Gewisse Kompetenzerweiterungen sind gut, aber sie brauchen die Mitarbeit der Versicherungsträger, damit sie auch wirklich passieren können. Die Weiterverordnung ist so ein Beispiel oder die Pflegegeldeinstufung durch Pflegekräfte. Bisher erfolgt diese über Amtsärzt:innen der Pensionsversicherungsanstalt – die PVA müsste für die Einstufung also Verträge mit Pflegekräften abschließen oder welche anstellen. Das wird durch den vorhandenen Mangel aber nicht so einfach sein oder einen Abzug von Pflegekräften in anderen Bereichen bedeuten – was ja such keiner möchte.
Auch der Rechtsanspruch auf Rehabegleitung bedeutet höhere Kosten für Versicherungsträger, und wie eine zusätzliche Karenz für Selbstständige aussieht, ist auch unklar. Eine Fortzahlung eines theoretischen Gehalts geht, doch wer übernimmt bei einem Einzelunternehmer die Vertretung? Oder wie werden Einbußen berechnet, weil ein kleines Unternehmen nicht länger in der Branche präsent ist und aus dem Bewusstsein potenzieller Kunden verschwindet?
Noch mehr offene Fragen gibt es bei der zusätzlichen Ausbildung für Zivildiener. Bereits jetzt gibt es einen Mangel an Zivildienern, da der Sozial- und Gesundheitsbereich, wie etwa das Rettungswesen, auf diese angewiesen ist. Wie genau die zusätzliche Ausbildung aussehen soll, wird wohl erst entwickelt werden müssen, aber schon jetzt helfen Zivildiener ja in Alten- und Pflegeheimen. Sollte es gut gehen, könnten Jobs in der Pflege für Zivildiener nach ihrer Pflichtzeit attraktiver werden. Sollte es schlecht gehen, müssen junge Männer mit wenig Vorbildung immer mehr Aufgaben im Gesundheitsbereich übernehmen. Welcher Fall eintritt, ist abzuwarten. Zu hoffen ist aber, dass es jedenfalls gleich Regeln gibt, wie dieses Modul bei anderen Pflegeausbildungen angerechnet werden kann. Andernfalls wird die „Anerkennung der Pflegekompetenzen aus dem Zivildienst“ ein neuer Reformschritt bei der nächsten oder übernächsten Pflegereform sein.
Fazit
Die Pflegereform II klingt nach vielen einzelnen Reformpunkten, besteht aber zu einem Großteil aus Erweiterungen der Maßnahmen aus dem ersten Paket. Teilweise gibt es wieder Überschriften, ohne dass jemand weiß, wie sie in der Praxis umgesetzt werden können. Viele Reformen sind schon lange fällig, aber schwierig umzusetzen, da sie bei der Sozialversicherung liegen.
Unabhängig vom Inhalt bleibt die Frage, warum fortlaufende Reformbemühungen jährlich voller Superlative als „große Würfe“ präsentiert werden müssen. Denn wenn jedes Jahr die absolute Systemlösung für alle Betroffenen verkündet wird, werden die Pflegekräfte wohl nicht zufrieden sein, wenn ihre Herausforderungen gleich bleiben und die Veränderungen nur in kleinen Schritten greifen.
Trotzdem ist ein gewisser Fortschritt feststellbar. Und der sollte auch entsprechend kommuniziert werden: Als eine Vielzahl neuer Schritte, um den Alltag für Pflegekräfte nach und nach besser zu machen. Denn sonst wird die Erwartungshaltung der Bevölkerung wieder enttäuscht werden – und wenn Pflegekräfte weiterhin aus dem System aussteigen, werden auch kleine Erfolge durch den Personalmangel konterkariert.