Europas Bildungsbinnenmarkt: Wie die „fünfte Grundfreiheit“ Wirklichkeit wird
In einer Welt, die zunehmend von Konflikten, Krisen und Herausforderungen geprägt ist, spielt Bildung eine große Rolle als Brücke zwischen den Völkern. Die internationale Mobilität von Jugendlichen und Studierenden erweist sich als unverzichtbares Instrument der Einigung Europas. Doch jene jungen Menschen, die im Studium, in der Schule oder in der Lehre ein „Erasmus-Semester“ machen oder an einer anderen Form des Austausches teilnehmen, sind auch in ihrer Altersgruppe noch immer in der Minderheit. Wie kann es gelingen, das zu ändern?
Die vier Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarkts – der freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital – sind seit langem etabliert. Nun ist es an der Zeit, eine fünfte Grundfreiheit einzuführen: die Bildungsfreizügigkeit. Diese zielt darauf ab, die Mobilität von Lernenden innerhalb Europas und darüber hinaus zu fördern, um einerseits den individuellen Horizont zu erweitern und andererseits die friedvolle „Einheit in Vielfalt“ auf unserem Kontinent zu stärken.
Viel erreicht und noch viel zu tun
Das 1987 gestartete Erasmus-Programm, das inzwischen ausgeweitet wurde und Erasmus+ heißt, zählt zu den Erfolgsgeschichten der Europäischen Union. Von Barcelona bis Brüssel, von Göteborg bis Graz und von Heraklion bis Helsinki konnten Studierende – und seit einigen Jahren auch Schüler:innen und Lehrlinge – Erfahrungen sammeln, Perspektiven wechseln, Kulturen kennenlernen und Freundschaften schließen.
Trotzdem ist internationale Mobilität in Studium und Ausbildung noch immer ein Minderheitenprogramm. Kosten, Zeitaufwand und die oft unzureichende Anerkennung von im Ausland erbrachten Leistungen sind häufige Bedenken.
Mobilitätsfenster: Ein Ticket zu mehr Auslandserfahrung
Ein Ansatz, um diese Herausforderungen zu überwinden, sind Mobilitätsfenster in Curricula. So können Studierende internationale Erfahrungen zu sammeln, ohne ihren Studienfortschritt zu gefährden. Dabei wird ein bestimmtes Semester im Studienplan vorrangig für Wahlpflichtfächer, freie Wahlfächer oder Praktika reserviert, sodass es leichter fällt, im Ausland Leistungen zu erbringen, die zu Hause fürs Studium anrechenbar sind. Ein Auslandsaufenthalt ohne Zeitverlust ist für Studierende wesentlich attraktiver und leichter umsetzbar.
Bewilligungsrate bei Stipendien sinkt – höchste Zeit für mehr Budget
Eine weitere Herausforderung ist, dass aus Budgetgründen ein immer geringerer Anteil der beantragten Erasmus+-Stipendien auch tatsächlich genehmigt wird, wie die Beantwortung einer NEOS-Anfrage durch den Bildungsminister aufgezeigt hat. Während im Jahr 2014 noch 8.020 von 8.979 beantragten Erasmus+-Mobilitäten, also Auslandsaufenthalten, genehmigt wurden und somit 89 Prozent der antragstellenden Studierenden eine Zusage erhielten, konnten 2023 nur 58 Prozent der „erasmuswilligen“ Studis tatsächlich losstarten: Von 19.732 Anträgen wurden 11.515 genehmigt, für über 8.000 Personen fehlte das Budget.
Eine ähnliche Entwicklung gibt es auch im Bereich Schulbildung, wo 2023 nur mehr 42 Prozent der Anträge genehmigt wurden. NEOS fordern eine Erhöhung des Erasmus+-Budgets, um mehr jungen Menschen Auslandserfahrungen zu ermöglichen. Als Chancenkiller hat sich übrigens der Brexit erwiesen: Vor dem EU-Austritt Großbritanniens konnten dreimal so viele Österreicherinnen und Österreicher dort studieren wie heute.
Kein Grenzbalken für Bildungsabschlüsse
In einem Europa der Bildungsfreizügigkeit muss auch für Bildungsabschlüsse selbstverständlich werden, was für Ausweise und Produktzertifikate gilt: Von einem Mitgliedsland nach europäischen Standards ausgestellt, sollen sie in ganz Europa volle Gültigkeit haben. Das beginnt beim Maturazeugnis und reicht bis zur Zulassung zu reglementierten Gesundheitsberufen oder anderen Professionen. Die Vorteile liegen auf der Hand: europaweite Bildungs- und Berufschancen für das Individuum, mehr Möglichkeiten gegen den Fachkräftemangel für Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber.
Weltweit vorn dabei sein
Zu diesen bildungsspezifischen Aspekten der Freizügigkeit kommt ein ganz klassischer Vorteil eines großen Binnenmarkts: Die Wettbewerbsfähigkeit auf der globalen Bühne. Wer für einen großen „Heimatmarkt“ forscht, entwickelt und produziert, hat mehr Chancen, mit Playern aus großen Volkswirtschaften wie USA und China mitzuhalten.
Das gilt auch für „Bildungsprodukte“ und aktuell ganz besonders für KI-gestützte, adaptive Lernsysteme. Diese bieten ein enormes Potenzial, denn erstmals wird der Anspruch eines individualisierten, auf den einzelnen Schüler zugeschnittenen Lehrens und Lernens, mit dem wir Lehrerinnen und Lehrer seit Jahren überfordern, nun endlich machbar und umsetzbar. Amerika und das fernöstliche „Reich der Mitte“ sind hier weiter als Europa, und nur gemeinsam können wir erfolgreich aufholen und Zukunft gestalten.
Was die Schulbuchaktion im Kreisky-Österreich der 1970er Jahre war, muss ein gemeinsamer Markt für digitale Lernsysteme im 2020er-Europa werden. Schafft gemeinsame Standards und Schnittstellen, gebt den Schulen Budgets und lasst den EdTech-Markt erblühen, damit Europas Schüler:innen, Lehrlinge und Studierende die besten und hilfreichsten digitalen Lerncoaches zur Seite gestellt bekommen!
Fazit: Visionen für eine grenzenlose Lernwelt
In der EU werden aktuell spannende Vorschläge – unter anderen jene von NEOS und der liberalen EU-Fraktion Renew – diskutiert, die darauf abzielen, die Bildungsgrenzen innerhalb des Kontinents zu überwinden. Diese Vorschläge umfassen die Einführung der Bildungsfreizügigkeit, die Erweiterung des Erasmus+-Programms, und die Schaffung europäischer digitaler Bildungsplattformen wie einer kostenlosen Europäischen Online-Akademie. Sie zielen darauf ab, jungen Menschen mehr und gerechtere Bildungschancen zu bieten.
Diese Vorschläge haben das Potenzial, die Bildungslandschaft in Europa grundlegend zu verändern. Sie könnten nicht nur die Bildungschancen für junge Menschen verbessern, sondern auch die europäische Integration fördern und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken. Machen wir die Bildung zum ersten Stern der Vereinigten Staaten von Europa!