FAQ: Die größten Europa-Mythen, widerlegt
Österreich hat von der EU profitiert. Will zwar keiner hören, ist aber so. Unsere Unternehmen zahlen keinen Zoll und auch sonst keine sinnlosen Handelshemmnisse. Das hilft ihnen dabei, nicht nur Gewinne zu erzielen, sondern auch Arbeitsplätze zu finanzieren – 693.000 Jobs wären bedroht, würden wir von heute auf morgen aus der EU austreten. Von Reisefreiheit, einer gemeinsamen Währung, der Abschaffung der Roaming-Gebühren und dem Green New Deal reden wir da noch gar nicht.
Trotzdem zählt Österreich zu den EU-skeptischsten Mitgliedstaaten.
Jetzt könnte man meinen, die Gründe dafür sind, dass unsere Mitgliedschaft ein schlechter Deal ist. Aber viel wahrscheinlicher ist, dass die Österreicherinnen und Österreicher einfach glauben, was ihnen ein großer Teil der Innenpolitik erzählt. Nämlich dass „Brüssel“ für alles verantwortlich ist, was nicht geklappt hat. Was gut funktioniert, ist dagegen immer das Verdienst der Bundes- oder Landesregierungen.
Diese strategische EU-Kritik vieler Parteien hat dazu geführt, dass die EU in Österreich schlechter gesehen wird, als gerechtfertigt ist. Zeit also, mit ein paar Mythen aufzuräumen, um gerade vor der EU-Wahl eine informierte Entscheidung treffen zu können.
Die EU bevormundet uns.
Behauptungen wie diese trennen zwischen „denen“ in der EU und „uns“ – es wird so getan, als sei Österreich fremdbestimmt. Dabei kommt das, was aus „der EU“ kommt, auch von uns: Kleine Staaten wie Österreich können sich überproportional einbringen, wenn Richtlinien und Verordnungen bestimmt werden. Und die gelten dann auch für alle: Es ist nicht so, als könnten sich einige Staaten zusammenschließen, um anderen auszurichten, wie sie zu leben hätten. Wenn es also vorkommen sollte, dass „die EU“ unsere Vertretung in Brüssel bevormundet, kann diese ihr Gewicht spielen lassen.
Die EU ist undemokratisch.
Um zu verstehen, warum diese Aussage falsch ist, muss man sich eine beliebige EU-Institution ansehen:
- Das EU-Parlament ist direkt von der Bevölkerung gewählt – hier wählen wir bei der EU-Wahl direkt, wer uns vertritt.
- Der EU-Rat besteht aus den gewählten nationalen Regierungen. Auch diese sind demokratisch legitimiert.
- Die EU-Kommission dagegen wird von den Mitgliedstaaten, also den gewählten Regierungen, vorgeschlagen und muss vom Europäischen Parlament bestätigt werden.
Wenn in Österreichs Politik so getan wird, als hätte man mit der „Technokratie“ Brüssel nichts zu tun, dann nehmen die entsprechenden Parteien ihren Job nicht ernst – denn alle Parlamentsparteien sind im EU-Parlament vertreten und hätten jede Möglichkeit, sich dort einzubringen. Nationale Interessen sind gegenüber europäischen sogar institutionell überrepräsentiert.
Die EU schafft keine gemeinsame Lösung in der Flüchtlingsfrage.
Diese Aussage stimmt zum Teil: Der ganz große Wurf ist noch nicht gelungen. Aber mit dem EU Asyl- und Migrationspakt ist in dieser Legislaturperiode ein Schritt in die richtige Richtung getan. Er bringt einheitliche Standards, schnellere Verfahren, mehr Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten, bessere Kontrollen der Außengrenzen und legale Fluchtwege und stärkt damit auch die Menschenrechte. Das heißt nicht, dass damit das gesamte Thema gelöst ist – aber dass sich die EU bei diesem Thema so schwer tut, liegt auch daran, dass die europäischen Rechtsparteien gemeinsame Lösungen blockieren.
Die EU hat den Ukraine-Krieg provoziert.
Der Krieg in der Ukraine wurde von Russland begonnen. Dass er „provoziert“ wurde, ist ein beliebter Mythos der russischen Propaganda. Eine solche Provokation ist aber nicht nachweisbar: weil sie schlicht und einfach nicht stattgefunden hat.
Das Minsker Abkommen, auf das sich viele beziehen, hält vieles fest, aber keine einzige Bedingung, die von der Europäischen Union gebrochen wurde. Im Gegenteil waren es russische Truppen, die im Osten der Ukraine unter dem Deckmantel eines „Bürgerkriegs“ von „lokalen Befreiungsarmeen“ den Frieden brachen, wogegen sich die Ukraine verteidigen darf – immerhin finden die Kampfhandlungen auf ukrainischem Territorium statt. Das Argument, ein Land dürfe sich gegen „Provokationen“ „verteidigen“, führt ins Leere: Der Angriff ist ungerecht, nicht die Verteidigung. Und um sich gegen eine Provokation zu verteidigen, sollte man auf sie zeigen können.
Argumente wie diese gelten für die Ukraine, aber noch mehr für die EU. Denn sie war bis einige Wochen nach Kriegsausbruch 2022 hauptsächlich Zuschauerin – was heute legitimer Gegenstand von Kritik ist. Die EU hat in den Ereignissen seit 2014 keine aktive Rolle. Bis auf die Tatsache, dass manche Staaten (wie Österreich) weiterhin fleißig Gas aus Russland kaufen, um den Krieg zu finanzieren.
Die EU will das Bargeld abschaffen.
Hier ist sogar das Gegenteil der Fall: Die EU sichert das Bargeld. Denn anders, als manche suggerieren, haben die Nationalstaaten die Währungspolitik nicht mehr selbst in der Hand, sondern auf die europäische Ebene abgegeben. Im Vertrag über die Arbeitsweise der EU wird dort in Artikel 128 Absatz 1 Satz 3 festgelegt, dass der Euro das gesetzliche Zahlungsmittel ist. Und das bedeutet auch: Euromünzen und -scheine müssen überall als Zahlungsmittel angenommen werden. Wer das Bargeld abschaffen will, muss sich also mit der EU anlegen, wie auch der EU-Botschafter Martin Selmayr festhält.
Das bedeutet übrigens nicht, dass die Liebe zum Bargeld falsch wäre. Durch seinen privaten Charakter kann man es durchaus als „gedruckte Freiheit“ bezeichnen, und ja, mancherorts gibt es schon Bargeldobergrenzen, die im Wesentlichen dem Kampf gegen Geldwäsche dienen. Auch die Sinnhaftigkeit eines „digitalen Euro“ kann man mit guten Argumenten infrage stellen – vor allem, wer danach eigentlich gefragt hat. Aber ein Bargeldverbot ist auf EU-Ebene kein Thema. Und solange die Verträge sich nicht ändern, wofür es Einstimmigkeit bräuchte, bleibt das auch so.
Die EU ist Geldverschwendung.
Auch hier gilt wieder das exakte Gegenteil. Eine Studie von WIFO-Chef Gabriel Felbermayr und Kolleg:innen legt etwa nahe, dass die EU-Mitgliedschaft uns pro Kopf 114 Euro kostet – aber fast 4.000 Euro pro Jahr an Vorteilen bringt. Vorteile, die auch wegfallen würden, wenn Österreich den „Öxit“ vollziehen würde: Unternehmen müssten wieder Zölle zahlen, der Zugang zu wichtigen Märkten in Europa ginge verloren, die Exportwirtschaft läge brach, Arbeitsplätze würden verschwinden.
Oft bezieht sich die Kritik aber gar nicht auf konkrete wirtschaftliche Vor- oder Nachteile, immerhin ist der Binnenmarkt etwas Abstraktes. Vielmehr geht es um „Geldverschwendung“, weil die EU einen großen bürokratischen Apparat hat. Und das ist zwar richtig, aber auch der komplexen demokratischen Organisation geschuldet: Die EU-Kommission braucht Fachexpertise aus allen Bereichen, Mitglieder des EU-Parlaments eigenes Personal, dazu kommen die vielen europäischen Parteien mit wieder eigenem Personal und die Unterstützung, die der Rat in Form der Regierungsmitglieder braucht.
Das mag oft nach viel aussehen, aber zum Vergleich: Die Stadt Wien allein hat mehr Angestellte als die gesamte EU. Das heißt nicht, dass es keinen Verbesserungsbedarf gibt, und Entbürokratisierung ist ein legitimes Anliegen. Aber viel von dem Geld, das in „EU-Bürokratie“ fließt, geht in gute Gesetzgebung und hohe Transparenzstandards. Und das sollte das Geld allemal wert sein.
Die EU kümmert sich nur um die Konzerne.
Dass Konzerne in der EU eine starke Stimme haben, kann man nicht bestreiten: Immerhin betreiben sie Lobbying. Das dürfen sie, und es ist auch legitim, dass private Unternehmen für ihre Anliegen werben. Das Narrativ, dass sie die Politik „steuern“, stimmt allerdings nicht: Denn gerade auf EU-Ebene gibt es hohe Transparenzstandards. EU-Abgeordnete müssen offenlegen, wann sie mit wem worüber reden, was für sie bezahlt wird. Schnell landet man bei einer illegalen Geschenkannahme für Dinge, die in Österreich noch legal wären.
Die andere Seite dieser Medaille sind übrigens nicht die Konzerne, sondern NGOs. Denn auch diese betreiben Lobbying, aber eben nicht im kommerziellen Interesse. Auch für sie gelten hohe Transparenzstandards, und auch sie haben eine entscheidende Rolle darin, den Gesetzgebungsprozess zu beeinflussen. Für jedes Öl- und Gasunternehmen, das bei EU-Abgeordneten anklopft, klopft auch eine Umwelt-NGO an. Und da sich die Bürgerinnen und Bürger ansehen können, wer sich wofür entschieden hat, ist der Umgang damit wesentlich unproblematischer als in Österreich.
Die EU steht für „Öko-Kommunismus“.
Erstmal: Man sollte den Begriff des Kommunismus nicht verharmlosen. Unter dessen Deckmantel sind immerhin Millionen Menschen gestorben. Mit Planwirtschaft, Zensur oder der Einschränkungen unserer Rechte hat seriöse Klimapolitik auch nichts zu tun – insofern ist dieses Label abzulehnen.
Aber reden wir darüber: Tut die EU zu viel im Klimaschutz? Wahrscheinlich nicht. Denn die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in dem Bereich sind nicht zufrieden mit den Bemühungen, da die Erderwärmung schneller voranschreitet als der Klimaschutz. Auf der anderen Seite brüstet sich Ursula von der Leyen mit dem „Green New Deal“ und damit, dass 50 Milliarden Euro in das Klima investiert werden. Ein Punkt, den man legitimerweise kritisieren kann: In diesem Budgetpunkt stecken zu zwei Drittel Agrarsubventionen und andere Dinge, die nichts mit Klimaschutz zu tun haben.
Und das, was die EU tut, ist besonders sinnvoll. Denn das Argument, das kleine Österreich oder das „kleine“ Deutschland könnten alleine nichts ausrichten, gilt eben nur, wenn Klimapolitik allein betrieben wird. Wenn der große Binnenmarkt sich zusammenschließt – 2022 machten die EU-27 noch 7,62 Prozent der Emissionen aus –, haben Klimaschutz-Maßnahmen größere Wirkung und sorgen dafür, dass kein EU-Land einen Wettbewerbsnachteil im Vergleich zu anderen hat. Im Gegenteil: Wenn die Europäische Union als Erstes klimaneutral wird, nutzt sie auch einen Wettbewerbsvorteil und muss keine Photovoltaik-Anlagen aus Drittstaaten, kein teures Gas aus Russland, keine E-Autos aus China kaufen.
Die EU kümmert sich doch nur um Lächerlichkeiten wie die Gurkenkrümmung.
Das ist falsch. Die viel zitierte „Gurkenkrümmungsverordnung“, die eben festlegt, wie krumm eine Gurke sein darf, ist nämlich zuerst mal gar keine europäische Idee – sondern eine österreichische. Nach ihrer Erfindung in Österreich wurde sie auf EU-Ebene übernommen, um einen gemeinsamen Standard im Wirtschaftsraum festzulegen: Für Unternehmen ist es im Transport nämlich praktisch, sich auf einheitliche Maße zu einigen. Mittlerweile ist die Verordnung wieder abgeschafft.
Trotzdem: Die EU kümmert sich zu wenig um die großen Bereiche.
Was aber richtig ist: Die EU kümmert sich nicht ausreichend um das, was wirklich wichtig ist. Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik etwa ist nach wie vor eine Angelegenheit, die am Einstimmigkeitsprinzip scheitert. Wer also eine Richtungsentscheidung für Europa treffen will, muss nicht nur einen Konsens zwischen 27 Nationalstaaten mit unterschiedlichen Regierungsmehrheiten eingehen, sondern auch an autokratischen Staaten wie Ungarn vorbei: Die Unterstützung für die Ukraine-Hilfe ließ sich Orbán viel kosten.
„Die EU“ …
Schließen wir das Thema vielleicht mit dieser Aussage ab: Was ist denn eigentlich „die“ EU? Gerade in Österreich wird gerne so getan, als wären das ungewählte Bürokratinnen und Bürokraten in Brüssel, die niemandem Rechenschaft abgeben müssen. Dabei besteht die EU aus denen, die wir wählen – unseren nationalen Regierungen, unseren gewählten Abgeordneten und die Kommissare, die aus jedem Land kommen und von den Regierungen beschickt werden. Wer die Beamten sind, die auf EU-Ebene arbeiten, kann man in vielen Fällen auf diversen EU-Websites nachlesen. Aber wen interessiert das? Die, die über die Politik entscheiden, sind gewählt. Und namentlich mehr als bekannt.
Darum ist es auch ein Problem, wenn Politikerinnen und Politiker so tun, als wäre „die EU“ das Gegenteil von „unserer“ Politik. Absolut nichts hält österreichische Abgeordnete davon ab, eine Idee zu haben, sie im EU-Parlament zu artikulieren, sich Allianzen zu suchen und daran zu arbeiten. Claudia Gamon etwa – immerhin die (bislang) einzige österreichische Abgeordnete der Liberalen – hat sich in Sachen der Energiepolitik einen Namen gemacht, Othmar Karas wurde vom Magazin Politico als einer der einflussreichsten EU-Parlamentarier beschrieben. All das ist möglich. Aber es passiert noch viel zu wenig.
Genau das ist der Grund, warum sich Klischees, die in diesem Artikel beschrieben wurden, nach wie vor so gut halten: Die österreichische Innenpolitik sieht die EU immer noch als ein nützliches Feindbild. Statt sich in der Mobilitätspolitik proaktiv einzubringen und auch fernab von Wahlkämpfen einen Standpunkt zu trommeln, entdeckt die ÖVP den Kulturkampf ums Auto erst jetzt für sich – um dann einige Jahre wieder nichts zu tun. Die FPÖ zündelt sogar mit dem Austritt aus der Europäischen Union. Soll sie ihre Inhalte durchsetzen? Um diese Richtungsentscheidung geht es bei der EU-Wahl. Und aus vielen der genannten Gründe wäre es wichtig, seriöse und proeuropäische Politik zu stärken.