Gespaltenes EU-Parlament zum Wahlbetrug in Serbien
Seit den vorgezogenen Wahlen am 17. Dezember 2023 wird in Serbien lautstark protestiert. Zu offensichtlich liegt hier Wahlbetrug vor. Sogar internationale Wahlbeobachter:innen haben in ihrem OSCE/ODIHR-Bericht auffällige Unregelmäßigkeiten festgestellt, weswegen sie von der serbischen Premierministerin Ana Brnabić öffentlich denunziert und angefeindet wurden.
Was vor ihrer Regierungszeit noch undenkbar gewesen wäre, ist als Reaktion auf den unverblümten Bericht tatsächlich geschehen: Die hohe Amtsträgerin versuchte nicht einmal den Schein diplomatischen Geschicks auf internationaler Ebene zu wahren, sondern griff in den staatlich kontrollierten Medien internationale Wahlbeobachter:innen persönlich an, allen voran den sozialdemokratischen EU-Parlamentarier Andreas Schieder und Bundesrat Stefan Schennach. Offensichtlich versuchte sie mit propagandistischen Mitteln von den landesweiten Protesten abzulenken.
Landesweite Demos und Hungerstreik
Tausende entrüstete Bürger:innen machten im ganzen Land von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch, weil die serbische Wahlkommission – offiziell ein unabhängiges Organ – ihre Aufgaben nicht erfüllte: den Wahlvorgang zu überprüfen, die Wahlergebnisse zu annullieren und die Wiederholung aller Wahlen anzukündigen.
Mit dem Ziel, möglichst große internationale Aufmerksamkeit zu erlangen, trat Marinika Tepić, die Spitzenkandidatin des Oppositionsbündnisses Srbija protiv Nasilja (Serbien gegen Gewalt) mit weiteren sechs Politiker:innen ihres Bündnisses für fast zwei Wochen in den Hungerstreik. Zeitgleich folgten laufend Posts auf X (ehemals Twitter) zur Polizeigewalt gegen Demonstrierende. Vor allem junge Menschen, auch Minderjährige, wurden teils brutal niedergeschlagen und verhaftet, was die Wut auf der Straße zusätzlich anheizte.
Bei der Großkundgebung mit 17.000 Teilnehmer:innen am 30. Dezember 2023 fanden der Hungerstreik und Straßenprotest (vorerst) ein Ende. Manch eine:r fühlte sich sogar an die großen Studierenden- und Bürger:innenproteste 1996/97 erinnert, als das Milošević-Regime den Sieg der liberal-demokratischen Opposition insbesondere unter internationalem Druck anerkennen musste.
Schweigen im EU-Parlament
Parallel zu den tumulthaften Protesten hat sich das EU-Parlament zunächst auffällig still verhalten. Denn die serbische Regierungspartei SNS gehört der bisher größten europäischen Parteifamilie an – der Europäischen Volkspartei, kurz EVP.
Vučićs europäischer Fraktionskollege, der slowakische EU-Parlamentsabgeordnete Vladimir Bilčík, seines Zeichens auch Serbien-Berichterstatter, hatte nämlich alles darangesetzt, den offensichtlichen Wahlbetrug in Serbien auf EU-Ebene nicht als solchen zu bezeichnen, geschweige zu thematisieren. Unterstützt wurde er dabei vom ungarischen Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi, Viktor Orbáns Handlanger in Brüssel. Immerhin konnte eine Mehrheit aus vier Gruppen – den liberalen, grünen, sozialdemokratischen und linken Fraktionen – vorerst eines erreichen: den Wahlvorgang, die Wahlergebnisse und den Wahlausgang im EU-Parlament auf die Agenda zu setzen.
Bei der EU-Parlamentssitzung am 17. Jänner ging es einerseits um die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn, der Slowakei und Griechenland und andererseits um die Wahlunregelmäßigkeiten in Serbien. Unterschiedlicher konnten die Positionen bei der Parlamentsdebatte nicht sein. Während Vučić seine Teilnahme beim Weltwirtschaftsforum in Davos als quasi verantwortungsvoller Staatsmann über soziale Medien inszenierte, einigte man sich in Straßburg auf die Verabschiedung einer Resolution bei der nächsten EU-Parlamentssitzung am 8. Februar. Das ist ein Hoffnungsschimmer für all jene liberal-demokratischen Demonstrant:innen, die am 16. Jänner 2024 auf den Belgrader Straßen der Kälte trotzten.
Was zu tun bleibt
Klar ist, dass die Verantwortlichen auf EU-Ebene endlich eine unmissverständliche Position gegenüber Serbiens Regierung und deren Machenschaften einnehmen müssen. Nachdem Serbien nur auf dem Papier Rechtsstaatlichkeit und Gewaltentrennung vorweist, alle eigentlich unabhängigen Institutionen von der Regierungspartei infiltriert sind, kaum Pressefreiheit besteht, Wähler:innen von der autokratischen und korrupten Machtelite unter Druck gesetzt oder sogar „Phantom-Wähler:innen“ aus dem Ausland per Bus zu den Urnen gebracht werden, muss gegenüber dem autokratische Systems Vučić eine rote Linie gezogen werden.
Aus juristischer bzw. verfassungsrechtlicher Perspektive ist laut dem promovierten Juristen und EU-Rechtsexperten vom Belgrader Institut für Europäische Studien, Uroš Ćemalović, die Sachlage klar. Wie es weitergehen wird, ist allerdings eine „politische Entscheidung“. Dabei geht es um die Frage, ob Brüssel und Washington weiterhin den Stabilokraten Vučić unterstützen werden, weil er sich nach außen bezogen auf die staatliche Unabhängigkeit Kosovos kooperativ zeigt – oder ob sie sich endlich der politischen Realität stellen werden. „Denn Vučić führt sie seit Jahren an der Nase herum, während der serbische EU-Beitrittsprozess stockt“, so Ćemalović. Und weiter:
„Die EU tut so, als ob sie Serbien aufnehmen wollte, und Vučić gibt vor, der EU beitreten zu wollen. Noch nie war die EU-Skepsis in Serbien so ausgeprägt.”
Unterstützung für liberal-demokratische Opposition wird lauter
Die weit verbreitete EU-Skepsis im Land ist nicht nur Resultat des stockenden Beitrittsprozesses, sondern vor allem des steigenden Einflusses von russischer Propaganda und einer beispiellosen Medienkontrolle, die vom quasi öffentlich-rechtlichen Rundfunk über private TV- und Radiostationen und Printmedien (vorwiegend Boulevard) bis zu sozialen Medien reicht. Dieser Giftcocktail bildet laut Ćemalović nicht nur die Grundlage einer „aggressiven Alltagskultur“ und „empathielosen Gesellschaft“, sondern mündete schließlich in den tragischen Attentaten Anfang Mai 2023 in Serbien.
Dass sich in diesem kollektiven Schock das Oppositionsbündnis Srbija protiv Nasilja mit Marinika Tepić an der Spitze formierte, ist als Signal einer ungebrochenen pro-europäischen Zivilgesellschaft zu verstehen. Ähnlich wie in den 1990er Jahren geht es jetzt auf europäischer und internationaler Ebene darum, liberal-demokratische Kräfte zu stärken, um ein illegitimes und illegales Regime rechtmäßig zu beenden. Srbija protiv nasilja stellt in einem offenen Brief konkrete Forderungen an die EU und hat außerdem beim serbischen Verfassungsgericht eine Klage wegen Wahlbetrug eingereicht, verbunden mit einer geforderten Annullierung der lokalen Wahlen in Belgrad und folglich einer Wahlwiederholung.
Unterstützung kommt über soziale Medien außerdem von einer internationalen Bürger:innen-Initiative rund um namhafte Wissenschafter:innen und Südosteuropa-Expert:innen aus dem breiten Netzwerk des renommierten Politikwissenschafters Florian Bieber. In deren Petition für freie und faire Wahlen in Serbien fordert diese Initiative die Aufklärung der Unregelmäßigkeiten bei den letzten Wahlen und eine Wahlwiederholung, alles unter internationaler Begleitung und Beobachtung.
Ermittlungen und eine Wahlwiederholung bei nachgewiesenem Wahlbetrug fordern inzwischen auch führende EU-Parlamentarier:innen in einem offenen Brief an die Führungsspitze der Europäischen Kommission, des EU-Parlaments und des Europäischen Rats. Im deutschen Bundestag wurde ebenfalls eine genaue Untersuchung der Wahlvorgänge und -ergebnisse durch eine unabhängige OSZE-Kommission eingefordert. Die Position der deutschen Bundesregierung zur serbischen Stabilokratie ist klar, anders als übrigens in Österreich.
Immer deutlicher wird jetzt, dass das, was in Serbien vor sich geht, auch Europa betrifft – insbesondere mit Blick auf das Superwahljahr 2024. Letztlich geht es um die folgenschwere Wahl zwischen Autokratie oder Pluralismus.