Liz Truss: Misere unterm Union Jack
Rund 45 Tage im Amt, zehn davon während der Trauerperiode nach dem Tod der Queen ohne politische Entscheidungen: Das ist das politische Erbe der glücklosen Premierministerin des Vereinigten Königreichs, Liz Truss.
In ihrer Amtszeit schaffte Truss es, die Finanzmärkte mit ihren Wirtschaftsplänen in Panik zu versetzen und damit die Kosten für Kreditraten, Pensionsfonds und die Refinanzierung des Staates in die Höhe zu treiben, zwei Minister:innen in zwei zentralen Ministerien zu verlieren, eine Reihe von Richtungswechseln in zentralen (parteiinternen) Wahlversprechen zu vollziehen und ihre konservative Partei der Tories in den Umfragen abstürzen zu lassen. Am Donnerstag vergangene Woche ist Liz Truss zurückgetreten.
Ihr Nachfolger steht heute, Montag, mit Rishi Sunak fest – er wird der Tories-Chef und soll, wenn alles läuft wie geplant, auch Premierminister werden. Sofern der Plan der Tories hält. Denn in der aktuell, freundlich gesagt, turbulenten Innenpolitik im UK ist nicht sicher, was als Nächstes passieren wird. Die Oppositionsparteien Labour, Liberal Democrats und Scottish National Party fordern bereits alle Neuwahlen. Doch sie hätten gemeinsam keine Mehrheit im Parlament, die dafür notwendig wäre – und es ist fraglich, ob die Tory-Abgeordneten jetzt große Lust auf Neuwahlen haben, wenn ihre Partei in den Umfragen derart abstürzt.
Rishi Sunak war bereits Truss’ Gegenkandidat im letzten parteiinternen Wahlkampf der Tories im Sommer. Doch er wird mit heftigem Gegenwind des rechten Flügels der Partei rechnen müssen, der Sunak nicht vergeben will, dass der Ex-Finanzminister eine entscheidende Rolle beim Ende von Boris Johnson hatte. Und es sagt nichts guter über den Zustand der angeblich staatstragenden Partei der Tories aus, wenn eben der skandalgebeutelte Johnson nach den Rücktritt von Truss tagelang mit dem Gedanken spielte, zur parteiinternen Wahl antreten zu wollen – und nennenswerte Unterstützer dafür hatte.
Die sehr kurze Geschichte der Trussonomics
Was ist aber passiert, dass Liz Truss so spektakulär und schnell gezwungen war, ihr Amt zu räumen? Es ist eine Mischung aus einer Radikalisierung der Tories, ein Schielen nach rechts und ein Fokus auf (auch wirtschaftspolitischen) Populismus und wohl auch mangelnde persönliche Qualitäten von Liz Truss als Politikerin.
Zuerst zu Truss selbst: Bereits im parteiinternen Wahlkampf um die Nachfolge von Boris Johnson wurde deutlich, dass sie gerade bei wirtschaftspolitischen Ideen große Ansagen machte, aber kaum Details liefern wollte. Ihr Gegner Sunak hatte bereits im Wahlkampf davor gewarnt, dass ihre geplanten massiven Steuersenkungen (vor allem für die höchsten Einkommen), die nur durch mehr Schulden finanziert werden würden, in Zeiten anziehender Inflation die Teuerung noch massiv anheizen würden.
Doch Truss war so von ihrer libertären Niedrigsteuer-Politik überzeugt, dass sie auf Warnungen nicht hören wollte. Doch die sogenannten Trussonomics hielten dem Kontakt mit der Realität – und dem freien Markt – nur wenige Tage stand. Das sogenannte Mini-Budget, das Steuerkürzungen in der Höhe von 45 Milliarden Pfund vorsah, ohne eine wirkliche Gegenfinanzierung einzuplanen, schickte das Pfund auf Talfahrt, es rutschte auf den niedrigsten Wert gegenüber dem Dollar in der Geschichte. Der Internationale Währungsfonds musste sogar eine öffentliche Warnung aussprechen und appellierte an die Regierung, ihre Steuerpläne zu überdenken – ein bis dahin nie vorgekommenes Vorgehen gegenüber einer der großen Wirtschaftsmächte der G7.
Doch Truss und ihr Finanzminister und persönlicher Freund Kwasi Kwarteng hielten an ihrem Plan fest – vorerst. Denn als die Märkte mit Misstrauen reagierten und die Kosten für Kredite der Regierung und für Privatpersonen massiv stiegen, rebellierten die Tory-Abgeordneten im Parlament, die ihre Chancen auf eine Wiederwahl schwinden sahen. Truss opferte zuerst Kwarteng, der davor noch die peinliche Abkehr von der Steuersenkung für die höchsten Einkommen bekanntgeben musste.
Doch der von Truss als Kwartengs Nachfolger Bestimmte bewies kaum ihr politisches Geschick. Denn mit Jeremy Hunt brachte sie einen gemäßigten Konservativen, der Sunak unterstützt hatte, ins Amt, der gleich daran ging, ihre Pläne zu hintertreiben. Hunt stampfte praktisch das gesamte Mini-Budget ein, und damit auch die Autorität der noch immer neuen Premierministerin. Die Wirtschaft erholte sich aber kaum, das schwache Pfund befeuerte die Inflation, die Bank of England musste Krisenfeuerwehr spielen. Am Tag vor Truss’ Abgang trat noch ihre Innenministerin zurück, eine Abstimmung im Unterhaus versank im Chaos. Am Donnerstag musste Truss erkennen: Ihre Trussonomics hatten nur wenige Tage überlebt, nun war auch die Zeit für deren Architektin gekommen.
Brexit-Schimäre und ein Eisbergsalat
Doch die Leiden der kurz amtierenden Premierministerin sind nur ein Symptom für die fundamentale Krise, in der die britische Innenpolitik steckt. Treibende Kraft dahinter sind der Brexit und seine Folgen.
Das lauwarme Verhältnis, das das Vereinigte Königreich mit der EU über Jahrzehnte gepflegt hatte, kam in Zeiten der Globalisierung, der Deindustrialisierung und des Anstiegs des rechten Populismus immer stärker ins Wanken. Als der glücklose konservative Premierminister David Cameron die Brexit-Abstimmung vom Zaun brach, um Erfolg in den Wahlen zu haben, träumte er nicht einmal davon, dass das Königreich wirklich für einen Austritt stimmen würde – und musste eine Niederlage einstecken. Er trat zurück, und der schmerzhafte Scheidungsprozess mit der EU begann unter seiner Nachfolgerin Theresa May. Die Pragmatikerin versuchte einen ehrlichen Kompromiss mit der EU zu finden, doch überzeugte Brexit-Fans bremsten sie im Parlament aus, weil Mays Deals ihnen zu weich waren. Am Ende gab May verbittert auf, ihr Scheitern zeigt die Machtverschiebung in den Tories hin zu populistischeren, ideologiegetriebenen Kräften.
May folgte der begnadete Populist Boris Johnson nach, der auch aktiv an ihrer Desavouierung mitgearbeitet hatte. Er schaffte es, winzige Änderungen an dem finalen Deal, den May ausverhandelt hatte, als große nationale Siege zu verkaufen, und brachte damit den Brexit-Vertrag mit der EU durchs Parlament. Dafür nahm er in Kauf, dass das politische Klima in Westminster bitterer wurde: Remain-Anhänger:innen wurden als „Remoaner“ beschimpft, Angriffe gegen Ausländer:innen mehrten sich. Doch die angeblichen Höhenflüge des UK im Post-Brexit-Glanz blieben aus. Die großen Ankündigungen eines Singapore-upon-Thames, eines libertären Tigerstaats außerhalb der EU mit wenig Regeln, staatlichem System und niedrigen Steuern erfüllten sich nicht – stattdessen gab es Probleme mit der Lieferung von Lebensmitteln über den Ärmelkanal. Im Hintergrund besetzte Johnson Posten mit persönlich Vertrauten, die seine libertäre Agenda weitertrieben: Das nationale Gesundheitssystem wurde sogar in der Corona-Krise ausgeblutet, das Sozialsystem zurückgefahren, was sich jetzt in der Inflationskrise doppelt rächt.
Doch die Tories konnten oder wollten sich nicht von diesem Trend verabschieden. Nachdem Johnson über die eigenen Lügen und Skandale gestolpert war und zurücktreten musste, entschied sich die Partei für Liz Truss, die die Politik ihres Vorgängers auf die Spitze trieb – und an der Realität zerschellte. Ihr ausgerufener Kampf gegen die finanzielle Orthodoxie endete binnen 45 Tagen und erschütterte das Vertrauen der Märkte in die Vernunft der britischen Politik.
Ob Rishi Sunak seine verwundete und gespaltene Partei befrieden und das Chaos im UK beenden kann, ist mehr als fraglich. Auch die internationalen Märkte müssen wieder Vertrauen finden, sonst werden die hohen Zinsen für die Refinanzierung des Staates nicht sinken. In einer Zeit, in der ein Eisbergsalat länger überlebt als eine Premierministerin, muss viel repariert werden. Die Brexit-Blase ist geplatzt – jetzt herrscht Misere unterm Union Jack.