Nach EU-Wahl: Ringen um proeuropäische Mehrheit im EU-Parlament
Fünf Wochen sind vergangen, seit die Europawahlen geschlagen sind. Bei einer durchschnittlichen Wahlbeteiligung von 51,05 Prozent verzeichneten die Rechtsfraktionen – wie erwartet – einen deutlichen Stimmenzugewinn. Dennoch scheint es vorerst so zu sein, dass die konstruktive parlamentarische Arbeit fortgesetzt werden kann.
Die bisherige Zentrumskoalition, bestehend aus der christdemokratischen Europäischen Volkspartei (EVP), der sozialdemokratischen S&D-Fraktion (Progressive Allianz der Sozialdemokraten) und der liberalen Renew Europe Group, kann mit insgesamt 401 Mandaten eine knappe Mehrheit der 720 EU-Parlamentssitze halten. Rechnet man die – neben Renew ebenfalls abgeschlagene – grüne Freie Allianz (EFA) dazu, sind es sogar 454 Mandate. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass sich die Grünen in der kommenden Legislaturperiode kooperativer zeigen. Nach den EU-Wahlen 2019 unterstützten sie die Ernennung von Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin nicht, obwohl diese die Ausarbeitung eines Green Deals von Anfang an in Aussicht stellte. Die für Europa wichtigen Beschlüsse (neben dem Green Deal u.a. auch weitreichende Corona-Maßnahmen sowie die EU-Sanktionspolitik gegenüber Russland) fassten aber vor allem die drei Zentrumsparteien EVP, S&D und Renew. Diese haben sich bisher auch als verlässliche Partner und die proeuropäischsten Fraktionen erwiesen, wie ein kürzlich erschienener Policy Brief vom NEOS Lab herausgefunden hat.
Um für ein gemeinsames starkes Europa weiterarbeiten zu können, ist eine eindeutige Mehrheit deswegen wichtig, weil es im EU-Parlament bei Abstimmungen zu Beschlüssen keinen Fraktionszwang gibt. Und diese wird die neue EVP-S&D-Renew-Koalition ab der nächsten Sitzung am 18. Juli dringend benötigen.
Verteilung der Spitzenfunktionen gleich zu Beginn
Bei der nächsten EU-Parlamentssitzung wird es darum gehen, ob die beim Europäischen Rat Ende Juni nominierten Spitzenkandidat:innen auch tatsächlich ihr Amt antreten können. Der Stimmenzugewinn der EVP war zwar angesichts vorheriger Prognosen überraschend, dass Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit kandidieren wird, nicht. Vor den Kopf gestoßen hatte es manche, dass von der Leyen auch gleich ihr Dream Team präsentierte, ohne zuvor weitere Fraktionen bzw. Staatsspitzen in die Beratungen einzubinden. Für die Position des Präsidenten des Europäischen Rats kandidiert nun der ehemalige sozialdemokratische Premier Portugals, António Costa, von der S&D-Fraktion. Er wäre dann Nachfolger des liberalen Charles Michel. Das Amt der EU-Chefdiplomatin soll Kaja Kallas, liberale Regierungschefin Estlands und Mitglied der Renew Europe Group, übernehmen. Damit würde Kallas dem jetzigen EU-Außenbeauftragten Josep Borrell, Mitglied der S&D-Fraktion, nachfolgen.
Entscheidung für politische Schwergewichte
Beide Kandidat:innen, Costa und Kallas, erweisen sich als erfahrene und zugleich einflussreiche Spitzenpolitiker:innen. António Costa war unter anderem Bürgermeister von Lissabon und seit 2015 Premierminister Portugals, wobei ihm die Parlamentswahlen 2022 sogar die absolute Mehrheit brachten. Im November 2023 wurde er allerdings von der Staatsanwaltschaft wegen Korruption angeklagt, was zunächst sein politisches Ende bedeutete. Aus Mangel an Beweisen und infolge von Fehlern in den Ermittlungen wurde das Verfahren gegen ihn bald eingestellt, seine Reputation wiederhergestellt. Was ihm hoch angerechnet wurde, war, dass er als Reaktion auf die Vorwürfe unmittelbar zurücktrat und Neuwahlen ausrief.
Die estnische Regierungschefin Kaja Kallas gehört zu jenen politischen Entscheidungsträger:innen, die sich von Beginn an vehement für die Unterstützung der Ukraine einsetzen und unmissverständlich vor der Gefahr Russlands für ganz Europa warnen. Dass Freiheit und Demokratie alles andere als selbstverständlich sind und bei Gefahr im Verzug verteidigt werden müssen, betont sie immer wieder mit Verweis auf die einstige sowjetische Gewaltherrschaft, so auch bei ihrer Rede an die Freiheit im österreichischen Parlament dieses Jahr. Sie war es auch, die noch vor dem Einmarsch Russlands Waffenlieferungen an die Ukraine ermöglichte. Mit Hilfen in einem Ausmaß von 2,73 Prozent des eigenen BiP zählte Estland 2023 vergleichsweise zu den größten Unterstützer:innen der Ukraine. Nachdem Kallas auch als mögliche NATO-Generalsekretärin im Gespräch war, ist sie nun fürs EU-Außenamt nominiert.
Heftiger Gegenwind
Über das Vorgehen, nicht in die Nominierung der aktuellen Kandidat:innen eingebunden gewesen zu sein, äußerte allen voran die italienische Premierministerin und Vorsitzende der EKR-Fraktion (Konservative und Reformisten), Giorgia Meloni, lautstark Kritik. Angesichts ihres Stimmengewinns hätte sie sich eine entsprechende Anerkennung erwartet. Im EU-Rat enthielt sie sich bei der Wahl von der Leyens. Das kann durchaus als strategisches Kalkül gewertet werden, zumal sich beide Politikerinnen in den letzten Monaten mit gemeinsamen Auslandsreisen und Positionen in der EU-Migrationspolitik einander angenähert hatten. Bei der Wahl von Costa und Kallas gehörte Meloni jedoch zu jenen Staatschef:innen, die dagegenstimmten. Der Nominierung selbst tat dies keinen Abbruch, weil die erforderliche Mehrheit (ohne Einstimmigkeitsprinzip) erreicht war.
Klare Kante notwendig
Für die Bestätigung aller Besetzungen benötigt von der Leyen also eine breite Mehrheit im Parlament. Was bereits vor den Wahlen von den liberaldemokratischen Fraktionen S&D, Renew und EFA befürchtet wurde, scheint in greifbare Nähe gerückt zu sein: dass sich nämlich von der Leyen auch Unterstützung von rechtspopulistischen Parteien holen könnte, allen voran von Giorgia Melonis Fratelli d’Italia. Alle drei Fraktionen fordern daher von der noch amtsausübenden Kommissionspräsidentin, sich im EU-Parlament klar von antidemokratischen Kräften abzugrenzen. Andernfalls könnte sie wiederum deren Unterstützung verlieren. Hier ist es neben Renew vor allem die EFA, die als noch nicht fixe Partnerin Druck ausübt. Sie könnte den Vorsitz im Kulturausschuss (CULT) bekommen. Umgekehrt wird nicht von allen EVP-Mitgliedern eine Zusammenarbeit mit den Grünen befürwortet.
Was jetzt ansteht
Der bisherige Cordon Sanitaire im EU-Parlament, nämlich der Ausschluss antieuropäischer Kräfte aus wichtigen Entscheidungsprozessen, könnte schlimmstenfalls auf der Kippe stehen. Umso wichtiger erscheint die Abgrenzung von antieuropäischen Kräften. Diese sind zwar durch Zerwürfnisse und Parteiausschlüsse zum Teil zutiefst zersplittert. Die im Juli neu formierte (und in Wien ausgerufene) Fraktion „Patrioten für Europa“ (PfE) bildet jetzt die drittstärkste Fraktion im EU-Parlament, vor der rechtskonservativen EKR an vierter und der liberalen Renew Group an fünfter Stelle. Nahezu alle Mitglieder der zuvor aufgelösten „Identität und Demokratie“-Fraktion (ID) sind dieser neuen Fraktion beigetreten. Neben den Gründungsparteien FPÖ, Fidesz und der tschechischen ANO (zuvor bei Renew) gehören u.a. die italienische Lega, der französische Rassemblement National und die spanische VOX dazu. Die zuvor aus der ID ausgeschlossene deutsche AfD hat unterdessen mit acht weiteren Parteien die Fraktion „Europa Souveräner Nationen“ (ESN) formiert. Die extreme Rechte wird erwartungsgemäß ebenfalls EU-Spitzenpositionen beanspruchen und insgesamt die proeuropäische Arbeit und wichtige Reformen für ein gestärktes gemeinsames Europa massiv erschweren. Es bleibt also nicht viel Zeit, um die proeuropäischen Netzwerke zu stärken.