Nationalfeiertag à la Orbán
Im Oktober feiert nicht nur Österreich seinen Nationalfeiertag. Auch Ungarn tut dies jedes Jahr am 23. des Monats. Heuer ist allerdings dessen ursprüngliche Bedeutung vom ungarischen Premier Viktor Orbán völlig verdreht worden. Womöglich aus Torschlusspanik.
Nationalfeiertage haben als gesetzlich festgeschriebene Daten die Aufgabe, im eigenen Staat an wichtige historische Ereignisse zu erinnern. Sie sind somit ein wichtiger Teil der nationalen Erinnerungskultur, was man in Österreich jedes Jahr am 26. Oktober miterleben kann: Sei es der allseits beliebte Besuch beim Bundespräsidenten in der Hofburg oder die Bundesheerschau am Ballhausplatz. In unserem Nachbarland Ungarn hat aber der 23. Oktober heuer eine völlige Umdeutung erfahren.
Geschichtsrevision à la carte
Inmitten der eigenen EU-Ratspräsidentschaft hat der ungarische Premier Viktor Orbán bei der üblichen Ansprache zum Jahrestag des ungarischen Volksaufstands 1956 zum neuerlichen Aufstand aufgerufen – diesmal gegen Brüssel anstatt Moskau. Am 23. Oktober 1956 breitete sich der friedliche Studierendenprotest gegen die sowjetische Fremdherrschaft landesweit aus. Immer mehr Menschen schlossen sich diesem Protest an und forderten am 31. Oktober den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt. Der demokratische Höhenflug sollte allerdings nur von kurzer Dauer bleiben, denn schon bald folgte auf Befehl Moskaus der Einmarsch der Roten Armee in Ungarn und die brutale Niederschlagung des friedlichen Protests am 4. November 1956. Die Folge: Fast 3.000 Tote, 20.000 Verletzte und 200.000 Flüchtlinge, unter ihnen auch der mittlerweile renommierte Osteuropaexperte Paul Lendvai. In seiner Festrede verdrehte Orbán die Tatsachen aber völlig mit den Worten:
„Hier stellt sich wieder die alte Frage: Beugen wir uns dem Willen einer fremden Macht, diesmal aus Brüssel, oder widersetzen wir uns ihr?“
Ungerechtfertigte Hetze gegen Brüssel
Ganz nach dem üblichen populistischen Strickmuster schürte Orbán Ängste vor Immigration, sogenannten Gender-Ideologien und vor der falschen Behauptung, dass Brüssel Ungarn zu einem „Marionettenstaat“ machen wolle. Allein die Wortwahl lässt Assoziationen an den Zweiten Weltkrieg und jetzt an Putins Propaganda hochkommen, wenn von einer „Entnazifizierung“ der Ukraine gesprochen wird, um den Angriffskrieg gegen das Land zu legitimieren. Mit einer derart drastischen Wortwahl dürfte sich Orbán im Nachhinein bei der wiedergewählten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen revanchiert haben. Anfang Oktober hatten sich beide im EU-Parlament in Straßburg eine hitzige Debatte zu Migration, Wirtschaft und Ukraine-Hilfen geliefert, mit bisher ungewohnt heftiger Kritik aneinander. Eigentlich hätte Orbán hier die ungarische EU-Ratspräsidentschaft präsentieren sollen. Ursula von der Leyen hatte nämlich die Widersprüchlichkeiten in Orbáns Rhetorik und Handeln aufgedeckt. Mit den folgenden Worten dürfte sie den ungarischen Premier ins Mark getroffen und diesem scheinbar die Idee zur eigenen Geschichtsrevision gegeben haben:
„Ich möchte Sie fragen: Würden Sie jemals die Ungarn für die sowjetische Invasion von 1956 verantwortlich machen? Oder die Tschechen und Slowaken für die sowjetische Unterdrückung von 1968?“
Hoffnung auf die ungarische Opposition
Bei ebendieser EU-Parlamentssitzung in Straßburg stieß Orbán auch auf seinen bisher größten innenpolitischen Kontrahenten, Péter Magyar von der rechtskonservativen Partei Tisza, mittlerweile Mitglied der EVP-Fraktion – also jener Fraktion, aus der Orbán selbst unter Druck 2021 ausgetreten war. Magyar ist seit den vergangenen Europawahlen EU-Abgeordneter und liegt gemäß den letzten Meinungsumfragen vor dem ungarischen Premier. Seit Monaten mobilisiert der einstige Mitarbeiter des Orbán-Regimes zu Protesten gegen Korruption und Gesetzesbruch. So versammelten sich nach seinem Aufruf Anfang Oktober Tausende in Budapest, um gegen die staatliche Kontrolle von öffentlich-rechtlichen Medien zu protestieren. Magyar spricht hier insbesondere die junge, urbane Bevölkerung in Ungarn an und gibt dieser Hoffnung für einen Regierungswechsel bei den nächsten Parlamentswahlen 2026. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Orbán mit allen Mitteln, so auch der Geschichtsrevision, gegen die seinerseits unliebsame Opposition anzukämpfen versucht. Denn zeitgleich zu seiner Kundgebung gedachte auch Magyar des Ungarnaufstands 1956 mit 10.000 Anhänger:innen – und gegen den Autokraten selbst.
Durchwachsene Zeiten fürs EU-Parlament
Auch wenn Magyar als Hoffnungsträger für das ersehnte Ende der Orbán-Herrschaft gesehen wird, so bleibt er selbst nach wie vor rechtskonservativ in seiner proeuropäischen Haltung. In vielen Punkten verfolgt er klare EU-Interessen und das Ziel, die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn wiederherzustellen, außerdem liberale Demokratie, freie Medien, Pluralismus und die LGBTIQ+-Community zu unterstützen.
Nicht zuletzt geht es hier auch um die Lockerung der bisher eingefrorenen EU-Zahlungen an Ungarn. In der Hilfe für die Ukraine ist Magyar allerdings gegen die Lieferung von Waffen. Und auch hinsichtlich internationaler Handelsbeziehungen stimmt er nicht den beschlossenen Strafzöllen gegenüber China zu. Alles in allem verfolgt Magyar einen proeuropäischen Kurs, jedoch unter Beibehaltung der nationalen Grenzen, das heißt: keine Rede von stärkerer EU-Integration. Genau das dürfte auch viele seiner Unterstützer:innen in Ungarn gefallen, was umgekehrt in der EVP und weiters im EU-Parlament für einen raueren Ton sorgen könnte. Schließlich sitzen seit dem letzten Juni deutlich mehr euroskeptische Abgeordnete im EU-Parlament, was auch in Zukunft hitzige Debatten zu den großen Themen wie europäische Wettbewerbsfähigkeit, Migration, Sicherheit und Kriege in Europa und im Nahen Osten erwarten lässt. Der unrühmlichen ungarischen EU-Ratspräsidentschaft wird ab Jänner 2025 die polnische folgen, unter Premier Donald Tusk, einst glühender EU-Politiker, heute Wächter der liberaldemokratischen Mehrheit im eigenen Land. Wahrscheinlich ein – nationales – Vorzeichen für die kommenden Jahre in Europa.