Todkranke Gerichtsmedizin
Es ist selten erbaulich, über den Tod nachzudenken. Beim Thema Gerichtsmedizin wird das nicht unbedingt leichter – ungeklärte Todesfälle, Mordverdacht, die Untersuchung von Wunden, um Fremdeinwirkung auszuschließen oder zu bestätigen. Doch ebendiese Aufzählung zeigt auch, wie wichtig die Fachärzt:innen in diesem Feld sind. Gerade in Anbetracht der Relevanz der Gerichtsmedizin ist es alarmierend, dass die Anzahl der Obduktionen und der Ärzt:innen immer weiter zurückgeht. Wieso hat die Gerichtsmedizin so ein Rekrutierungsproblem, und welche Folgen kann das haben?
Immer weniger Obduktionen
Wurden 2004 noch 16.747 Obduktionen durchgeführt, waren es 2022 laut Statistik Austria nur noch 6.821. Nicht alle Obduktionen werden aus demselben Grund durchgeführt und von derselben Stelle angeordnet: Der Anteil der gerichtlich angeordneten Obduktionen, also bei Mordverdacht, liegt dabei bei circa 17 Prozent. Sie werden von der Staatsanwaltschaft beauftragt und von Gerichtsmediziner:innen durchgeführt. Die sanitätsbehördlichen Obduktionen, wenn eine Gesundheitsbehörde eine Todesursache ermitteln will, können je nach Bundesland neben Gerichtsmediziner:innen auch von Patholog:innen durchgeführt werden. Der dominierende Anteil von 68 Prozent an klinischen Obduktionen obliegt ausschließlich den Patholog:innen und dient beispielsweise der Suche nach der Todesursache, wenn ein:e Patient:in im Krankenhaus verstirbt. Oft geht es bei diesen Untersuchungen darum, nach einer Operation einen Kunstfehler auszuschließen.
Die größte Faszination geht aber klarerweise von den gerichtlichen Obduktionen aus. Zwar geht auch die Anzahl der Mordfälle in Österreich zurück und es gibt kaum Morde mit unbekannten Tätern, aber: Wer Tote nicht anschaut, kann nicht sagen, ob sie auf natürliche Weise gestorben sind. Allerdings müsste es dazu natürlich einen Anfangsverdacht geben, daher weiß niemand, inwiefern der Mangel an Gerichtsmediziner:innen tatsächlich zu unentdeckten Morden führen könnte.
Unerkannte Morde und alleingelassene Gewaltopfer
Das sagt zumindest der Präsident der Gesellschaft für Gerichtliche Medizin, Walter Rabl vom Institut für Gerichtliche Medizin in Innsbruck. Er geht davon aus, dass jeder dritte Mord unentdeckt bleiben könnte, weil er als scheinbar natürlicher Todesfall qualifiziert wird.
In Österreich werden nach Angaben der ÖGGM nur 1 bis 2 Prozent aller Verstorbenen einer gerichtlichen Obduktion zugeführt, das ist weit unter dem internationalen Standard. Die Zahl der gerichtlichen Obduktionen ist im Unterschied zu den anderen beiden Kategorien relativ stabil rund um 1.200 geblieben – doch angesichts der höheren Zahl an Verstorbenen jedes Jahr wird der Anteil an gerichtlichen Leichenöffnungen immer kleiner – 2004 standen allen Obduktionen 57.545 Verstorbene ohne Obduktion gegenüber, 2022 waren es 86.511.
Weniger Informationen gibt es über die lebenden Opfer, die auf Gerichtsmediziner:innen angewiesen sind. Beispielsweise Opfer häuslicher Gewalt. Jeder kennt wohl zumindest aus Filmen die „Es war eine Tür“-Ausrede für das blaue Auge, doch auch in Wirklichkeit brauchen Opfer von Gewalt oder Vergewaltigungen genau in solchen Situationen Fachärzt:innen, die Fremdeinwirkung bestätigen können. Damit es in Zukunft häufiger zu tatsächlichen Anzeigen und in Folge auch Verurteilungen kommen kann, sollen zum Opferschutz in ganz Österreich Gewaltambulanzen eröffnet werden.
Ein nachweisbarer Ärztemangel
Diese Gewaltambulanzen sind aber de facto kaum umsetzbar, geschweige denn, dass dies in absehbarer Zeit passieren könnte. Denn in ganz Österreich gibt es lediglich 27 Gerichtsmediziner:innen, und von diesen ist die Hälfte bereits älter als 60 Jahre.
Zugegebenermaßen ist dies nur für die Gewaltambulanzen ein Problem, die Tätigkeit für Gerichte wird meist von selbstständigen Sachverständigen durchgeführt. Das ist in der jetzigen Situation zwar praktisch, weil es für Selbstständige kein Pensionsantrittsalter gibt. Gleichzeitig ist genau dieser selbstständige Tätigkeit potenziell einer der Gründe, warum es so wenige Gerichtsmediziner:innen gibt. Denn nach sechs Jahren Medizinstudium und sechs Jahren Facharztausbildung braucht es weitere fünf Jahre Berufserfahrung, bis man sich als Sachverständige:r eintragen und damit für Gerichte tätig werden kann.
Das erste Nadelöhr für Gerichtsmedizin ist klarerweise der Aspekt, dass der Beruf eben mit Toten in Verbindung gebracht wird und daher nicht sonderlich attraktiv wirkt. Zusätzlich gibt es nur wenige Ausbildungsstellen, immerhin gibt es nur vier Institute für Gerichtsmedizin in Österreich, und wie viele tatsächliche Ausbildungsstellen es gibt, weiß niemand. Denn die Verteilung und Steuerung von Ausbildungsstellen liegt lediglich bei den Krankenhausbetreibern. Genau diese mangelnde Steuerung der Ausbildungsstellen ist in vielen Fachrichtungen der Grund für einen Mangel, und die Gesellschaft für Gerichtsmedizin (ÖGGM) kritisiert diesen Mangel seit Jahren.
Unattraktive Arbeitsbedingungen
Wobei die Kritikpunkte der ÖGGM seit Jahren gleich klingen. Auch die Einnahmemöglichkeiten werden kritisiert, der Mangel an Personal und die schlechte Arbeitsausstattung. So fehlen an manchen Instituten die notwendigen Labors, wer selbstständig arbeitet, wird vom Gericht vergütet.
Denn wer in der Gerichtsmedizin ist, wird eben von Staatsanwaltschaften beauftragt und arbeitet damit nach dem Gebührenanspruchsgesetz. Eine einfache Obduktion wird mit einer Pauschale von rund 100 Euro gleichgesetzt, Selbstständige müssen sich allerdings auch noch einen Raum für die Obduktion mieten. Von attraktiven Arbeitsbedingungen kann also kaum die Rede sein. Will man das ändern, müsste es aber gleich auf mehreren Ebenen zu großen Änderungen kommen. Die Universitätskrankenhäuser, an denen es noch eine Gerichtsmedizin gibt, müssten (rasch) versuchen, möglichst viele Ärzt:innen auszubilden. Laut einer Anfragebeantwortung hat das Bildungsministerium den Universitäten für 2022 bis 2024 mehr Geld zur Aufstockung der Gerichtsmedizin zur Verfügung gestellt – wie dieses verwendet wird, kann aber nicht gesagt werden.
Im Arbeitsalltag kann gerade die Notwendigkeit von Gewaltambulanzen nach dem Abschluss den Job attraktiver machen, immerhin können Gerichtsmediziner:innen eine relevante Rolle spielen, damit Opfern zumindest Gerechtigkeit widerfahren kann. Zusätzlich würden über Gewaltambulanzen Stellen mit regulären Anstellungsverhältnissen geschaffen.
Damit Gewaltschutz in Österreich verbessert werden kann, braucht es also eine radikale Aufstockung des Personals. Denn abseits der unentdeckten Morde kann der Mangel an Gerichtsmedizin auch zu weiteren Toten führen. Opferschutz bedeutet oft auch, dass Betroffene aus einem gefährlichen Umfeld geholt werden. Oder Kindern eine Chance auf ein gesundes und sicheres Leben zu ermöglichen. Denn gerade bei Gewalt an Kindern kommt es viel zu selten zu Verfahren und Urteilen, wie Studien zeigen. Infolgedessen ist die marode Gerichtsmedizin in Österreich nicht nur eine Frage der Toten, sondern schlimmstenfalls auch eine Frage von Leben und Tod.