Wahlen in Serbien 2023 – alles andere als demokratisch
Die serbischen Wahlen vom 17. Dezember 2023 sind in vielerlei Hinsicht besorgniserregend. Bei den vorgezogenen und zeitgleich stattfindenden Parlamentswahlen, Kommunalwahlen in Belgrad sowie weiteren 64 Städten und Regionalwahlen in der Provinz Vojvodina konnte die regierende SNS unter Aleksandar Vučić ihre Mehrheit und damit Macht zementieren. Und das bei einer Wahlbeteiligung von 59,3 Prozent.
Angetreten waren 18 Wahllisten mit insgesamt 2.817 Kandidat:innen. Angesichts der allumfassenden Medienpräsenz der Regierungspartei SNS und vor allem des serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić erscheint das nicht verwunderlich. Denn laut der von November bis Dezember 2023 durchgeführten Medienanalyse des Belgrader Forschungsinstituts BIRODI (Bureau for Social Research) berichteten die öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalt RTS genauso wie die vorwiegend regimetreuen privatrechtlichen Sender mehrheitlich über den serbischen Präsidenten (zu 37 Prozent) und das fast ausschließlich positiv (zu 88 Prozent).
„Die Integrität der Wahlen ist vernichtet“, wie der Gründer und Direktor von BIRODI, Zoran Gavrilović, die Wahlkampagnen und -ergebnisse zusammenfasst. Schließlich wurden die angetretenen Oppositionsparteien entweder totgeschwiegen oder öffentlich denunziert. „Das waren keine Wahlen, sondern ein Referendum zu Vučićs persönlicher Macht“, so Gavrilović weiter.
Serie an Verfassungsbrüchen
Obwohl die Verfassung der Republik Serbien vorwiegend repräsentative Funktionen für das Präsidentenamt vorsieht, hat sich Vučić auch in diese Wahlen eingemischt und laufend Verfassungsbrüche begangen. Laut Artikel 115 der serbischen Verfassung darf der:die Präsidentent:in neben dem Amt „keine andere öffentliche Funktion oder berufliche Tätigkeit“ ausüben. Vučić hat sich stattdessen auf die Wahlliste stellen lassen, mit dem Slogan „Aleksandar Vučić – Serbien darf nicht stehen bleiben“. Und das, obwohl er selbst nicht einmal Spitzenkandidat ist.
Auch das serbische Parlament hat einen Verfassungsbruch begangen, weil es nicht seiner Pflicht nachgekommen ist – wie in Artikel 118 festgelegt –, den Präsidenten infolge eines derartigen Fehlverhaltens mit einer Zweidrittelmehrheit abzusetzen. So konnte Vučić, obwohl illegal, ungehindert die öffentliche Meinung bestimmen und die Wahlen letztlich gewinnen. Auch mithilfe der Wahlberechtigten aus der Republika Srpska: Mit Bussen wurden diese nach Belgrad gebracht, um wählen zu gehen. In den vorangegangenen Monaten wurden sie laut Gavrilović unter Angabe fiktiver Adressen in Serbien eingebürgert.
Da, abgesehen davon, zahlreiche Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen verzeichnet wurden, hat die zweitstärkste Wahlliste, die oppositionelle SPN („Srbija protiv Nasilja“/„Serbien gegen Gewalt“) bereits angekündigt, die Wahlen in Belgrad „mit allen zur Verfügung stehenden demokratischen Mitteln“ anzufechten. Nachdem sich das nicht nur auf Belgrad beschränkt hat, wird in Fachkreisen sogar die Anfechtung der Parlamentswahlen erwartet.
Im Geflecht von Manipulation und Gewalt
„Noch nie war es so schlimm“, resümmiert Asha Vidanović, langjährige Vertreterin der Zivilgesellschaft in Serbien, die aktuelle Situation: „Dieses Jahr ist in vielerlei Hinsicht schrecklich, weil es eine tiefe gesellschaftliche Kriminalisierung, Korruption und Mythomanie zutage gebracht hat.“ Denn anstelle eines gesamtgesellschaftlichen Innehaltens nach den Attentaten im Mai 2023 seien die gegenseitigen Anfeindungen und Aggressionen im Alltag und vor allem in den sozialen Medien noch schlimmer geworden.
„Allein in diesem Jahr hatten wir 28 Femizide. Wenn die Opfer der beiden Attentate im Mai dazu gezählt werden, sind es schon 50 Menschen, die ihr Leben auf brutale Weise verloren haben“, so Vidanović weiter, die eine Normalisierung der Kriminalität und Korruption im Land kritisiert. Sie bemängelt weiters die desaströse Menschenrechtssituation im Land – unter Verweis auf die serbische Premierministerin: „Ana Brnabić wohnt in einer Lebensgemeinschaft mit ihrer Partnerin und ihrem gemeinsamen Kind in der einstigen Villa von Jovanka Broz (Anm.: Titos Witwe), was nach geltendem Gesetz illegal wäre. Zugleich hat sie rein gar nichts zur Verbesserung der Menschenrechtssituation der LGBTIQ+-Community im Land getan.”
Die einzig „richtige Antwort“ auf die Vučić-Kampagne biete daher die oppositionelle Wahlliste SPN („Serbien gegen Gewalt“). „Denn nach all den schrecklichen Ereignissen ist es Zeit, sich als Gesellschaft zu hinterfragen, nämlich wie das alles möglich war, und Reformen anzusetzen“, so Vidanović.
Unterdrückung der liberaldemokratischen Opposition
Auch Jelka Jovanović, eine langjährige Journalistin und Redakteurin des oppositionellen Wochenmagazins Novi Magazin, konstatiert, dass nach den Kriegen der 1990er Jahre und der staatlichen bzw. regimetreuen Propagandamaschinerie der Bevölkerungsmehrheit eine „Kultur der Empathie“ fehle. Die Ursachen dafür sieht sie insbesondere in der Gewaltverherrlichung regimetreuer Medien und sozialer Netzwerke, gegen die sich ja die landesweiten Proteste nach den Attentaten im Mai gerichtet haben und deretwegen Neuwahlen gefordert wurden.
Obwohl jetzt die Enttäuschung unter der liberaldemokratischen Opposition groß ist und die SPN diese auch anfechten wird, ist das Wahlergebnis dennoch beachtlich. Vor dem Hintergrund, dass von regimetreuer Seite mit Manipulation, Korruption und Repression alles daran gesetzt wurde, einen oppositionellen Wahlsieg zu verhindern und selbst die Absolute zu erreichen, schaffte die SPN trotz asymmetrischer Reichweite, so Jovanović, aus dem Stand den Einzug ins Parlament. Denn seit mehr als zehn Jahren werden Oppositionelle und Vertreter:innen zivilgesellschaftlicher Organisationen von der Geheimpolizei widerrechtlich ausspioniert und daraufhin öffentlich denunziert.
Das zeigte übrigens auch die jüngste Affäre rund um ein intimes Video eines liberaldemokratischen Oppositionspolitikers, das Vučić im Privatfernsehen zunächst kryptisch ankündigte, bevor es entgegen bestehender Gesetze zu Pornographie im öffentlichen Fernsehen ausgestrahlt wurde. Der Oppositionspolitiker meldete sich ebenfalls über soziale Medien zu Wort und erklärte, rechtlich dagegen vorzugehen, weil er den serbischen Geheimdienst BIA dahinter vermutete. Vor eineinhalb Jahren war man in seine Wohnung eingebrochen und hätte Computer sowie Speichermedien gestohlen. Seine damalige Anzeige sei ergebnislos geblieben.
Ein schwerer Vorwurf: dass nämlich jene staatlichen Institutionen, die laut Gesetz bürgerliche Rechte und Medienfreiheit schützen und umgekehrt rechtswidriges Verhalten unter Medien sanktionieren sollen, ihre Arbeit schlicht nicht tun – und das trotz eindeutiger Beweislage.
Drohende internationale Isolation
Die aktuelle Situation weckt Assoziationen an die 1990er Jahre. Die Zivilgesellschaft ist nach wie vor stark und hat eine lange Tradition, wie Vidanović und Jovanović gleichermaßen betonen. „Was ihr heute fehlt“, so Vidanović, „sind die starken internationalen Verbündeten, Netzwerke und vor allem finanzielle Mittel. In diesem Sinn wird die Zivilgesellschaft ebenso wie die freie Marktwirtschaft buchstäblich ausgehungert.“
Jovanović sieht die EU gefordert, Qualitätsmedien zu unterstützen: „Derzeit liegt der Fokus auf Projekten zur Stärkung von Medienkompetenz. Vergessen wird aber, dass regierungsunabhängige Journalisten unter großem, persönlichem Engagement wichtige Aufklärungsarbeit leisten und gegen Desinformation vorgehen.“ Und schließlich:
„EU-Vertreter sollten nicht mehr vor der innenpolitischen Situation in Serbien beide Augen verschließen, nur weil Vučić außenpolitisch allen EU-Forderungen – zumindest offiziell – nachkommt. Sie müssen endlich erkennen, dass er kein ehrliches Interesse an einem EU-Beitritt hat, sondern nur an seinem persönlichen Machterhalt.“
Der Grund, warum die ehemalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel Vučićs eigentlich proeuropäischen Vorgänger Boris Tadić nicht mehr unterstützt habe, war laut Jovanović ein Versprechen, das dieser nicht geben wollte, Vučić aber schon: die staatliche Unabhängigkeit des Kosovos anzuerkennen. Diese Doppelzüngigkeit müsse man sich endlich als solche eingestehen und jene Kräfte in Serbien unterstützen, die ehrlich für einen EU-Beitritt einstehen.
Eine für die Liberalisierung der öffentlichen Meinung in Zukunft interessante Rolle könnte die neue zivilgesellschaftliche Initiative „ProGlas“ spielen, die sich schon während der Wahlkampagnen – trotz aller Zensurmaßnahmen – breitenwirksam für ein Ende von Vučićs Herrschaft eingesetzt hat.