Was der Haftbefehl gegen Wladimir Putin bedeutet
Der Internationale Strafgerichtshof hat einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin ausgesprochen. Das BRICS-Treffen, zu dem auch er eingeladen ist, wirft einige rechtliche Fragen auf – nämlich ob, aber auch unter welchen Umständen, er wirklich verhaftet werden könnte.
Am 17. März 2023 hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlassen. Ihm wird die strafrechtliche Verantwortlichkeit für die Deportation tausender Kinder – vor allem Waisen – aus besetzten ukrainischen Gebieten auf russisches Staatsgebiet vorgeworfen.
Dieser Haftbefehl ist ein deutliches Symbol, denn eine Anklage gegen einen Staatspräsidenten ohne Mitwirkung des UN-Sicherheitsrats gab es noch nie. Umstritten ist aber, unter welchen Umständen Putin wirklich verhaftet werden dürfte. Gehen wir die wichtigsten Fragen durch.
1. Für wen gilt der Internationale Strafgerichtshof?
Vorweg: Weder Russland noch die Ukraine sind Vertragsparteien des Römischen Status, der vertraglichen Grundlage des Internationalen Strafgerichtshofs. Das ist schon das erste Hindernis für den IStGH: Der kann nämlich nur zuständig sein, wenn die betroffene Person die Staatsangehörigkeit eines Vertragsstaats besitzt oder das gegenständliche Verbrechen auf dem Territorium eines Vertragsstaats begangen wurde.
Die Ukraine hat aber im September 2015 eine Erklärung abgegeben, mit der sie die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen anerkennt, die seit dem 20. Februar 2014 auf ihrem Hoheitsgebiet verübt wurden. Die Erklärung wurde anlässlich der Besetzung der Krim und des bewaffneten Konflikts in der Ostukraine abgegeben und gilt unbefristet – also auch für Verbrechen, die heute oder in Zukunft begangen werden.
Aufgrund dieser Erklärung konnte der IStGH im März 2022 Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord aufnehmen. Er verlautbarte, dass es aufgrund dieser Ermittlungen einen begründeten Verdacht gibt, dass Putin für die Verschleppungen verantwortlich ist – und erließ einen Haftbefehl gegen ihn. Das Problem dabei ist nur: Der Gerichtshof kann keine Verfahren in Abwesenheit führen. Für eine allfällige Verurteilung Putins wären also sowohl seine Verhaftung als auch eine Überstellung nach Den Haag notwendig.
Im August 2023 wird in Südafrika der Gipfel der BRICS-Staaten stattfinden, also das Treffen von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, zu dem die Regierungschefs dieser fünf Staaten – also auch Putin – persönlich eingeladen wurden. Nun stellt sich die Frage, was der Haftbefehl für diese Auslandsreise von Putin bedeuten könnte.
2. Könnte Putin dadurch tatsächlich verhaftet werden?
Da der IStGH selbst keine Polizeiorgane hat, um die Verhaftung durchzuführen, ist er beim Vollzug des Haftbefehls auf die Kooperation seiner Vertragsstaaten angewiesen. Alle 123 Vertragsstaaten des Römischen Status sind grundsätzlich verpflichtet, Putin festzunehmen und an den IStGH in Den Haag zu übermitteln, wenn er ihr Territorium betritt.
Aber die Tatsache, dass Putin aktuell ein Amt als Regierungschef ausübt und damit Immunität genießt, hindert den IStGH laut Art 27 des Römischen Statuts ausdrücklich nicht an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit:
„Immunitäten oder besondere Verfahrensregeln, die nach innerstaatlichem Recht oder nach dem Völkerrecht mit der amtlichen Eigenschaft einer Person verbunden sind, hindern den Gerichtshof nicht an der Ausübung seiner Gerichtsbarkeit über eine solche Person.“
Damit steht einer Verhaftung und Anklage Putins vor dem IStGH auf den ersten Blick nichts mehr im Wege. Allerdings verbietet es Artikel 98 desselben Statuts dem IStGH, ein Überstellungsersuchen zu stellen, das vom ersuchten Staat verlangen würde, in Bezug auf die Staatenimmunität oder die diplomatische Immunität einer Person entgegen seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen zu handeln.
Hier wird es nun kompliziert. Denn es ist völkerrechtlich umstritten, ob eine Festnahmepflicht der Mitgliedstaaten besteht, wenn ein Haftbefehl gegen das Staatsoberhaupt eines Nicht-Mitgliedstaats vorliegt – wie eben im Fall Putin.
3. Was hat es mit der „völkerrechtlichen Immunität“ auf sich?
Die Befugnis eines Gerichts, in einem konkreten Fall zu entscheiden – die Gerichtsbarkeit – besteht nicht, wenn eine Person Immunität genießt. Gegen sie dürfen also keine Prozesse geführt werden, weil die Immunität ein Verfahrenshindernis ist – die Immunität von der Gerichtsbarkeit gehört zu den klassischen Rechtsinstrumenten des Völkerrechts. Der Ursprung der Bestimmung, dass Staaten und ihre Repräsentant:innen nicht der Gerichtsbarkeit anderer Staaten unterliegen sollen, liegt im Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten: Es soll nicht ein Gericht eines Staates über einen anderen urteilen dürfen, par in parem non habet imperium.
Mittlerweile hat sich die Begründung für die Immunität aber gewandelt: Heute wird als Zweck für die Immunität von Staatenvertreter:innen meist die Notwendigkeit ihrer äußeren Handlungs- und Bewegungsfreiheit zur Aufrechterhaltung der internationalen Beziehungen genannt. Personen, die den Staat auf höchster Ebene vertreten, sollen nicht während ihrer Amtszeit bei offiziellen Reisen im Ausland festgenommen und vor Gericht gestellt werden können. Sie sollen ihre Repräsentationsfunktion ungestört ausüben können.
Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister:innen („high-ranking state officials“) genießen während ihrer Amtszeit persönliche Immunität: Das bedeutet, dass sie vor Strafverfolgungen aufgrund ihrer amtlichen und privaten Handlungen geschützt sind. Diese persönliche Immunität ist statusbezogen und fällt daher nach Ende der Amtszeit weg – Ähnliches kennen wir aus Österreich mit der Immunität von Abgeordneten zum Nationalrat, die nach ihrer Zeit im Parlament nicht mehr gilt.
Davon zu unterscheiden ist die funktionelle Immunität: Sie ist handlungsbezogen, umfasst also nur amtliche Tätigkeiten und schützt daher nicht vor Verfolgung wegen Privathandlungen. Funktionelle Immunität genießen sämtliche Funktionsträger:innen des Staates: Minister:innen, Polizist:innen, Soldat:innen etc. Die funktionelle Immunität wirkt zeitlich unbegrenzt – sie besteht also auch nach Beendigung der Funktion weiter.
4. Gilt Immunität auch im Fall von Völkerrechtsverbrechen?
Der Internationale Gerichtshof (IGH, nicht zu verwechseln mit dem oben genannten IStGH) hat im Jahr 2002 in einem Streit zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Belgien festgehalten, dass persönliche Immunität auch jene Personen schützt, denen vorgeworfen wird, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Die Begründung des IGH: Wer ein Land vertritt, muss handlungsfähig bleiben, im konkreten Fall ging es um die Auslieferung des kongolesischen Außenministers an ein belgisches Gericht. Der IGH ließ in seinem Urteil dezidiert die Frage offen, ob persönliche Immunität auch in Verfahren wegen Völkerrechtsverbrechen vor einem internationalen Strafgericht ein Verfahrenshindernis darstellen würde.
Der IStGH selbst geht davon aus, dass sich bei Völkerrechtsverbrechen sowohl die persönliche als auch die funktionelle Immunität nicht auf Internationale Gerichte erstreckt – Immunitäten gewähren also keinen Schutz vor einer Anklage des IStGH. Die Begründung dafür lautet, dass ein internationales Gericht nicht im Auftrag eines Staates agiere, sondern der internationalen Gemeinschaft als Ganzes diene. Das gilt unumstritten für die 123 Vertragsstaaten des IStGH: Sie haben durch die Ratifikation im Vorhinein auf die zustehenden Immunitäten für ihre eigenen Vertretungen verzichtet.
Jene Staaten, die das Römische Statut nicht ratifiziert haben, sehen das freilich anders: Da der IStGH nicht Teil des UN-Systems ist, kann er sich nicht auf die Unterstützung der gesamten Staatengemeinschaft berufen, sondern seine Kompetenzen nur aus der Vereinbarung seiner Vertragsstaaten ableiten. Russland hat den Haftbefehl des IStGH als „null und nichtig“ bezeichnet und mitgeteilt, dass die Entscheidungen des IStGH für Russland keinerlei Bedeutung haben, da Russland kein Vertragsstaat des Römischen Statuts ist und daher auch keine Verpflichtungen daraus hat.
Es gäbe außerdem noch die Möglichkeit, dass der UN-Sicherheitsrat durch eine Resolution ein Strafverfahren vor dem IStGH initiiert – da Russland selbst in diesem Sicherheitsrat sitzt, ist das aber eher ausgeschlossen. Historisch kam das aber schon vor: 2005 überwies der UN-Sicherheitsrat die Situation in Darfur (Sudan) an den IStGH. Dieser nahm Ermittlungen auf und erließ in weiterer Folge in den Jahren 2009 und 2010 Haftbefehle gegen den sudanesischen Machthaber Omar Al-Bashir: Das war der erste Haftbefehl des IStGH gegen einen amtierenden Präsidenten. Ihm wurde die Verantwortlichkeit für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen vorgeworfen.
Symbolbild, produziert mit Midjourney AI
5. Aber was, wenn die Vertragsstaaten dem Haftbefehl nicht nachkommen?
Omar Al-Bashir reiste in den folgenden Jahren – trotz des aufrechten Haftbefehls – unbehelligt in mindestens 33 Staaten, darunter auch mehrere Vertragsstaaten des IStGH, ohne dort verhaftet zu werden. Im Jahr 2015 ließ Südafrika, ein Vertragsstaat des Römischen Statuts, Al-Bashir einreisen und berief sich zunächst auf „völkerrechtliche Unklarheiten“, ob der Staatschef festgenommen werden könne. Nachdem ein Gericht in Pretoria ein Ausreiseverbot verhängte und ein Richter die Verhaftung von Omar Al-Bashir anordnete, war es bereits zu spät: Es war ihm trotz des Ausreiseverbots gelungen, Südafrika zu verlassen.
Die südafrikanische Regierung wurde damals heftig dafür kritisiert, dass sie mit der Erlaubnis für den Flug nicht nur internationale Verpflichtungen verletzt, sondern auch die eigenen Gerichte missachtet hat.
Gegen Südafrika und andere Vertragsstaaten, die Al-Bashir trotz Aufenthalt auf ihrem Staatsgebiet nicht verhaftet haben – Malawi und Jordanien – wurden vom IStGH Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Die drei Staaten argumentierten, dass eine Verhaftung unzulässig sei, da der Sudan das Römische Statut nicht unterzeichnet hatte und es keine Kooperationspflicht der Mitgliedstaaten zu amtierenden Staatsoberhäuptern von Drittstaaten gebe – daran ändere, so die Argumentation, auch der UN-Sicherheitsrat nichts. Die Berufungskammer des IStGH urteilte gegen Jordanien: Die Nicht-Verhaftung stellte eine Verletzung der Kooperationspflicht dar.
Diese Entscheidung ist ein eher vages Urteil, das im Ergebnis keine definitive Antwort auf die Fragen liefern kann, ob Mitgliedstaaten bei einer etwaigen Festnahme die Immunität zu berücksichtigen haben, solange keine Verweisung durch den UN-Sicherheitsrat vorliegt, oder ob sich der Haftbefehl gegen ein amtierendes Staatsoberhaupt eines Nicht-Mitgliedstaats richten kann.
6. Was heißt das alles nun für Putins Südafrika-Besuch?
Der IStGH hat durch diesen Haftbefehl ein sehr richtungsweisendes Signal in einem noch umstrittenen rechtlichen Bereich gesendet hat: einen Festnahmeauftrag gegen einen Staatspräsidenten ohne Beschluss im UN-Sicherheitsrat gab es noch nie.
Welche rechtlichen Folgen der Haftbefehl nach sich ziehen wird, wird sich erst zeigen. Viele Kommentatoren argumentieren, dass die Ausstellung des Haftbefehls zum jetzigen Zeitpunkt nachteilig für Friedensverhandlungen sein könnte, da der Haftbefehl in Russland als „Angriff des Westens“ gesehen wird, der zu einer weiteren Abschottung führt. Außerdem ist die Gefahr hoch, dass es dem Ansehen des Gerichtshofes schadet, wenn eine Person aufgrund schwerwiegender Verbrechen angeklagt ist, aber über Jahre nicht verhaftet werden kann. Auch Al-Bashir wurde bis heute nicht an den IStGH ausgeliefert – obwohl der Haftbefehl nach wie vor aufrecht ist.
Auf der anderen Seite hat der Gerichtshof mit der Ausstellung des Haftbefehls gezeigt, dass der Anspruch besteht, völkerrechtliche Verbrechen bis zur höchsten Ebene zu verfolgen. Sollte das langfristig zu einer Weiterentwicklung des Völkerrechts hin zu einer höheren Verantwortlichkeit von Kriegsverbrecher:innen führen, wäre das zu begrüßen. In jedem Fall ist die detaillierte Dokumentation und Aufarbeitung von Kriegsverbrechen ein wertvoller und wichtiger Beitrag für die Opfer und deren Angehörige.
7. Was passiert jetzt politisch?
Angesichts der Tatsache, dass Südafrika auch im Fall Al-Bashir – trotz Vorliegens eines UN-Sicherheitsratsbeschlusses – dem Festnahmeauftrag nicht nachgekommen ist und der geopolitische Einfluss des Sudans nicht vergleichbar mit dem Russlands ist, kann wohl aktuell davon ausgegangen werden, dass Putin in Südafrika nicht verhaftet werden würde.
Dazu kommt die politische Ebene: Im Ukraine-Krieg hat Südafrika offiziell eine neutrale Position eingenommen und sich bei allen Verurteilungen des russischen Überfalls in der UN-Vollversammlung enthalten. Erst vor kurzem besuchte der südafrikanische Präsident Cyril Ramaphosa im Rahmen einer „Friedensmission“ mit anderen afrikanischen Staats- und Regierungschefs auch St. Petersburg. Insofern ist der Status quo, der diese Woche bekannt wurde, auch die bequemste Lösung: Wladimir Putin hat angekündigt, nicht am BRICS-Gipfel teilzunehmen. So bleibt die Auslieferung eine theoretische Frage. Zumindest vorerst.