Wie der Klimawandel Österreichs Grenzen verschiebt
Das ewige Eis der Gletscher und Schneefelder in den Alpen ist bei weitem nicht so ewig, wie man vermuten würde. Im Winter 2020/2021 gingen Österreichs Gletscher durchschnittlich um elf Meter zurück. Seit 1960 gab es nur sechs Jahre, in denen die Gletscher Österreichs wuchsen oder stationär blieben. Neben den massiven Sicherheitsrisiken durch den Rückzug der Gletscher und der Destabilisierung des Gesteins sowie der ökologischen Folgen führt die Gletscherschmelze noch zu einem weiteren Faktum: Österreichs Grenzen schmelzen weg.
Österreichs Grenzen zu Italien verlaufen im Hochgebirge, definiert seit dem Friedensvertrag von Saint Germain 1919. Darin wurde definiert, dass die Grenze entlang der Wasserscheide zwischen jenen Flüssen, die ins Schwarze Meer entwässern, und jenen Flüssen, die ins Mittelmeer fließen, festgemacht wird. Allerdings gibt es ein paar wenige Ausnahmen, etwa das Toblacher Feld in Südtirol, auf dem die Drau entspringt, die in die Donau mündet. Und auch das Kanaltal ist ein Beispiel, dort entspringt die Gailitz am Niveasattel, sie fließt dann an Tarvisio vorbei nach Norden und mündet bei Arnoldstein in Kärnten in die Gail.
Das große Problem ist allerdings, dass viele Grenzen über mit Gletschern bedeckte Hänge oder Gipfel verlaufen – und eben jene Gletscher wandeln sich und schrumpfen. Das kann den Scheitel der Wasserscheide verschieben und damit den vertraglich festgesetzten Grenzverlauf.
Der Ötzi und die schmelzende Grenze
Die Änderungen wurden über die Jahrzehnte so groß, dass Österreich und Italien dazu einen internationalen Vertrag abschließen mussten: 2006 wurde das Abkommen zwischen den Nachbarn unterzeichnet. Der Grund dafür: Ötzi.
Nach dem Fund der Gletschermumie war nämlich ein Streit zwischen Italien und Österreich darüber entbrannt, auf welcher Seite der Grenze sich der Fundort befand. Der damals gültige Friedensvertrag von Saint Germain war nämlich zu ungenau. Der damalige Stand des Gletschers und damit der Wasserscheide verschob den Fundort nach Italien, der Fels darunter würde die Wasserscheide anders ziehen – Ötzis Fundort wäre in Österreich.
Mit dem sich beschleunigenden Abschmelzen der Gletscher befürchteten Italien und Österreich, dass in Zukunft Streitfälle, etwa was die Bergung von Bergsteiger:innen angeht, zunehmen würden, wenn es keine verlässliche Neudefinition der Grenzziehung gäbe. Daraufhin wurde der neue „Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Italienischen Republik über die Instandhaltung der Grenzzeichen sowie die Vermessung und Vermarkung der gemeinsamen Staatsgrenze“ ausverhandelt und eben 2006 ratifiziert.
Die neuen, variablen Grenzen
Der Vertrag beinhaltet ein Novum, das dem Klimawandel und seinem Einfluss auf die Gletscher geschuldet ist: variable Grenzen. Denn als Referenzwert wird nicht mehr der unter dem Eis angenommene Scheitel des Felsens verwendet, sondern der Scheitel an der Oberfläche des Gletschers. Damit ändert sich der Grenzverlauf durch die verschiedenen Jahreszeiten und über die Jahre hinweg, je nachdem wie der Gletscher sich entwickelt. Mit dieser Einigung wurde auch ein sonstiges Prinzip von einvernehmlichen Grenzänderungen ausgehebelt – üblicherweise wird darauf Bedacht genommen, dass bei Grenzänderungen keines der beiden betroffenen Länder mehr Fläche erhält als das andere. Das kann bei den variablen Grenzen entlang von Gletschern aber nicht garantiert werden.
Italien hat dasselbe Prinzip auch in Verträgen mit seinen beiden Nachbarn Schweiz und Frankreich festgeschrieben, was zu einem neuen, seit Jahren schwelenden Streit mit der Schweiz führte. Die 1984 erbaute Schutzhütte Rifugio Guide del Cervino in der Nähe des Matterhorns wurde damals klar auf der italienischen Seite des Theodulgletschers erbaut. Nachdem der Gletscher in den vergangenen Jahrzehnten ein Viertel seiner Größe eingebüßt hat, hat sich die Wasserscheide nun aber verschoben. Die Schutzhütte liegt damit jetzt zu zwei Dritteln in der Schweiz. Und die beiden Nachbarn streiten nun auch vor Gericht, denn Italien will trotz des neuen Vertrags nicht auf die Schutzhütte verzichten – ist die Gegend doch touristisch gut erschlossen und lukrativ.
Der Klimawandel lässt die Grenzen verschwimmen
Der Klimawandel, die schmelzenden Gletscher und das nicht mehr sehr ewige „ewige Eis“ hat Folgen für die Nationalstaaten und ihre Grenzen, was wiederum zu Konflikten führen kann. Manchmal ist es so etwas relativ Harmloses wie eine binationale Schutzhütte, doch das Potenzial für grimmigere Streitpunkte ist da. Gebirge sind die Quellgebiete für Flüsse, Wasser wird gerade durch den Klimawandel zu einem rareren Gut, und Dispute über Grenzziehungen in sich wandelnden Gebirgen können schnell existenzbedrohend werden. Das Rifugio Guide del Cervino sollte ein Weckruf sein, diese Fragen klar zu beantworten.
Und Ötzi? Ötzi bleibt Italiener, doch das Abkommen zwischen Italien und Österreich liefert auch da ein Kuriosum. Sein Fundort ist weiterhin während der kalten Monate italienisch, breitet sich der Gletscher doch dann über die Stelle. Im Sommer, wenn der Ort schnee- und eisfrei wird, ist es österreichisches Territorium – der Klimawandel schmilzt die Grenzen.