Wir Visegrád-Mitläufer:innen
Die aktuell hohen Flüchtlingszahlen sind eines der Hauptthemen in der politischen Debatte in Österreich und Europa. Österreich hat Mitte Dezember den Zorn der anderen Mitgliedstaaten auf sich gezogen, nachdem Innenminister Karner die Erweiterung des Schengen-Raums um Rumänien und Bulgarien mit einem Veto blockiert hat, während die Aufnahme Kroatiens gebilligt wurde.
Die Begründung, dass das Schengen-System nicht funktioniere, ist wohl nur ein Ablenkungsmanöver, während die wankende ÖVP vor der Niederösterreich-Wahl Härte im Asylthema zeigen will. Die Gründe dahinter gehen aber weiter zurück, auf die Strategie, die bereits Sebastian Kurz gefahren ist: die schrittweise Annäherung Österreichs an die osteuropäische Visegrád-Gruppe.
Visegrád ist eine inoffizielle Gruppe der EU-Mitgliedstaaten Tschechien, Slowakei, Ungarn und Polen, die sich über ihre Positionen zu politischen Themen und ihrem Stimmverhalten in der Union abstimmen. Besonders in Asylfragen sind die Visegrád-Staaten immer wieder als Bremser größerer Lösungen aufgefallen: Seit der Flüchtlingskrise von 2015 sind es insbesondere diese Staaten, die jeden Schritt hin zu einem gemeinsamen Asylsystem der EU blockieren.
Annäherungsversuche an Visegrád
Und hier gibt es seit 2015 auch eine inhaltliche Überschneidung mit Österreich und dort vor allem mit der ÖVP. Sebastian Kurz und sein Nachfolger Karl Nehammer haben stets ebenfalls ein gemeinsames Asylsystem und eine gemeinschaftliche Aufteilung von Asylwerber:innen abgelehnt – obwohl eine Verteilung auf alle EU-Mitgliedstaaten weniger Flüchtlinge in Österreich bedeuten würde.
Gerade Sebastian Kurz näherte Österreich während seiner Regierungszeit an die Visegrád-Staaten an. Im Jänner 2020 besuchte er einen Visegrád-Gipfel in Prag, um dort „Gräben zu überwinden“. Schon Jahre davor, 2014, sprach der damalige tschechische Präsident Miloš Zeman davon, dass Österreich und Slowenien in die Gruppe aufgenommen werden sollten. Das Interesse aus Sicht der V4, wie sie auch genannt werden, liegt auf der Hand: Vor allem in der türkis-blauen Koalition Kurz I stand Österreichs Regierung für eine rechtspopulistische Politik, die stark auf nationale Interessen setzte. Eine Strategie, die von den Regierungen in Polen, Tschechien und Ungarn ebenso massiv betrieben wird.
Der damalige Innenminister Karl Nehammer ist heute Bundeskanzler und Obmann der ÖVP. Und seine Partei versinkt in Korruptionsermittlungen und einem Umfragetief. Es ist also wenig überraschend, dass Nehammer weiter auf diese Strategie setzt – und hofft, dass sie auch ohne die persönliche Strahlkraft des gefallenen türkisen Hoffnungsträgers funktioniert.
Österreicher:innen und die Frage eines EU-Asylsystems
Die öffentliche Debatte über Flüchtlinge und die EU hat in Österreich seit 2015 im Sinne der Rechtspopulist:innen Früchte getragen. Das beweist das aktuelle Eurobarometer. Die zweimal im Jahr herausgegebene Umfrage über eine Reihe inhaltlicher Fragen wurde das letzte Mal im Sommer 2022 erhoben und kam im Herbst 2022 heraus. 48 Prozent der Österreicher:innen lehnen darin ein gemeinsames europäisches Asylsystem ab, nur 46 Prozent sprechen sich dafür aus.
Damit rangiert Österreich EU-weit auf dem vorletzten Platz bei der Zustimmung zu einem gemeinsamen Asylsystem. Nur Tschechien, ein Visegrád-Land, lehnt diesen Vorschlag noch stärker ab – diese beiden Länder sind auch die einzigen, in der eine relative Mehrheit solch ein System ablehnt. Die Slowakei und Ungarn rangieren ebenfalls im skeptischsten Drittel und damit deutlich schlechter als der EU-weite Schnitt. Nur Polen ist hier ein Ausreißer mit fast drei Viertel der Bevölkerung, die sich für einen gemeinsamen Ansatz aussprechen.
Auf der anderen Seite stehen wenig überraschend jene Länder, die aktuell sehr viele Geflüchtete unterbringen und betreuen müssen: Deutschland, Griechenland, Spanien und auch Italien sind Spitzenreiter oder weit über dem EU-Schnitt.
Österreich würde von einem gemeinsamen EU-Asylsystem profitieren, und es würden nicht weniger Flüchtlinge registriert werden, wenn Rumänien und Bulgarien aufgenommen würden. Wenn Österreich gegen ein osteuropäisches Land vorgehen sollte, um die Anzahl an Geflüchteten zu vermindern, müsste es Ungarn sein. Denn der Großteil der Menschen, die in Österreich aufgegriffen werden, gelangt nicht über Rumänien oder Bulgarien an die burgenländisch-ungarische Grenze, sondern über Serbien und Ungarn. Budapest lässt die Menschen dann ohne Kontrolle weiterziehen. Es wäre also Ungarn, das sein Verhalten ändern müsste.
Doch gegenüber Orbán schweigt Kanzler Nehammer. Zu eng ist die Beziehung zu Budapest und auch die inhaltliche Nähe zu den Visegrád-Staaten. Die ideologische Nähe ist wichtiger als Fakten. Zum Schaden Österreichs.