Wo liegt eigentlich Österreich?
Ist Österreich Teil des Westens? Osteuropa? Zentral- oder Mitteleuropa? Und was sagen die verschiedenen Definitionen eigentlich über das Selbstverständnis der Republik aus?
Heiß umfehdet, wild umstritten,
liegst dem Erdteil du inmitten,
einem starken Herzen gleich.
So beschreibt die Bundeshymne die Lage Österreichs in Europa. Nicht im Westen, nicht im Osten, nein, ganz in der Mitte, etwas Eigenes. Tatsächlich passt dieses Selbstverständnis schon nicht mit der statistischen Einteilung der UNO zusammen: Diese sieht Österreich als Teil Westeuropas an. Doch wie kann das sein, wenn Wien als Hauptstadt östlicher liegt als Prag – und Tschechien aber zu Osteuropa gezählt wird?
Die strenge Trennung in West- und Osteuropa neben Nord- und Südeuropa scheint den Zentralraum des Kontinents also zu streng zu trennen. Das ist ein Grund dafür, dass in der Region so gerne der Begriff „Mitteleuropa“ verwendet wird. Denn mit einer eigenen Region wird deren gemeinsamer Geschichte vor der Trennung durch den Eisernen Vorhang besser entsprochen – kulturell hat Österreich wohl mehr mit der Slowakei oder mit Bayern gemeinsam als mit Frankreich. Aber wie definiert man die Grenzen Mitteleuropas?
Das Entstehen Mitteleuropas
Der Begriff „Mitteleuropa“ war zunächst ein politischer Begriff, der jedoch unterschiedlichen Zielsetzungen gedient hat. Er kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf, als der deutsche Philosoph Constantin Frantz eine Föderation „Mitteleuropa“ aus Deutschland, Polen und Donauslaw:innen vorschlug, um ein Gegengewicht zu den Großmächten Russland und Frankreich zu schaffen. Ähnliche Ideen waren auch in der Nationalliberalen Partei verbreitet, so bei Friedrich List und Heinrich von Gagern, die ein deutsch-österreichisch geführtes Mitteleuropa von Hamburg bis Triest propagierten.
Gleichzeitig entwickelte sich zur selben Zeit in Österreich-Ungarn das Selbstverständnis, dass man, im Unterschied zum sich damals formenden deutschen Kaiserreich, die bestimmende Macht in Mitteleuropa war. Und dieses Selbstbild war und ist bis heute für die Länder, die sich zu Mitteleuropa zählen, prägend. Denn auch wenn die zwei Weltkriege und die darauffolgende Trennung des Kontinents die Region fragmentierten, blieb das Selbstverständnis erhalten. Erst recht nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Demokratisierung des ehemaligen Ostblocks besann man sich gerne auf die gemeinsam gewachsene Geschichte beiderseits der ehemaligen Demarkationslinie zwischen Ost und West.
Das Erbe der Habsburger
Egal ob gebaute Geschichte durch ähnliche Architektur, Landschaften oder auch kulinarische Gepflogenheiten: das, was Mitteleuropa definiert, ist zwar nicht klar abgrenzbar, aber doch wahrnehmbar. Und gerade für Österreicher:innen ist es dabei sehr leicht, den nachhaltigen Einfluss der Habsburger in der Region zu bemerken. Egal ob Graz, Budapest, Prag, Warschau oder Ljubljana – eine gemeinsame Geschichte ist spür- und sichtbar. Triest, der einst wichtigste Hafen der Donaumonarchie, bewirbt sich selbst noch heute als Città mitteleuropea.
Abseits von Kuriositäten, wie etwa, dass fast überall in den ehemaligen Ländern der Donaumonarchie Palatschinken bestellt werden können, bedeutet das Selbstbild allerdings auch ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das nachhallt – samt der inneren Zerrissenheit. Der tschechisch-französische Autor und Philosoph Milan Kundera beschreibt diese Region in seinem Essay Die Tragödie Mitteleuropas als „geographisch im Zentrum, kulturell im Westen und politisch im Osten“. Die Orientierung der Gesellschaft geht in den Westen, auf Frankreich oder Großbritannien, doch die politische Realität ist geprägt von fraktionierten Parteien und einer trägen zentralen Regierung, die nur behäbig auf Veränderungen reagiert – ein Spannungsfeld, das auch in Österreich nicht unbekannt ist.
In Tschechien, der Slowakei und Slowenien, drei Ländern die üblicherweise zu Mitteleuropa gezählt werden, ist dieser Zwiespalt sogar in der Landesflagge angedeutet: Alle drei Staaten haben nach der Unabhängigkeit (1918 bzw. 1991) die Farben Blau-Weiß-Rot der französischen Tricolore adaptiert, um sich in die Tradition des Westen und der Französischen Revolution zu stellen – keine Anspielung an die Farben der Habsburger.
Und was ist mit Österreich?
Mitten in der Region liegt also Österreich. Egal ob Wien, Bad Ischl, Innsbruck, Eisenstadt oder Graz, viele Städte und Orte haben eine starke Verbindung zu den Habsburgern und dem herrschenden Adel aus dieser Zeit. Und auch die Ära des Kalten Kriegs hat das Selbstbild der Brücke zwischen West und Ost, die zu keinen Seiten wirklich voll gehört, gestärkt. Die Neutralität, die 1955 beschlossen wurde, sorgte dafür, dass Österreich nie der NATO auf der einen oder dem Warschauer Pakt auf der anderen Seite angehörte. Das neutrale Österreich mit Wien, das sogar ein Sitz der UNO wurde, wurde prägend für die Gesellschaft. In Wien trafen sich Präsident Kennedy und Chruschtschow, Herrscher der Sowjetunion, man stand zwischen den Blöcken – in der Mitte.
Das Selbstverständnis Österreichs als Teil Mitteleuropas ist geschichtlich gewachsen und ist Teil der Multiidentität, die Menschen empfinden. Die Bundesländer Wien, Niederösterreich und Burgenland haben sich mit den Regionen Südmähren, dem Großraum Bratislava und Győr-Moson-Sopron zur Europaregion Centrope für bessere Zusammenarbeit zusammengefunden: unter dem Banner „Das Herz Europas“ als direkte Anspielung auf die Bundeshymne. Kärnten hat zusammen mit den italienischen Provinzen Friaul-Julisch Venetien und Veneto die Europaregion Senza Confini – Grenzenlos gegründet, mit Sitz ausgerechnet in Triest. Diese Beispiele zeigen, wie sehr sich Österreich und die (östlicheren) Bundesländer immer noch in die größere, zentraleuropäische Region orientieren.
Passend dazu sind auch die Bestrebungen des ehemaligen Kanzlers Sebastian Kurz Österreich in die Gruppe der Visegrád-Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn aufnehmen zu lassen. Denn diese Länder sind mit Ausnahme Österreichs, Sloweniens und Teilen Süddeutschlands, Nordostitaliens und Sloweniens eben jene, die Zentraleuropa nach den gängigen Definitionen ausmachen.
Also wo liegt eigentlich Österreich? Ganz klar ist es inmitten des Erdteils, geographisch, historisch und kulturell. Ob es auch ein starkes Herz für Europa sein kann, das liegt an uns.