Ziffernnoten: Genügend, aber nicht gut
Estlands Schülerinnen und Schüler dürfen sich seit 2018 „Bildungs-Europameister“ nennen. Zumindest wenn es nach der internationalen Vergleichsstudie PISA geht.
Wenn sie gegen Ende ihrer Pflichtschulzeit zum PISA-Test antreten, dann ist es ihr erster standardisierter Test: Denn Estland stellt es seinen Lehrerinnen und Lehrern bis zur neunten Schulstufe frei, ob und wie sie die Lernleistung messen und beurteilen. Viele tun das jahrelang gar nicht, denn Kinder kommen neugierig, lern- und wissbegierig in die Schule und sollen erstmal das selbstbestimmte, intrinsisch motivierte Lernen weiterentwickeln, bevor sie dafür lernen, durch andere gut beurteilt zu werden.
Österreich: Zurück zu den Noten
Doch wo ist die Grenze zwischen „Beurteilen“ und „Feedback geben“? Die ist tatsächlich fließend, und vieles, was in Österreich unter der Bezeichnung „verbale Beurteilung“ oder „alternative Beurteilung“ entwickelt und in Schulversuchen erprobt wurde, zielt auf individuelles, hilfreiches Feedback ab, statt auf vergleichende Beurteilung.
Die Errungenschaft dieser Schulversuche bestand einerseits aus dem „Hinzufügen“ individueller Worte, die den Lernprozess des Kindes würdigen und unterstützen, aber auch aus dem „Weglassen“ kategorisierender Noten, die bei der „schlechteren“ oder langsameren Hälfte der Kinder schon früh das Lernen mit der Erfahrung von Misserfolg und Zurechtweisung verknüpfen, statt mit persönlichem Wachstum und Entfaltung.
Seit der Rückkehr zur Notenpflicht, die uns die Bildungspolitik der türkis-blauen Regierung eingebrockt hat, ist’s vorbei mit dieser versuchsweisen Freiheit. Nur mehr für ein einziges Schuljahr dürfen die Lehrer:innen gemeinsam mit den Eltern festlegen, wie beurteilt wird. Ab der zweiten Klasse Volksschule weiß es der Staat besser: Was Kinder in der Schule gelernt haben, hat Sehr gut, Gut, Befriedigend, Genügend oder Nicht genügend zu sein. So kennen wir Eltern es aus unserer eigenen Schulzeit, und das hat uns ja nicht geschadet. Schließlich ist aus uns auch etwas geworden.
Estland: Independent Learning Day
Doch zurück nach Estland: An einer Schule in Tallinn, die wir Anfang März besuchen durften – übrigens eine, die wie die meisten Schulen Estlands nahtlos vom Schuleintritt bis zum Ende der Schulpflicht führt – war an einem kalten, sonnigen Freitag wenig los. Nur die Jüngsten waren da und nutzten die große Pause, um im Schnee in ihren dicken Overalls Fußball zu spielen. Alle anderen waren allein zu Hause, bei der Oma oder bei der besten Freundin.
Was sie dort taten? Lernen. Denn Freitag ist an dieser Schule „Independent Learning Day“. In der Früh werden im Online-Meeting die Themen festgelegt, an denen die Kinder arbeiten wollen. Dann wird recherchiert, gelernt und gewerkt, die Lehrperson steht individuell für Fragen zur Verfügung. Und zu Mittag präsentieren die Kinder ihre Ergebnisse und reflektieren diese gemeinsam.
So „independent“ sind die Kinder nicht an jeder estnischen Schule, aber überall steht das selbstgesteuerte, interessengeleitete Lernen hoch im Kurs. Denn gerade in den ersten Schuljahren gibt es nichts Wichtigeres in der Schule als das „Lernen lernen“. Kindern, die gerne und gut selbstgesteuert lernen, steht die ganze Bildungswelt offen.
Ziffernnoten überdenken
Fremdgesteuertes Lernen ist hingegen durch einen permanenten Engpass begrenzt: Die Lehrperson muss ihre Aufmerksamkeit auf viele Schülerinnen und Schüler verteilen, und die Eltern zu Hause haben meist schon zeitlich nicht die Kapazität, den Lernprozess ihrer Kinder ständig anzuleiten. Ein Kind, das ständig jemanden braucht, der ihm sagt, was und wie es lernen soll, wird vielleicht enger und ohne Umwege am Lehrplan entlang geführt, aber unterm Strich nie so viel lernen wie ein Kind, das begeistert seinen Interessen folgt und sich ständig neues Wissen und Können erschließt, ohne Limitation durch den „kleinsten gemeinsamen Nenner“ der Klasse oder die geteilte Aufmerksamkeit der Lehrperson.
Natürlich ist der Verzicht auf Ziffernnoten allein noch keine Garantie für interessengeleitetes, potenzialorientiertes Lernen. Da gehört viel mehr dazu. Aber umgekehrt pfercht der staatliche Zwang, schon ab der zweiten Schulstufe Ziffernnoten zu vergeben, die Lernpfade in ein unnötig enges Korsett. Am Ende der Pflichtschule haben vergleichende Noten ihre Berechtigung, wenn es darum geht, sich um einen Platz in einer weiterführenden Schule oder um eine Lehrstelle zu bewerben. Aber worin liegt der Mehrwert, siebenjährige Kinder anhand einer 5-stufigen Skala miteinander zu vergleichen, statt jedes Kind mit Stolz zu erfüllen, indem sein Lernfortschritt vor Augen geführt wird? Ist Lob und Bestärkung für die einen nur möglich, indem die anderen weniger davon erhalten?
Nein, Feedback geht auch anders. Es geht hilfreicher, inklusiver und individueller. Die Ziffernnoten sind genug, um ein Zeugnis zu füllen. Genügend sind sie, aber sicher nicht gut – und schon gar nicht sehr gut für die Kinder.