Zur Idee einer „EU-Atombombe“
Die geopolitische Landschaft Europas befindet sich seit der Präsidentschaft Donald Trumps, der Möglichkeit seiner zweiten Amtszeit und seiner ambivalenten Haltung zur NATO im Umbruch. Die Sorge, dass der traditionelle amerikanische Nuklearschutzschirm an Zuverlässigkeit einbüßen könnte, hat die Diskussion über eine „nukleare Autonomie“ Europas wiederbelebt.
Mit Großbritannien und Frankreich als den einzigen NATO-Atomwaffenstaaten in Europa, die zusammen etwa 500 Sprengköpfe besitzen, erscheint deren Arsenal strategisch betrachtet im Vergleich zu den Arsenalen der USA und Russlands als vernachlässigbar. Die zentrale Frage ist nun, ob und wie Europa diese strategische Lücke schließen sollte – und ob es das überhaupt kann.
Die atomare Lücke
Denn die Verfügbarkeit von Daten zu nuklearen Arsenalen nimmt ab, da sowohl die USA als auch Russland wichtige Rüstungskontrollverträge gekündigt und aggressive Schritte unternommen haben – etwa die Ankündigung Russlands, taktische Nuklearwaffen in Belarus zu stationieren. Solche Aktionen untergraben die Transparenz und das Vertrauen in die Überwachung von Nuklearwaffenbeständen.
Will man die Menge an Atomwaffen messen, unterteilt man je nach Typ – einsatzbereite (strategische und nichtstrategische), Reserve (strategische und nichtstrategische) und ausgemusterte. „Strategische“ Atomwaffen dienen primär der Abschreckung und werden im Fall des Falles zur Erzielung eines strategischen Vorteils genutzt, indem sie kritische Infrastruktur, Militärstützpunkte und städtische Zentren des Gegners angreifen. Ihr Ziel ist also, die Kriegsfähigkeit des Gegners entscheidend zu schwächen oder zu eliminieren, indem sie massiven, oft landesweiten Schaden anrichten. Taktische Nuklearwaffen dagegen sind für mittlere und begrenzte militärische Operationen gedacht. Das US-Verteidigungsministerium gibt den Überblick über die Arsenalgröße wie folgt an:
- Russland besitzt mit ca. 6.000 die größte Gesamtanzahl an Sprengköpfen, mit einer bedeutenden Zahl sowohl in der Kategorie der strategischen (knapp ca. 1.800) als auch der nichtstrategischen Sprengköpfe.
- Die USA verfügen ähnlich wie Russland über eine große Anzahl an Sprengköpfen (ca. 5.000), jedoch mit einem größeren Anteil an strategischen (ähnlich viele wie Russland) im Vergleich zu nichtstrategischen Sprengköpfen.
- Frankreich: Hat insgesamt deutlich weniger Sprengköpfe als Russland und die USA, mit einem größeren Anteil an einsatzbereiten strategischen Sprengköpfen (einige, aber weniger als hundert) und einer sehr kleinen Anzahl in Reserve oder ausgemustert.
- Das Vereinigte Königreich verfügt über die geringste Anzahl an Sprengköpfen unter den aufgelisteten Staaten, wobei die meisten einsatzbereit und strategisch sind, mit sehr wenigen in Reserve oder ausgemustert.
Fakt ist also, dass die USA ein strategisches Gleich- bzw. Gegengewicht zu Russland herstellen können. Aber wenn die US-Politik die Einsatzbereitschaft dieser Sprengköpfe untergräbt, funktioniert die Abschreckung nicht – das macht die Waffen, die Teil des „Schutzschirms“ sind, praktisch strategisch untauglich.
Der atomare Verteidigungsschirm
Um Missverständnisse zu vermeiden: Wir sprechen hier nicht von Initiativen wie der European Sky Shield Initiative oder dem Iron Dome in Israel, also Systemen, die hereinfliegende (Atom-)Raketen abfangen. Ein „atomarer Verteidigungsschirm“ bezeichnet vielmehr ein auf Abschreckung basierendes System aus Nuklearwaffen, das die Fähigkeit zu einem Zweitschlag gewährleisten soll – die „second strike capability“. Ziel ist es, einen potenziellen Angreifer davon abzuhalten, einen Erstschlag durchzuführen, da er im Gegenzug mit einem atomaren Vergeltungsschlag rechnen müsste.
Dafür sind bestimmte Kapazitäten erforderlich, über die Frankreich – in Bezug auf europäische Partner – nicht, die USA jedoch sehr wohl verfügen. Dieses Konzept basiert auf verschiedenen Strategien, die insbesondere während des Kalten Krieges im Rahmen der Spieltheorie entwickelt wurden. Ein bekanntes Beispiel ist die Theorie der „mutually assured destruction“, die trotz ihres bedrohlichen Charakters ein strategisches Gleichgewicht darstellt. Warum sollte jemand einen Angriff starten, wenn das das Ende für beide Seiten bedeuten würde? Genau aus diesem Grund unterbleibt der Angriff.
In Zeiten eines aggressiven Russlands gewinnen diese Konzepte erneut an Bedeutung in der öffentlichen Debatte, während humanitäre Bedenken bezüglich Atomwaffen in den Hintergrund rücken. Erst im Jahr 2017 wurde der ICAN der Friedensnobelpreis für ihre Arbeit verliehen, die auf die katastrophalen humanitären Konsequenzen von Atomwaffen aufmerksam macht und für ihre bahnbrechenden Bemühungen, ein vertragliches Verbot solcher Waffen zu erreichen.
Davon sind wir weit entfernt, und Atomwaffen sind keine Abwehrraketen. Das muss uns klar sein. Das Bedrohungsszenario durch Russland, gepaart mit dem Hinterfragen des US-Verteidigungsschirms, hat die Diskussion aber weg von ICAN und hin zu Münchner Sicherheitskonferenz gebracht.
Die strategische Position Europas und seine Abhängigkeiten
Während britische Nuklearwaffen formal der NATO zugeordnet sind, weist die Abhängigkeit der britischen Nuklearstreitkräfte von den USA auf eine potenzielle Verwundbarkeit hin. Im Gegensatz dazu weist Frankreich eine vollständige nationale Nuklearabschreckung auf und ist weniger in die nuklearstrategischen Planungen der NATO involviert.
Präsident Macrons Aussagen, die nuklearen Interessen Frankreichs hätten nun eine europäische Dimension, könnten den Weg für mehr europäische Kooperation in diesem Bereich ebnen. Damit kommt auch Deutschland ins Spiel – und dessen Rolle in der europäischen Nukleardebatte.
In Deutschland wird intensiv über die Zukunft der europäischen nuklearen Abschreckung diskutiert. Während einige Politikerinnen und Politiker eine EU-eigene Atomwaffenkapazität erwägen, warnen Sicherheitsexpertinnen und -experten vor den Herausforderungen eines solchen Unterfangens. Die Idee, kurzfristig eine eigenständige europäische Nuklearabschreckung aufzubauen, wird als unrealistisch angesehen, besonders angesichts der bestehenden EU-Strukturen und der zentralen Rolle der NATO.
Europas Zukunft: Konventionelle Verteidigung und Cyberabwehr
Die Diskussion um Europa nukleare Kapazitäten ist komplex und vielschichtig. Sie reicht von der Frage der gemeinsamen Kontrolle über Nuklearwaffen, wie sie in den 1960er Jahren mit der Idee einer „multilateralen“ Nuklearstreitmacht angedacht wurde, bis hin zu den jüngsten Vorschlägen für eine stärkere europäische Sicherheitskooperation. Die Vorstellung, dass Großbritannien oder Frankreich die Entscheidungsgewalt über den Einsatz ihrer Nuklearwaffen teilen könnten, wird von Experten als unwahrscheinlich angesehen. Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass Frankreich der Nuclear Planning Group beitreten oder seine luftgestützten Nuklearstreitkräfte der NATO zuweisen wird.
Die Glaubwürdigkeit einer nuklearen Abschreckung hängt davon ab, Gegner und Verbündete davon zu überzeugen, dass das Engagement ernsthaft ist. Frankreich könnte beispielsweise versprechen, im Falle einer nuklearen Entscheidung mit seinen Partnern zu konsultieren. In einem apokalyptischen Szenario könnten Frankreich und seine europäischen Partner an nuklearen Operationen teilnehmen, indem sie Begleitflugzeuge für Bomber bereitstellen oder sich einer Einsatzgruppe anschließen, die Nuklearwaffen tragen kann.
Die Debatte sollte sich aber nicht ausschließlich um die nukleare Bewaffnung drehen, sondern auch die Entwicklung einer umfassenden EU-Sicherheits- und Verteidigungspolitik umfassen. Das bedeutet: Eine gemeinsame Beschaffungspolitik und das Ziel einer gemeinsamen europäischen Armee. Österreichs Position als atomwaffenfreier Staat und sein Engagement für Abrüstung und Nichtverbreitung von Nuklearwaffen betonen die Notwendigkeit einer defensiven, aber robusten europäischen Sicherheitsarchitektur.
Fazit: Eine EU-Atomwaffenkapazität ist nicht die Lösung
Die Herausforderungen für Deutschland und Österreich im Falle eines Rückzugs der USA aus der europäischen Sicherheitsgarantie sind groß. Deutschland steht vor der Aufgabe, seine Rolle in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur zu definieren, während Österreich seine Position als neutraler Staat und Befürworter der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen beibehält. Beide Länder könnten eine Schlüsselrolle in der Gestaltung der europäischen Sicherheitspolitik spielen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die EU keine eigenen Atomwaffen benötigt – sondern eine starke, kooperative Verteidigungspolitik anstreben sollte, die auf den Prinzipien Zusammenarbeit, Transparenz und Verantwortung basiert. Europa sollte eine progressive und realistische Sicherheitspolitik vertreten, die nicht nur die konventionelle Verteidigung, sondern auch Cyberabwehr stärkt und Europas Sicherheit gewährleistet, ohne in einen nuklearen Rüstungswettlauf einzutreten. Wenn es mittelfristig möglich ist, die französischen strategischen Atomwaffen für EU-Partner im Sinne eines nuklearen Abwehrschirms einzusetzen, wäre das sicher sinnvoll. Aber davon sind wir noch weit entfernt.