Chatkontrolle: Der Anfang einer Dystopie
Wer an die EU und ihre Netzpolitik denkt, landet wahrscheinlich bei der Datenschutzgrundverordnung, dem AI Act oder dem Digital Services Act. Aber nicht immer steht die EU-Politik bedingungslos auf der Seite der Privatsphäre. Aktuell wird der sogenannte CSAM-Vorschlag der EU-Kommission vom Europäischen Rat und Parlament verhandelt. Besser bekannt unter dem Namen „Chatkontrolle“.
Geplant ist unter anderem, dass Messengerdienste in Zukunft alle Chats und E-Mails nach bestimmten Inhalten scannen und überwachen müssen – auch die verschlüsselten. Während bei der Verletzung des Briefgeheimnisses bis hin zur Freiheitsstrafe geahndet wird, ist der Staat im Fall der Chatkontrolle selbst die Instanz, die alle – auch verschlüsselte – Nachrichten und E-Mails mitliest.
Sinn und Zweck der Sache: Damit soll Kindesmissbrauch online verhindert werden. Die Messenger-Daten sollen aber nicht nur im Verdachtsfall verarbeitet werden – sondern laufend, und zwar von allen Menschen. Damit werden Bürgerinnen und Bürger unter Generalverdacht gestellt: Unter dem Deckmantel des Kinderschutzes könnten Behörden unsere gesamte digitale Kommunikation mitlesen – auch wenn gar kein kinderpornografisches Material darin auftaucht.
Der Staat liest immer mit
Die verpflichtende Überwachung durch die Messenger-Dienste bringt auch eine weitere Gefahr: das Ende der Verschlüsselung. Wenn die Dienste auf alle Nachrichten zugreifen können müssen, muss dafür eine Art „Backdoor“ beim Nachrichtenaustausch offenbleiben. Es ist davon auszugehen, dass dies auch von Kriminellen schnell erkannt und ausgenutzt werden kann. Die digitale Sicherheit ist somit gleich doppelt gefährdet. Dramatisch kann dies für Menschen wie beispielsweise Whistleblower und kritische Journalistinnen und Journalisten sein, die u.a. ihre Quellen schützen müssen.
Manch einer wird sich vielleicht denken: Ich habe nichts zu verbergen, die Chatkontrolle wäre kein Problem. Technische Systeme sind jedoch auch fehleranfällig. Ein Urlaubsbild der eigenen Kinder an die Eltern geschickt? Auch das würde gescannt und im schlimmsten Fall zu falschen Verdächtigungen führen. Auch Chats zwischen Minderjährigen können als Verdachtsfälle gewertet und damit zur Prüfung durch Behörden weitergegeben werden.
Aber auch die Behörden, welche alle von den Messenger-Diensten automatisiert generierten Verdachtsfallmeldungen checken müssen, wären maßlos überfordert. Es müsste massiv in mehr Überwachungspersonal investiert werden, statt Geld in tatsächliche Schutzmaßnahmen zu investieren. Wie gefährlich das Gesetz ist, zeigt sich auch durch die Forderung der Sicherheitsbehörden, die ihre eigenen Mitarbeitenden sowie die der Geheimdienste und Polizei von den Überwachungsmaßnahmen ausnehmen wollen. Man muss nicht fragen, warum.
Ashton Kutcher, Interessenkonflikte und Skandale
Es mag für manche eine Überraschung sein, aber der US-amerikanische Schauspieler Ashton Kutcher hat sich in den letzten Jahren aktiv als Lobbyist in die EU-Gesetzgebung eingemischt. Zwar ist seine Organisation „Thorn“ offiziell eine NGO – jedoch verkauft Thorn auch genau die Software, die für das massenhafte Scannen von Nachrichten und E-Mails benötigt wird. Damit bestünde auch ein finanzielles Interesse, eine solche Gesetzgebung zu beeinflussen. Die USA nutzen Thorns Software bereits für mehrere Millionen Euro Lizenzgebühr.
Ob Ashton Kutcher beim Lobbyieren besondere Privilegien durch sein Star-Sein genossen hat, ist nicht sicher, jedoch ist es auffällig, dass einige EU-Politikerinnen und Politiker, unter anderem Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, durchaus gern mit dem Schauspieler für Fotos posiert haben. Auch die schwedische EU-Innenkommissarin Ylva Johansson steht in engem Austausch mit Ashton Kutcher. Dieser dürfte sie auch schon früh über weiterreichende Überwachungsmöglichkeiten aufgeklärt haben, die weit über das Scannen digitaler Inhalte hinausgehen.
Wie geht’s weiter?
Ja, Schutz vor Kindesmissbrauch muss unbedingt gestärkt werden. Dafür gibt es aber zielgerichtetere, bessere Maßnahmen, die einen echten Kinderschutz forcieren, als die Massenüberwachung aller Menschen in der EU: mehr Ressourcen für Polizei- und Präventionsarbeit, leichtere Maßnahmen zum Melden von Inhalten, breite Informationskampagnen zum Thema „Grooming“ und darüber, wie man sich davor schützen kann. Nur nach bereits entstandenem Material zu scannen, schützt kein Kind vor Übergriffen.
Im Juli treffen die Innenminister der EU-Staaten zusammen und werden über die Chatkontrolle diskutieren. Das neu gewählte EU-Parlament wird dann darüber entscheiden, ob wir weiterhin ein Recht auf Privatsphäre im digitalen Raum haben – oder ob bald schon der Staat alles mitlesen können wird. Darum ist es umso wichtiger, Abgeordnete ins Parlament zu wählen, die sich klar gegen Massenüberwachung und für digitale Rechte einsetzen.
INES HOLZEGGER arbeitet als Head of Product- & Innovationmanagement in der IT-Branche und setzt sich im Bereich Digitalisierung und künstliche Intelligenz für digitale Rechte ein. Politische Erfahrung sammelte sie in der EU-Kommission im Kabinett von Margrethe Vestager, darüber hinaus ist sie die Präsidentin der europäischen liberalen Jugend (LYMEC).