Der Koralmtunnel – Das Loch der Zukunft
Mit dem Fahrplanwechsel 2025 von 13. auf 14. Dezember wird die Südbahn in Österreich – teilweise – neu aufgestellt. Der neue Koralmtunnel zwischen der Steiermark und Kärnten wird erstmals die Landeshauptstädte Graz und Klagenfurt direkt per Eisenbahn verbinden und die Fahrtzeit deutlich verkürzen. Darüber hinaus wird damit die Grundlage für eine neue Bahnachse durch Österreich im europäischen Bahnnetz gelegt. Grund genug für eine Analyse.
Eine wichtige Information im Vorhinein: Der Autor dieser Zeilen ist als Kärntner ein langgelittener Passagier auf der Südbahn und noch dazu aus einer Eisenbahnerfamilie. Eingedenk dessen scheint es nur angebracht zu sein, anlässlich der Eröffnung des Koralmtunnels und der neuen Eisenbahn-Südstrecke zwischen Graz und Klagenfurt einen genauen Blick auf diesen Abschnitt, die Folgen dieser Eröffnung, die Hoffnungen, Zukunftspläne und die Geschichte zu werfen – ein Schlaglicht auf die Position Österreichs in diesem Winkel Europas. Denn obwohl die Politik und die ÖBB die Chancen betonen – so spricht etwa Kärntens scheidender Landeshauptmann Peter Kaiser gar von einer „neuen Zeitrechnung“ für Kärnten und die Steiermark –, ist die Bevölkerung in den betroffenen Regionen noch nicht überzeugt, ob sich die massiven Investitionen auch rechnen werden.
Österreichs Bahn-Südstrecke. Eine kurze Geschichte
Wer noch alt genug ist, sich an die Schilling-Banknoten erinnern zu können, kennt vielleicht noch die 20-Schilling-Scheine mit dem Semmeringblick, die von 1967 bis zur Einführung des Euros im Umlauf waren. Dieses numismatische Detail mag alt wirken, ist aber ein gutes Beispiel dafür, wie sehr die Südstrecke und die Eisenbahngeschichte als Ganzes Teil der heimischen Identität sind. Die Semmeringbahn, mit der der Gebirgszug überwunden wurde, ist bis heute zentraler Bestandteil der Südbahn, die damals Wien mit dem Hafen des Habsburgerreichs, Triest, verbinden sollte. Die Verbindung von Graz nach Klagenfurt, immerhin die Hauptstädte verschiedener Reichsteile, musste damals nicht durch ein Gebirge gehen, sondern über das damals zu Österreich-Ungarn gehörende Slowenien. Mit der Republiksgründung musste die Südbahn nun geteilt werden, da die ehemalige „Kärntner Bahn“ via Maribor und Bleibung nun zu einem Teil im Ausland lag: von Bruck an der Mur durch das enge Murtal nach Graz und über Leoben und St. Veit nach Klagenfurt und weiter nach Villach, dem Knotenpunkt zur Tauernbahn nach Salzburg.
Dieses Arrangement war nicht perfekt, Klagenfurt und Graz wurden damit zu zwei (regionalen) Ballungszentren, die nur mit einem langen Umweg von rund drei Stunden mit der Bahn verbunden waren. Spätestens mit dem Beitritt Österreichs zur EU und der Einbettung des nationalen Schienennetzes in das transeuropäische Zugnetz wurde die Abzweigung nach Graz, vor allem für den Güterbahnverkehr, immer unwichtiger, da die Strecke Wien-Bruck-Villach über Leoben und St. Veit mit der bestehenden Weiterverbindung nach Italien und zum Hafen von Triest als Teil der baltisch-adriatischen Achse immer wichtiger wurde.
Haiders Werk und Brüssels Beitrag
Ab der Jahrtausendwende bemühten sich die Bundesländer Kärnten und Steiermark unten den Landeshauptleuten Jörg Haider und Waltraud Klasnic um eine neue, leistungsfähigere Trasse der Südbahn, die dann auch die zwei Landeshauptstädte verbinden würde. Der Wähler:innenschaft vor Ort wurde das auch mit viel Lokalpatriotismus à la der Süden sei das „Stiefkind“ der Verkehrspolitik des Bundes verkauft. Tatsächlich wurde in den frühen Nullerjahren der Ausbau der Westbahn forciert, die Südbahn wurde wegen der Blockade der Semmeringtunnelpläne durch den NÖ-Landehauptmann Erwin Pröll weniger berücksichtigt.
Diese regionalen Bemühungen wurden durch die strategischen Planungen der EU, die wichtigsten Bahnverkehrsachsen zu stärken, beflügelt. 2004 sichern die Steiermark und Kärnten dem Bund die Kofinanzierung des Projekts zu, ein Vertrag wird final zwischen dem Bund, Steiermark, Kärnten und der EU unterzeichnet. Am 20. März 2009 findet der Anschlag des Koralmtunnels auf der steirischen Seite statt.
Im Nachhinein betont Peter Kaiser in Interviews die zentrale Rolle, die die EU und ihre Finanzierungsmodelle für die Durchführung des Projekts gespielt haben. Die neue Strecke zwischen Bruck und Klagenfurt wurde abgesegnet, dann gebaut. Nun, mit der offiziellen Inbetriebnahme der Trasse, muss sie auch ihren Mehrwert unter Beweis stellen.
Realitätscheck für die Koralmbahn
Die Koralmbahn muss nun zwei nur indirekt miteinander verbundene Mehrwerte erzielen: einerseits die über Österreich laufende Trassenführung der baltisch-adriatischen EU-Bahnachse profitabler und effizienter zu machen, und gleichzeitig der Region zwischen Graz und Klagenfurt wirtschaftlichen Aufschwung zu verschaffen.
Der Mehrwert für die europäische Eisenbahnachse wird erst nach der Fertigstellung des Semmeringbasistunnels gegeben sein. Zwar wird dessen Nutzung endgültig die noch auf der Schilling-Banknote angedeutete Bedeutung der Semmeringbahn begraben, doch wird sie gleichzeitig die Südbahn erstmals als durchgehend hochleistungsfähige Eisenbahn-Frachtlinie etablieren. Davor wird das Nadelöhr Semmering weiterhin ein Hemmschuh für internationalen Verkehr bleiben, der das Höchstgewicht und die Höchstgeschwindigkeit von Zügen massiv einschränkt. Gleichzeitig sind, wie auch von Seiten der ÖBB und der Politik betont, mit der ausgebauten Koralmstrecke, die durchgängig flach, zweispurig und mit 250 km/h befahrbar ist, die Hausaufgaben für diesen Teil der Südbahn erledigt, wenn der Semmeringtunnel ab 2030 freigegeben ist.
Neue Verbindungen für abgehängte Gegenden
Womit die Frage des Nutzens der Koralmbahn für die direkt betroffene Region bleibt. Bereits Haider und Klasnic haben von den Vorteilen für die Bezirke entlang der Trasse geschwärmt, und auch ihre Nachfolger beiderseits der Pack haben sie immer wieder betont.
Alleine, was mehr Verbindungen angeht, sprechen die Zahlen für sich. Erheblich mehr Verbindungen zwischen Graz und Klagenfurt und damit entlang der gesamten Südbahn, neue Anbindungen von Villach über Graz über Wien bis Prag, mehr Verbindungen ab Villach nach Salzburg über die Tauernstrecke, ein neuer verdichteter S-Bahn-Fahrplan beiderseits der Koralpe, um Pendler:innen effizienter und öfter abholen und transportieren zu können – die Bemühungen sind spürbar. Neben den ÖBB, die bereits seit Wochen eine Informationsoffensive über die Neuerungen fährt, wird auch die private Westbahn ab März 2026 die neue Südstrecke befahren und damit für mehr Wettbewerb und Angebot sorgen.
Der Mehrwert wird in einer Studie von Joanneum Research, finanziert von den Ländern Kärnten und Steiermark, der Wirtschaftskammer und der Industriellenvereinigung, deutlich betont. Durch die neue Verbindung würde ein „neuer Wirtschaftsraum Südösterreich“ entstehen, der zweitgrößte Ballungsraum Österreichs nach Wien mit mehr als einer Million Einwohner:innen.
Vor allem die industrie- und gewerbefokussierten Bezirke Deutschlandsberg und Wolfsberg würden durch die neuen Verbindungen und Investitionen profitieren. So hat die Kärntner Landesregierung bereits die Etablierung eines dritten Gewerbeparks beim neuen Bahnhof St. Paul im Lavanttal nach Klagenfurt und Villach angekündigt. Gleichzeitig würden, so die Studie, bestehende Betriebe von besserer Anbindung an den transeuropäischen Warenverkehr profitieren und durch massiv reduzierte Pendelzeiten auch einen größeren Pool an potenziellen Mitarbeiter:innen beidseits der Landesgrenze erzielen.
Darüber hinaus darf sich die Tourismusregion Südkärnten, vor allem der Klopeinersee, der historisch immer gern von Wiener:innen besucht wurde, über eine neue, erheblich komfortablere Anreiseoption freuen. In der Region hofft man, durch entsprechende zusätzliche Angebote von dem neuen Halt der Südbahn in der Region profitieren zu können.
Zusätzlich prognostiziert die Joanneum-Research-Studie sogar ein mögliches Umdrehen der Deindustrialisierungs- und Abwanderungstendenz in den betroffenen Bezirken. Gleichzeitig sind andere Studien, wie eine Analyse des Projekts durch das Institut für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik der TU Wien, erheblich skeptischer und ziehen die positiven Ankündigungen der Politik in Zweifel. Auffallend ist hierbei allerdings, dass vor allem der Mehrwert im Sinne der transeuropäischen Netze, nicht im interregioanlen Bezug, in Frage gestellt wird. Allgemein skeptisch zeigt sich auch Norbert Wohlgemuth, Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Klagenfurt. Er warnt, dass bei einem wirtschaftlichen Zusammenwachsen von Regionen die schwächere leiden könnte: „Kärnten könnte der Sogwirkung aus Graz erliegen, per Saldo könnte für das Bundesland in gewissen Bereichen sogar weniger übrig bleiben.“
Hoffnung und Ausblick
Nach mehr als 16 Jahren reiner Bauzeit und erheblichen Investitionen in die Infrastruktur und regionale Projekte ist mit dem 14. Dezember die Feuerprobe für das Projekt Koralmbahn fixiert. Wie auch Norbert Wohlgemut im Standard betont, wird man wohl erst „nach vielen Jahren erkennen können“, wie sich das Projekt auf die Region auswirken wird. Der gesamte Nutzen wird wohl erst lang nach der zusätzlichen Eröffnung des Semmeringbasistunnels abschätzbar werden. Was vorerst bleibt, ist eine Region, die auf neuen Schwung durch bessere Bahninfrastruktur und -verbindungen hofft, und ein neues Loch durch einen Berg, das sich als ein entscheidender Baustein für die Zukunft herausstellen könnte.
GREGOR PLIESCHNIG war Redakteur im Materie-Team. Der Politikwissenschafter und Exil-Kärntner spezialisiert sich auf Internationales, Europa und Gesellschaftspolitik. Er arbeitet als Journalist in Wien.