(K)Eine Sicherheitsstrategie für Österreich
Die aktuell gültige „Sicherheitsstrategie“ Österreichs stammt aus dem Jahr 2013 und wird damit 2023 zehn Jahre alt. Das allein würde bereits – selbst bei einer kontinuierlichen Entwicklung des sicherheitspolitischen Umfelds – als Anlass reichen, eine Prüfung vorzunehmen, inwieweit sie inhaltlich noch den aktuellen Herausforderungen entspricht. Und nach einem Dezennium wäre es wohl auch mehr als an der Zeit, die Maßnahmen zu ihrer Umsetzung einer kritischen Würdigung zu unterziehen und auf dieser Basis sowohl entsprechende inhaltliche Anpassungen vorzunehmen als auch allfällige Umsetzungsdefizite anzusprechen bzw. zu beseitigen.
Warum es eine neue Sicherheitsstrategie braucht
Nur war die sicherheitspolitische Entwicklung seit 2013 alles andere als kontinuierlich: Der Euromaidan, im Zuge dessen sich die Ukraine von einem von Russland abhängigen Regime befreite, führte 2014 zu einem hybriden Krieg Russlands im Donbass; die zunehmende Destabilisierung des Maghreb, vor allem aber der Bürgerkrieg in Syrien lösten im selben Jahr eine Flüchtlingskrise in Europa aus; die konsequente Aufrüstung Chinas, basierend auf seiner prosperierenden Wirtschaftsentwicklung, veränderte kontinuierlich das Machtgefüge im pazifischen Raum; mit der Wahl von Donald Trump wurde die verstärkte Hinwendung der USA in diese Weltregion noch klarer als unter seinem Vorgänger, synchron mit einer zunehmenden Infragestellung der Rolle der USA in der NATO; der Brexit erschütterte die Entwicklung einer wirksamen Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der EU, vor allem aber einer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik viel stärker, als die offiziellen Kommentare es eingestehen wollen; eine reale globale Pandemie brachte die staatlichen Systeme in ihrem Sicherheits- und Versorgungsversprechen an ihre Grenzen; und nicht zuletzt führt Russland nunmehr seit beinahe einem Jahr einen umfassenden Krieg gegen die Ukraine, mit konkreten Auswirkungen in einer Entfernung zu Österreich, die etwa der geografischen Ausdehnung des eigenen Landes entspricht.
Das alles – um nur die wesentlichsten Ereignisse zu nennen – ist seit dem mehrheitlichen Beschluss 2013 (immerhin mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP und FPÖ, und wer erinnert sich eigentlich noch an das seinerzeit mitstimmende „Team Stronach“?) der österreichischen Sicherheitsstrategie passiert.
Diese wurde allerdings seither nicht adäquat modifiziert, und die österreichische Politik muss sich daher die Frage gefallen lassen, warum. Dies gilt ganz besonders, als der Europäische Rat (also unter Beteiligung Österreichs) am 21. März 2022 unter bewusster Berücksichtigung der Invasion der Ukraine durch Russland den „Strategischen Kompass“ für die EU gebilligt hat, einen Aktionsplan für die Stärkung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU bis 2030. Ein akuter Handlungsbedarf für Österreich ist also objektiv gegeben – sowohl aufgrund der inneren als auch der äußeren Bedingungen.
Eine Strategie, die nur die Autoren verstehen
Betrachtet man nun die aktuelle „Sicherheitsstrategie“ Österreichs, dann fallen neben der mangelnden Aktualität mehrere Aspekte eines Überarbeitungsbedarfs ins Auge:
Die Sprache wechselt zwischen diplomatischer Indifferenz, einer bemühten Identifizierung von Zielen und Maßnahmen, die in der interpretativen Bedeutungsbreite ihrer Formulierung – wenn überhaupt – nur von Insidern verstanden wird, und gespreizten Absichtserklärungen. Ein Beispiel:
„Aufgrund weiter zunehmender politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vernetzungen ist mit einer fortschreitenden Internationalisierung der Herausforderungen für die Sicherheit Österreichs zu rechnen.“
Und natürlich wird nicht ausgeführt, was das konkret an Konsequenzen im Sinne von Maßnahmen zu zeitigen hätte. Eine wird aber immerhin beispielhaft angeführt: Der „Aus- und Aufbau effizienter ziviler und militärischer Kapazitäten und Strukturen entsprechend internationalen Standards zur Erfüllung sicherheitspolitischer Aufgaben“. Geduldiges Papier!
Nun, wer in Österreich jemals an der Erarbeitung derartiger Konzeptionen mitgewirkt hat, weiß, wie sie zustande kommen: Es handelt sich um interministeriell im Verhandlungsweg erarbeitete Beamtenpapiere. Die überwölbende Gesamtschau wird so allgemein wie möglich abgehandelt, die das eigene Ressort betreffenden Teile werden so interpretativ wie möglich formuliert, um den eigenen administrativen Handlungsspielraum (und auch jenen der eigenen Ressortleitung) so groß wie möglich zu halten.
Indifferenz, mangelnde Verbindlichkeit und ebensolche Allgemeinverständlichkeit mögen aus Sicht verschiedener Akteure gut und richtig erscheinen, können aber den Kriterien für eine aktuelle und moderne Sicherheitsstrategie Österreichs nicht mehr genügen.
Kriterien für eine neue Strategie
- Es braucht tatsächlich mehr denn je eine alle sicherheitsrelevanten Bereiche umfassende politische Strategie zur planerisch verlässlichen Ableitung langfristig wirksamer Maßnahmen im Bereich der staatlichen Sicherheitsvorsorge bzw. -gewährleistung.
- Weil diese Strategie eine politische ist, hat die Politik sich in ihre Erstellung entsprechend einzubringen. Es genügt nicht, „zuständige“ und politisch verlässliche Ministerialbeamte bzw. Kabinettsmitarbeiter damit zu befassen, sondern die Politik muss sich auch aktiv und mit einer bestimmten fachlichen Mindestkompetenz in den Prozess einbringen – wie es in anderen Ländern schon lange üblich ist.
- In diesem Sinne muss auch die Sprache der Sicherheitsstrategie eine klare sein, die von möglichst breiten Teilen der Bevölkerung verstanden wird. Eine fachamtliche Sprache, die in der Umsetzung der Strategie zwar eine große interpretative Bandbreite für die Ressorts erlaubt, erschwert eine erforderliche Rezeption in der Bevölkerung. Diese mangelnde Rezeption dürfte aber mitverantwortlich für die Schwierigkeiten sein, die immer dann auftreten, wenn die Politik die Bevölkerung dann anlassbezogen bei konkreten Maßnahmen „mitnehmen“ will.
- Es bedarf eines Mindestmaßes an Verbindlichkeit, was die Umsetzung einer Sicherheitsstrategie anbelangt. Betrachtet man jene aus 2013, so kommt man nicht nur im militärischen Teil zum Schluss, dass man die Strategie nicht ernst genommen hat. Wozu die Übung also? Um der Öffentlichkeit kommunizieren zu können, die Hausaufgaben gemacht zu haben, obwohl dies nicht der Fall ist? Letztlich kommt es auf die Umsetzung an, viel weniger auf das Papier.
- Und damit kommen wir zur Frage der Ernsthaftigkeit: Nimmt man sich tatsächlich ernst, wenn man als Staat eine Sicherheitsstrategie beschließt, die bestenfalls von Experten verstanden und von der breiten Bevölkerung nicht wahrgenommen wird, und deren Umsetzung ganz offenbar ohnehin nicht entscheidend ist bzw. den jeweiligen parteipolitischen (soll heißen, wahltaktisch motivierten) Kriterien unterworfen wird? Dann würde sich eine „Sicherheitsstrategie“ ad absurdum führen.
Warten auf den politischen Willen
Und damit zur Kernfrage, warum es eigentlich keine den aktuellen Bedingungen des sicherheitspolitischen Umfeldes entsprechende österreichische Sicherheitsstrategie gibt. Hauptgrund dafür dürfte sein, dass die Politik sich scheut, die damit potenziell verbundenen Diskussionen der sicherheitspolitischen Positionen der Republik zu führen.
Gleichzeitig fühlt man sich offenbar in einer Situation wohler, in der es ohne allzu laute Begleitgeräusche gestern noch möglich war, dass ein hochrangiger Kabinettsmitarbeiter der Verteidigungsministerin Pläne für eine weitgehende Demilitarisierung des Bundesheers präsentiert, und heute, nach der Invasion Russlands in der Ukraine, erhebliche Investitionen in die militärischen Fähigkeiten der Streitkräfte argumentierbar sind. Insbesondere für die militärische Landesverteidigung, bei der es auf längerfristige Planbarkeit bei der Entwicklung von Fähigkeiten im Einklang mit den europäischen Partnern ankommt, ist ein derartiges politisches Irrlichtern fatal und mitverantwortlich für den schleichenden Verlust ebendieser Fähigkeiten.
Österreich benötigt daher dringend die Erarbeitung einer neuen Sicherheitsstrategie als glaubwürdige und transparente Leitlinie seiner Außen- und Sicherheitspolitik und zur Entwicklung der entsprechenden Instrumente. Die damit verbundenen Diskussionen sicherheitspolitischer Positionen sind konstruktiv zu führen und nicht zu verweigern. Das wäre ein bedeutender Teil der erforderlichen Anstrengungen, um sich in einem zunehmend verändernden sicherheitspolitischen Umfeld zu behaupten – und nicht endgültig in die europäische Provinzialität zurückzufallen.
GERALD KARNER ist Offizier und Experte für Verteidigungspolitik. Bis 2006 war er im österreichischen Bundesheer tätig, zuletzt im Rang eines Brigadiers.