Raumordnung Reloaded
In ihrem Gastbeitrag schreibt die Expertin Gerlind Weber darüber, warum der Verfassungsbegriff „Raumordnung“ dringend erweitert gehört.
Bei Publikumsveranstaltungen wie auch bei Diskussionsrunden unter Fachleuten wird angesichts der in Österreich weit fortgeschrittenen Zersiedelung immer wieder die Forderung erhoben, man müsse den Ländern und den Gemeinden die Raumordnung „wegnehmen“. Diese seien mit dieser Materie „überfordert“, und dementsprechend würde nur eine Verlagerung zum Bund und zu den Verwaltungsbezirken Abhilfe gegen die über Jahrzehnte gepflogene Verschleuderung von Grund und Boden im Zuge der Schaffung von Wohnraum und Arbeitsplätzen helfen.
Doch hinter dieser Argumentation verbirgt sich nach Meinung der Autorin nur eine Scheinlösung. Zum einen, weil auf Bundesseite offensichtlich kein Appetit auf den Kompetenztatbestand „Raumordnung“ besteht, da sich augenscheinlich wenig Prestige, aber dafür umso mehr Unannehmlichkeiten mit seiner Erledigung verbinden. Zum anderen sind die Bezirkshauptmannschaften reine Verwaltungsbehörden, die dem sehr hohen politischen Gehalt des planerischen Ermessens per se nicht gerecht werden können.
Statt das bloße Verschieben der Zuständigkeit zu fordern, erscheint es nach Meinung der Autorin viel zielführender zu sein, prioritär den Kompetenztatbestand „Raumordnung“ zu erweitern, um gerade im Zusammenhang mit der Steuerung des Siedlungswesens hohe Effizienzpotentiale nicht nur im Hinblick auf finanzielle Einsparungen bei Infrastrukturerschließung und Erhaltung, sondern vor allem auch im Bemühen um mehr Zukunftsfestigkeit bei der hinkünftigen Raumentwicklung zu heben.
Wie diese Einschätzung im Einzelnen zu verstehen ist, sollen nachfolgende Ausführungen erhellen.
Raumordnung – ein eng gefasster Verfassungsbegriff
Die verfassungsrechtliche Basis für die Raumordnung in Österreich hat der Verfassungsgerichtshof 1954 durch das Kompetenzfeststellungserkenntnis VfSlg 2674 geschaffen, indem er die Gesetzgebung und Vollziehung unter Verweis auf die Generalklausel des Artikel 15 B‑VG als Ländersache definierte. In den Erläuterungen dazu stellte das Höchstgericht fest, dass diese Materie überörtliche und örtliche Aspekte einschließt und Letztere unter Verweis auf das Subsidiaritätsprinzip der Gemeinde zur Erledigung in Selbstverwaltung zuzuweisen ist.
In materieller Hinsicht hat der Verfassungsgerichtshof „Raumordnung“ als „die planmäßige und vorausschauende Gesamtgestaltung eines bestimmten Gebietes in Bezug auf seine Verbauung einerseits und für die Erhaltung von im wesentlichen unverbauten Flächen andererseits“ interpretiert. Mit anderen Worten: Durch diese Verwaltungsaufgabe ist der zukünftige Siedlungsraum von den von Bebauung freizuhaltenden Räumen klar zu trennen.
Damit wurde der Kompetenztatbestand Raumordnung „janusköpfig“ aufgesetzt. Einerseits sollten Siedlungsgebiete geordnet, das heißt bodenschonend, entwickelt und andererseits die offene Landschaft, die überwiegend landwirtschaftlich genutzt wird, von funktionell nicht gerechtfertigter Bebauung konsequent geschützt werden (Entwicklungs- versus Erhaltungsfunktion). Um diesen in Verfassungsrang stehenden Handlungsauftrag bestmöglich erfüllen zu können, sollten – gedanklich an die Siedlungstradition von Haufendörfern bzw. Stadterweiterungen anknüpfend – geschlossene Siedlungsbereiche entstehen, die nach innen an bereits bebautes Gebiet andocken und ihrerseits dem „Prinzip der kurzen Wege“ folgen und die sich nach außen durch eine scharfe Siedlungskante zur landwirtschaftlichen Flur hin klar abgrenzen.
Dieses Idealbild zukünftiger Siedlungsentwicklungen fand seinen Niederschlag in der Formulierung von mit der Zeit immer umfangreicher werdenden entsprechenden Zielkatalogen in den ab 1956 verabschiedeten Landesgesetzen zur Raumordnung. Von Beginn der nominellen Raumordnung an sah man im grundeigentümerverbindlichen Flächenwidmungsplan das geeignete Planungsinstrument, diese Leitvorstellung verwirklichen zu können.
Jedoch muss man nach etwa einem halben Jahrhundert österreichweiter Bemühungen zum Schluss kommen, dass der materielle Verfassungsanspruch in fast allen Gemeinden nicht annähernd umgesetzt werden konnte. Das Resultat jahrzehntelanger praktischer Raumordnung ist nämlich mit folgenden Stichworten zu etikettieren: Geld verschwendet! Boden verschleudert! Landschaft verschandelt! Agrarland zerstückelt! Verkehr produziert! Zukunft verbaut!
Das Rheintal 1950
Das Rheintal 2010
Die Gegenüberstellung dieser beiden beispielhaften Luftbilder hilft, Folgendes zu verdeutlichen:
- eine enorm hohe Siedlungsdynamik seit der Anwendung des Raumordnungsrechts gerade in den strukturstarken ländlichen Gebieten;
- die starke Zersiedelung, das heißt, eine ungeordnete Siedlungsentwicklung mit vielen Baulücken und von Bebauung eingeschlossenen Landwirtschaftsflächen;
- der sehr hohe Bodenverbrauch pro Bauanlassfall und pro Person: In Österreich werden (2020) täglich 13,4 ha Boden verbraucht, in Deutschland sind es (2017) 58. Pro Kopf verbrauchen wir also doppelt so viel wie unser Nachbarland. Österreich gilt als der unrühmliche „Europameister“ im Pro-Kopf-Verbrauch an Boden!
- Das ländliche Wegenetz, das ursprünglich die Hofstelle mit den Wirtschaftsflächen verbunden hatte, wurde für die Siedlungserschließung umgedeutet, ausgebaut und durch Stichstraßen unorganisch ergänzt.
- Es wurden enorm hohe Kostenbelastungen mit der Errichtung und Erhaltung einer unnötig weitläufigen Infrastruktur in Kauf genommen: So kostet der Bau von 1 km Gemeindestraße, Kanal, Wasserleitung, Gehsteig und Beleuchtung 1,2 Millionen Euro sowie 25.000 Euro pro Jahr an Folgekosten, wie Dallhammer in Flächen- und kostenintensive Siedlungsentwicklung (2016) beschreibt.
- Durch Hoch- und Tiefbau wurden äußerst beständige Strukturen geschaffen, die sich nur schwer korrigieren lassen;
- das auch in Zukunft nachgefragte Bauvolumen existiert bereits heute im überwiegenden Maß.
- Der Schutz der Naturgüter (Boden, Wasser, Luft, Flora und Fauna, Klima) in der raumplanerischen Abwägung wird stark an Bedeutung gewinnen müssen.
- Ein „Weitermachen wie bisher“ ist aus den genannten Gründen nicht mehr vertretbar!
Raumordnung – eine erweiterungsbedürftige Gesamtmaterie
Auf den ersten Blick erscheint es widersinnig, das Raumordnungsrecht als „erweiterungsbedürftig“ zu qualifizieren, zumal die Zahl der Novellierungen in jedem Bundesland gerade in den letzten Jahren stark zugenommen hat und damit allein der Umfang der Gesetzestexte erheblich angeschwollen ist. Doch – und das steht im Mittelpunkt dieser Betrachtungen – es hat sich trotzdem über die Jahrzehnte am „Erzählstrang“ des Raumordnungsrechts nichts Wesentliches geändert bzw. aufgrund der verfassungsrechtlichen Auslegung im Jahr 1954 nichts Wesentliches ändern können.
Das, obwohl die Fehlsteuerungen immer offensichtlicher wurden und die einzelnen ergänzten Neuerungen dem entgegenwirken sollten.
Diese brachten aber nicht den erhofften Effekt:
- Das Narrativ der Raumordnungsgesetze zielt nämlich bis heute darauf ab, zu bestimmen, nach welchen Regeln „die grüne Wiese“ in Siedlungsgebiete oder in lokale Verkehrswege umgewandelt werden soll. Es folgt der idealtypischen Vorstellung, dass noch unbebaute, als Freiland gewidmete Parzellen allein als Folge der Umwidmung in Bauland zeitnah erschlossen und dann unverzüglich zur Gänze ihren plangemäßen Widmungszweck durch die Eigentümer zugeführt würden. Mit anderen Worten, die zügige und geordnete Baureifmachung, ein allenfalls erforderlicher Eigentumsübertrag und die Bebauung würden sich als zwingende Folgen der Nutzungschance „Bauland“ quasi automatisch daraus ergeben. Das trat jedoch nicht ein. Der Realisierungsvorgang wurde in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht zu Ende geführt.
- Es hat sich vielmehr über die Jahrzehnte praktizierter Raumordnung eine relativ intransparente Gemengelage an unterschiedlichen Reifestadien der Bebaubarkeit beim gewidmeten Bauland herausgebildet, die in Summe die Zersiedelung und Zerschneidung sowie die damit verbundenen hohen Kulturlandverluste und Kosten verursachen. In Fachkreisen ist daher von „Legalzersiedelung“ die Rede, womit gemeint ist, dass die Wurzeln der Fehlsteuerung vor allem rechtlicher Natur sind, nämlich in „einer unrealistischen Arbeitsteilung zwischen zielsetzender öffentlicher Hand und der Realisierung durch Private“ (siehe Danielzyk, Zukunft benötigt Kooperation – Neues Politik- und Planungsverständnis 2003) liegen. Damit ist gemeint, dass schon das Höchstgericht in den Erläuterungen zu Erkenntnis VfSlg 2674/1954 festgestellt hat, dass Raumordnung ein komplexer Begriff „der vorsorgenden Planung einer möglichst zweckentsprechenden räumlichen Verteilung von Anlagen und Einrichtungen“ ist. Damit macht es deutlich, dass prinzipiell zwischen Planung und Umsetzung zu unterscheiden ist und der Verfassungsbegriff Raumordnung eben nur die Gesamtheit vorbereitender Überlegungen einer zweckmäßigen Entwicklung eines bestimmten Gebiets meint und nicht die einzelnen Schritte, die zur Verwirklichung konkreter Vorhaben führen, miteinschließt.
Hier soll nun in der gebotenen Kürze transparent gemacht werden, wo bei dieser engen Interpretation des Verfassungsbegriffs „Raumordnung“ im darauf aufbauenden Raumordnungsrecht die Quellen für räumliche Fehlentwicklungen liegen, weil eben auf zwingende Realisierungsanweisungen im Einzelfall verzichtet werden muss.
Fehlsteuerungen in der Raumordnung
Das Konstrukt der sogenannten Baulandtreppe kann dazu dienen, die Gemengelage der verschiedenen Reifestadien potenziellen Baulands zu benennen und die daraus erwachsenden Probleme („Stolpersteine“) im oben dargelegten Sinn zu identifizieren und die Folge fehlender Realisierungsanweisungen zu umreißen:
Die aufsteigende Baulandtreppe
1. Stufe: Freiland
Es sollte aufgrund seiner Lage und/oder seiner Bedeutung für die Landwirtschaft bzw. den Klimaschutz sowie den Naturschutz auf lange Sicht nicht einer Bebauung zugeführt werden.
Die Stolpersteine: Wiesen und Äcker sind allein durch die Widmung „Freiland“ oder „Grünflächen“ zu wenig geschützt, da sie als bloße „Restflächenwidmung“ vom Gesetzgeber definiert werden. Beispielweise heißt es in § 20 NÖ Raumordnungsgesetz: „Alle Flächen, die nicht als Bauland, Verkehrsfläche oder Vorbehaltsfläche gewidmet sind, sind Grünflächen“. Zudem sehen viele Grundeigentümer in dieser Widmung nur eine ruhende Baulandreserve.
Die Folge: Fehlende Realisierungsanweisungen führen in der Planungspraxis zu überbordenden Umwidmungen von meist landwirtschaftlich genutzten Flächen zu Bauland und Verkehrsflächen, da bereits einschlägig gewidmete Flächen nicht verfügbar sind.
2. Stufe: Bauerwartungsland
Hier werden fiktiv jene Flächen als „Bauerwartungsland“ bezeichnet, für die aus fachlichen Gründen Überlegungen gerechtfertigt erscheinen lassen, diese Flächen als Bauland oder Verkehrsflächen umzuwidmen und sie demnach aus der Grünflächenwidmung auszuscheiden (wie etwa Landwirtschaftsflächen im Anschluss an bereits bebautes Gebiet). Sie repräsentieren die eigentliche „Kampfzone“ zwischen Grünflächenerhalt und Baulandwidmung.
Die Stolpersteine: Auf nicht selten erheblichem Druck der Grundeigentümer werden seitens der Entscheidungsträger derartige Umwidmungen getätigt, obwohl bereits große Widmungsreserven an Bauland in der jeweiligen Kommune existieren. Zudem wird Bauerwartungsland vor dem Hintergrund der Nullzinspolitik im Bankwesen immer mehr Ziel von Spekulations- bzw. Veranlagungskäufen von Nichtlandwirten („Land pooling“).
Die Folge: Weil mangels Realisierungsdrucks viele bereits gewidmete Baulandflächen ungenutzt brach liegen, brechen fortgesetzt die Konflikte zwischen Grünflächenerhalt und Umwidmung in den Gemeindestuben auf. Dies hat immer negativere Auswirkungen, weil das Bauerwartungsland mittlerweile meist in raumplanerischen Ungunstlagen liegt, das heißt den Keim der Zersiedelung in sich trägt.
3. Stufe: Gewidmetes, noch unerschlossenes Bauland
Die Umwidmung in Bauland ist deshalb bei den Grundeigentümern so begehrt, weil sich allein aufgrund der Änderung der Flächenwidmung der Verkehrswert der Liegenschaft um ein Vielfaches im Vergleich zu seinem Wert als gewidmete Grünflächen erhöht. Durch diese Wertsteigerung eignen sich diese Flächen z.B. zur Sicherung von Hypothekarkrediten oder als Abfindungsportion für weichende Erben aus der Landwirtschaft.
Die Stolpersteine: In der Realität ist der in Österreich große Baulandüberhang (etwa 25 bis 30 Prozent des gewidmeten Baulandes je nach Bundesland, ausgenommen Wien) teilweise deshalb noch nicht zur Baureife geführt, weil die öffentliche Hand – oft über Jahrzehnte – ihrer Erschließungspflicht, die aus der Baulandwidmung erwächst, nicht nachgekommen ist. Vielfach strebt auch der meist bäuerliche Eigentümer die Erschließung und Verwertung dieser Liegenschaften gar nicht an, weil es sich dabei oft um unverzichtbare Produktionsflächen für die Landwirtschaft handelt.
Die Folge: Mangels Realisierungsdruckes sind unerschlossene Baulandflächen oft „Widmungsleichen“, das heißt, sie dienen fortgesetzt der landwirtschaftlichen Produktion sowie der Sicherstellung und stehen in der Realität für eine Bebauung nicht zur Verfügung.
4. Stufe: Erschlossenes, unbebautes Bauland
In nahezu allen Gemeinden gibt es Bauland, das ganz oder teilweise mit Straße, Wasser, Kanal und Strom versorgt ist, aber dennoch – oft seit Jahrzehnten – nicht bebaut wurde. Diese sogenannten Baulandbrachen gelten im volkswirtschaftlichen Sinn als „Millionengräber“, da die Baureifmachung viel Geld kostete und kostet, aber ihre hohe Erschließungsqualität nicht oder nur zu geringem Teil genutzt wird.
Stolpersteine: Obwohl es genügend gut aufgeschlossenes Bauland in raumplanerischen Gunstlagen gibt, muss mangels ihrer Verfügbarkeit die Erschließung immer weiter „auf die grüne Wiese“ hinausgetrieben werden. Die Erschließungskosten werden gerade im Fall der Einfamilienhausbebauung spät und in geringem Ausmaß auf die Verursacher übergewälzt. Zudem tragen ländliche Gemeinden etwa nur zu 16 Prozent die Erschließungskosten, die anfallen, um das von ihnen gewidmete Bauland zur Baureife zu führen.
Folge: Mangelnder Realisierungsdruck erschwert bzw. verunmöglicht die aktuell vielbeschworene Innenentwicklung und feuert stattdessen die mit unnötigen Kosten und Bodenverschleiß verbundene Außenentwicklung weiter an.
5. Stufe: Bebautes Bauland
Nach einem halben Jahrhundert angewandter Raumordnung in Österreich ist das Ergebnis ernüchternd: Die Zersiedelung, die einst der Verfassungsgerichtshof als die „Negativform menschlichen Siedelns“ bezeichnete, konnte nicht im erforderlichen Ausmaß vermieden werden. Damit meint wörtlich das Höchstgericht „das Ausufern der Städte in ihr Umland“, „das Ausufern der Bebauung in ländlich geprägten Gemeinden“ sowie „das Entstehen von Siedlungssplittern inmitten agrarisch genutzter Flur“.
Die Stolpersteine: Das zentrale Planungsinstrument für die Steuerung der Siedlungsentwicklung, der Flächenwidmungsplan, hat aufgrund des durch ihn produzierten Baulandüberhangs schon längst seine Steuerungskraft im Sinne einer konsequenten Zersiedelungsabwehr eingebüßt. Er kann seine Wirkkraft – wenn überhaupt – nur auf der „grünen Wiese“ entfalten und ist ohnmächtig im bereits bebauten Gebiet, wo es viele Baulücken und ein dementsprechend hohes Nachverdichtungspotenzial gäbe.
Die Folge: Mangels hoheitlicher Eingriffsmöglichkeiten in bereits bebaute Siedlungsbereiche bleiben das oft zitierte Schließen von Baulücken und die Hebung sonstiger Nachverdichtungspotenziale meist bloße planerische Wunschvorstellung, ohne die berechtigte Hoffnung, die „Verdichtung nach innen“ als Planungsgrundsatz verwirklichen zu können.
6. Stufe: Brachgefallenes bebautes Bauland
Als „Kind seiner Zeit“ wurde die Raumordnung ausschließlich auf die Steuerung von Siedlungswachstum ausgerichtet. Dementsprechend kann sie keine adäquaten Antworten darauf geben, dass es zunehmend vor allem in historisch gewachsenen Siedlungsgebieten zu Leerstand oder krasser Unternutzung von Gebäuden oder Gebäudeteilen kommt. Schleichend wandeln sich so einst vitale Kleinstadt- und Ortsteile zu von Schrumpfung und Niedergang gezeichneten Sanierungsgebieten.
Die Stolpersteine: Noch wird nicht wirklich erkannt, dass Innenentwicklung und Außenentwicklung in enger Beziehung zueinander stehen. Nachdem die Außenentwicklung an der Peripherie jahrzehntelang vorangetrieben wurde, ist es in vielen Fällen nahezu eine zwingende Folge, dass die Investitionsneigung und -kraft in den historisch gewachsenen Lagen oft fehlen. Österreichweit stehen laut Angaben des Umweltbundesamtes (2016) etwa 40.000 ha Gebäudeflächen leer. Statt prioritär ihre Weiterverwendung durchzusetzen, werden die Siedlungsräume durch Neubauten immer mehr ausgedehnt.
Folge: Die Raumordnung ist im bebauten Gebiet vom „Prinzip des Bestandschutzes“ geprägt, das heißt, sie ist nicht berechtigt, Zwangseingriffe in bestehenden Siedlungsräumen anzuordnen und auch durchzusetzen.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich eine große Zahl räumlicher Fehlentwicklungen über die Zeit österreichweit aufgebaut hat, deren sorglose Fortsetzung gerade vor dem Hintergrund vieler Zeitfragen existenzieller Dimension nicht weiter quasi als „Kollateralschäden der Wohlstandsmehrung“ toleriert werden dürfen. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an den Klimawandel, die Energiewende, den demografischen Wandel, das Artensterben, den Erhalt der Ernährungssouveränität, den Schuldenabbau der öffentlichen Hand u.a. Was dabei oft nicht erkannt wird, ist, dass diese auch erhebliche Lösungsbezüge zur Frage haben, wie wir in Zukunft unsere Lebensräume verantwortungsbewusster organisieren können.
Die Notwendigkeit der Erweiterung des Verfassungsbegriffs „Raumordnung“
Die Analyse des vorangehenden Abschnitts macht mehreres deutlich:
- Der von juristischer Seite definierte Verfassungsbegriff „Raumordnung“ ist dahingehend zu eng gefasst, als letztlich das Kalkül der Privaten die tatsächlichen Raumentwicklungen übergebührlich beeinflussen.
- Das Kalkül von Privaten wird vor allem von monetären Überlegungen und Sicherheitsdenken geleitet, was oft das öffentliche Interesse (das in den Zielkatalogen der Raumordnungsgesetze zum Ausdruck kommt und in sich nicht konsistent ist) durchkreuzt.
- In jüngerer Zeit ist in einigen Landesraumordnungsgesetzen eine gesetzliche Befristung von Neuwidmungen und sogar eine gesetzliche Befristung des bereits gewidmeten, aber noch unbebauten Baulandes eingeführt worden. Dahinter steht natürlich der den Erfahrungen und Zeitumständen geschuldete Wunsch der öffentlichen Hand, die Grenze zwischen „öffentlich“ und „privat“, zwischen „Planung“ und „Umsetzung“ sowie „Bestandsschutz“ und „Bestandseingriffen“ zu ihren Gunsten neu zu ziehen. Es ist durchaus ratsam, diesen Schritt durch eine einschlägige Verfassungsänderung sicherheitshalber abzustützen, ist doch ungewiss, ob nicht mit den Baugeboten die Grenze zwischen vorbereitenden Überlegungen in Richtung „Umsetzung“ zu weit verschoben wurde und dementsprechend nicht mehr vom Verfassungsbegriff „Raumordnung“ abgedeckt wird.
- Die Bausubstanz bzw. die Grundmuster der Erschließung existieren mehrheitlich schon, und so besteht die dringende Notwendigkeit, in diese dennoch seitens der öffentlichen Hand korrigierend eingreifen zu können. Dies vor dem Hintergrund, dass langfristig eine Bauflächen-Kreislaufwirtschaft angestrebt wird, in der so gut wie keine Neuversiegelungen mehr vorgenommen werden. Diese Verschiebung von „green field“ zu „brown field“ sollte neben hoheitlichen Eingriffen in die Bodenordnung, auch solche in die bestehende Bausubstanz ermöglichen.
Um diesem Ziel näher zu kommen, bietet es sich förmlich an, den Kompetenztatbestand „Volkswohnungswesen“ von derzeit Art. 11 B‑VG in Art 15 B‑VG überzuführen. Dies nicht zuletzt auch in Ergänzung zum bereits 2019 von Art. 12 B‑VG in Art. 15 B‑VG übergeführten Kompetenztatbestand „Bodenreform“. Damit würde eine Verschmelzung der nunmehr in die Landeszuständigkeit fallenden Kompetenztatbestände „Raumordnung“ , „Volkswohnungswesen“ und „Bodenreform“ zu einem neuen Verfassungsbegriff möglich werden. Es bietet sich an, diesen zeitangemessenen Tatbestand etwa „Raumentwicklung“ zu benennen. Mit dieser Bündelung könnte das Repertoire an erforderlichen hoheitlichen Interventionsmöglichkeiten erheblich erweitert werden, ohne latent Gefahr zu laufen, den geltenden Verfassungsbegriff „Raumordnung“ zu überdehnen.
Aus fachlicher Sicht ist an der Zuständigkeit des Volkswohnungswesens heute interessant, dass es prinzipiell hoheitliche Interventionsspielräume für aktuelle Umsetzungsfragen in der Raumentwicklung anbietet. Wie weit hier prinzipiell die Möglichkeiten gehen können, haben das Stadterneuerungsgesetz (BGBI 281/1974) und das Bodenbeschaffungsgesetz (BGBI 288/1974) veranschaulicht, in denen es um die Anordnung der Verwirklichung konkreter Baumaßnahmen, um Preisregelungsbefugnisse bei Bauland, die Baulandbeschaffung, aber auch um die Behebung städtebaulicher Missstände geht. Die Länder haben diese Bundesregelungen wegen der darin enthaltenen Androhungen von Enteignung (fast) nicht angewendet. Dadurch gelten diese beiden Gesetze nach 45 Jahren als „totes Recht“.
Das Raumordnungsrecht der Länder hat stattdessen über mehrere Jahrzehnte die Gemeinden auf den mühsamen Aushandlungsweg der Vertragsraumordnung verwiesen, bei der es ebenfalls um die Preisregelung eines Teils der zur Baulandwidmung anstehenden Baugrundstücke geht, die Mobilisierung von Bauland, die Beschaffung von Bauland für die Gemeinde bzw. für gemeinnützige Bauträger, aber auch um die Beteiligung der Privaten an den Erschließungskosten bei der Baureifmachung von gewidmetem Bauland. Beispielsweise kennt das Vorarlberger Raumplanungsgesetz deshalb „Verwendungsvereinbarungen“, „Überlassungsvereinbarungen“ und „lnfrastrukturvereinbarungen“.
Wesensgemäß schwebt über den Baulandverträgen latent der Vorwurf der Ungleichbehandlung im Einzelfall und damit der Verstoß gegen das Willkürverbot. Aber auch jener, dass sehr komplexe Sachfragen derjenigen Gebietskörperschaft, nämlich der Gemeinde, „umgehängt“ wird, die in vielen Fällen am schlechtesten dafür ausgestattet ist (wie etwa ländliche Kleingemeinden). Zudem ändert diese Lösung kaum etwas am Umstand, dass solcherart weiter private Interessen die öffentlichen Interessen unterlaufen können. Und nicht zuletzt leiden die Baulandverträge an dem Umstand, dass sie sich nur auf unbebautes Bauland beziehen und so die Außenentwicklung fördern, aber für die Innenentwicklung kaum Wirkung entfalten, respektive diese sogar untergraben.
Aus gegenwärtiger Sicht könnten mit dem erweiterten Kompetenztatbestand „Raumentwicklung“ beispielsweise folgende Eingriffe in den Immobilienmarkt in Erwägung gezogen werden:
- Ein gesetzlich verbrieftes Ankaufsrecht zugunsten der Gemeinde bzw. der von ihr Begünstigten im Falle der Nichteinhaltung gesetzlicher Bebauungsfristen
- Preisminderungsrechte z.B. im Zusammenhang mit der Vorbehaltsflächen für den förderbaren Wohnbau
- Festlegung eines zwingenden Anteils an förderbaren Wohnungen bei größeren Neubauprojekten
- Eingriffe in den Siedlungsbestand im Dienste von Klimawandelanpassung und Klimaschutz, wie z.B.: nachträgliche Verbesserung der Hochwasserresistenz von Gebäuden, Pflanzgebote, Entsiegelung von Freiflächen, Anlage von Wassermulden, zwingende Renaturierung von Wasserläufen auf privaten Liegenschaften
- Eröffnung der Fördermöglichkeiten für Entsiegelung, Rückbau und Abriss
- Anordnung der Verwirklichung konkreter Bauvorhaben wie auf Brachflächen, bei Gebäudeleerständen und Baulücken
Resümee
Wie eingangs erwähnt, erscheint es wenig zielführend, die Raumordnungskompetenz bloß zu verschieben. Viel zweckmäßiger wäre es, sie den Zeiterfordernissen entsprechend in materieller Hinsicht neu „aufzuladen“ und sie weiterhin bei den Ländern zu belassen. Auf dieser Ebene sammelt sich ein anwachsendes Bündel an raumrelevanten Kompetenzen. Denn gemeinsam mit dem Baurecht, der Wohnbauförderung, dem Grundverkehr, dem Naturschutz und Teilen des Agrarrechtes könnte gemeinsam mit dem neu zu schaffenden Kompetenztatbestand „Raumentwicklung“ die Schlagkraft der Länder im Hinblick auf eine zukunftsfeste Lebensraumentwicklung entscheidend erhöht werden.
Dazu wurden hier erste Überlegungen aus raumordnungspolitischer Hinsicht entwickelt. Mit ihnen verbindet sich die Hoffnung, dass vertiefende, weiterführende Schritte folgen werden.
GERLIND WEBER studierte Soziologie, Raumplanung und Rechtswissenschaften in Wien und wurde im Jahr 1991 als Universitätsprofessorin für Raumforschung und Raumplanung an die Universität für Bodenkultur Wien berufen. Bis zu ihrer Pensionierung 2012 leitete sie an der BOKU das Institut für Raumplanung und Ländliche Neuordnung. Heute kann sie auf über 300 wissenschaftliche Publikationen, ca. 500 Vorträge und ein breites Spektrum an raumwissenschaftlichen Studien verweisen. Sie lehrte an zahlreichen Universitäten und übte Gastprofessuren an der ETH Zürich und der Kyoto University aus. Professor Weber ist Mitglied in diversen Beiräten, Think Tanks, Fachjurien und Berufsverbänden. Sie lehrt in der Weiterbildung und postgradualen Ausbildung.