Staatsbürger oder Untertan?
Staatsbürger:innen und Untertan:innen, vertrauensvoll oder misstrauisch – die Meinungsforscherin Alexandra Siegl erklärt in ihrem Gastbeitrag das Verhältnis Österreichs zu seiner Politik.
Wie fit fühlen sich die Österreicherinnen und Österreicher, die Politik mitverfolgen und verstehen zu können? Fühlen sie sich von der Politik als mündige Staatsbürger:innen überhaupt ernst genommen?
Diese Frage war Ausgangspunkt eines gemeinsamen Projekts von Peter Hajek Public Opinion Strategies und dem Politologen Peter Ulram, bei dem auf Studien aus dem Fundus von Peter Ulram zurückgegriffen wurde, die teilweise bis in die siebziger Jahre zurückreichen. (Überwiegend Studien der GfK, die telefonisch oder persönlich durchgeführt wurden.) Die aktuellen Zahlen lieferte Peter Hajek Public Opinion Strategies mit einer Befragung der österreichischen Bevölkerung ab 16 Jahren mit 800 Befragten. (Kombination telefonische und Online-Umfrage, Feldarbeit 11. bis 14. Juli 2022)
Die sogenannte Elitenresponsivität – also inwieweit die Menschen das Gefühl haben, die handelnden Politikerinnen und Politiker stünden mit ihnen in Kontakt und würden sich um ihre Anliegen kümmern – liegt hierzulande auf niedrigem Niveau: 75 Prozent sind der Ansicht, Politiker:innen würden sich nicht viel darum kümmern, was Leute wie sie denken. 65 Prozent finden, Leute wie sie hätten keinen Einfluss auf das, was die Regierung tut.
Sieht man sich diese Fragen im Zeitverlauf an, zeigt sich eine Eintrübung: Mitte der siebziger Jahre waren zumindest noch 27 Prozent der Meinung, Politiker:innen würden sich um das kümmern, was Leute wie sie denken. Aktuell liegt dieser Wert nur noch bei 18 Prozent. Und fanden 1974 noch 19 Prozent, die Abgeordneten im Parlament würden nicht schnell den Kontakt mit dem Volk verlieren, sind nun nur noch 11 Prozent dieser Meinung.
Die Menschen sind heute jedoch etwas stärker der Meinung, Leute wie sie hätten Einfluss auf das, was die Regierung tut. Dieser Wert lag 1974 noch bei 18, mittlerweile liegt er immerhin bei 27 Porzent.
Deutlich positiver schätzen die Österreicherinnen und Österreicher ihre eigene Kompetenz ein, politische Prozesse mitverfolgen und beurteilen zu können. 65 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, einen guten Einblick in die wichtigsten Probleme des Landes zu haben. Sechs von zehn Österreicher:innen sehen sich als ausreichend qualifiziert, um am politischen Geschehen teilnehmen zu können. Die Politik wird aber durchaus auch als kompliziert wahrgenommen. 51 Prozent sind der Meinung, Politik sei manchmal so kompliziert, dass Leute wie sie kaum noch verstehen könnten, was vorgeht. 42 Prozent schätzen sich hingegen so ein, dass sie trotz aller Komplexität sehr wohl verstehen können, worum es politisch gerade geht.
Die Einschätzung der eigenen Kompetenz hat sich in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert. Betrachteten sich Ende der achtziger Jahre nur 38 Prozent als ausreichend qualifiziert, um am politischen Geschehen teilnehmen zu können, tun das mittlerweile ganze 60 Prozent. Auch einen Einblick in die wichtigsten Probleme des Landes traute sich Anfang der neunziger Jahre nur jeder Zweite zu. Und war 1974 nur ein Viertel der Meinung, verstehen zu können, was in der Politik vorgeht, auch wenn diese manchmal kompliziert ist, liegt dieser Wert jetzt bei immerhin 42 Prozent.
Hier spielen einerseits die Bildungsexplosion seit den siebziger Jahren sowie die Entwicklung und Ausdifferenzierung der Medienlandschaft eine wichtige Rolle, andererseits auch ein neues Selbstbewusstsein und Selbstverständnis der Menschen, das sich über die Jahrzehnte hinweg entwickelt hat.
Bürger:innen und politische Eliten haben sich also zunehmend auseinandergelebt: Auf der einen Seite hat die Bevölkerung stärker als früher den Eindruck, dass sich die Politik wenig um sie und ihre Bedürfnisse kümmert, auf der anderen Seite fühlen sich die Menschen selbst deutlich besser informiert und kompetenter beim Thema Politik, finden also umso mehr, dass die handelnden Akteure auf sie und ihre Meinungen hören sollten.
Kombiniert man die Einschätzung der eigenen Kompetenz, politische Prozesse erfassen zu können, mit der Wahrnehmung der Politiker:innen, ergeben sich vier Typen:
- Die größte Gruppe ist mit 58 Prozent jene der „misstrauischen Staatsbürger:innen“ – also Menschen, die sich selbst als absolut in der Lage betrachten, der Politik folgen zu können, die das Ausmaß, in dem die Politikerinnen und Politiker sie und ihre Anliegen ernst nehmen, aber als niedrig einschätzen. Diese Gruppe ist, wie die vorangegangenen Zeitvergleiche zeigen, in den letzten Jahrzehnten deutlich gewachsen.
- Die zweitgrößte Gruppe wurde als „misstrauische Untertan:innen“ bezeichnet, also Menschen, die Politikerinnen und Politiker kritisch sehen und sich wenig ernstgenommen fühlen, die aber gleichzeitig auch ihre eigene Kompetenz, politische Prozesse mitverfolgen und verstehen zu können, als nicht so hoch einschätzen.
- 10 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher sind der Gruppe der „vertrauensvollen Staatsbürger:innen“ zuzurechnen. Sie schätzen sowohl ihre eigene Kompetenz in politischen Belangen als auch die Responsivität der politischen Eliten als hoch ein.
- Nur 4 Prozent der Bevölkerung, hier als „vertrauensvolle Untertan:innen“ bezeichnet, schätzen die eigenen Fähigkeiten, der Politik folgen zu können, als eher gering ein, finden aber, dass die Politik durchaus um sie und ihre Bedürfnisse bemüht ist. Diese Gruppe ist in den letzten Jahrzehnten sukzessive geschrumpft.
Interessant ist, wie sich diese vier Gruppen auf die Wähler:innen der Parlamentsparteien verteilen. Dabei ist vor allem die Einschätzung der handelnden Politiker:innen auch davon geprägt, ob die eigene Partei gerade Teil einer Regierung ist. Das ist wohl auch ein Erklärungsfaktor dafür, dass der Anteil an „vertrauensvollen Staatsbürger:innen“ bei ÖVP- und Grün-Wähler:innen aktuell am höchsten ist. Doch auch die Wähler:innenschaft der NEOS liegt mit einem Wert von 24 Prozent in einer ähnlichen Größenordnung. Eine Rolle spielen hier auch sozioökonomische Faktoren wie durchschnittlich höhere Bildungsabschlüsse und Einkommen dieser Wähler:innengruppen, die mit einer höheren Zufriedenheit mit der Politik und einer besseren Einschätzung der eigenen Kompetenz einhergehen.
Bei den SPÖ-Wähler:innen ist die Gruppe der „misstrauischen Staatsbürger:innen“ deutlich größer. Die FPÖ-Anhänger:innenschaft besteht derzeit überhaupt nur aus Gruppen, die dem politischen System kritisch gegenüberstehen. Auch hier machen die „misstrauischen Staatsbürger:innen“ den größten Anteil aus, immerhin 26 Prozent sind jedoch der Gruppe der „misstrauischen Untertan:innen“ zuzurechnen, beschäftigen sich also auch selbst weniger mit Politik.
Große Unterschiede gibt es auch zwischen soziodemografischen Gruppen. So fallen Menschen ohne Matura deutlich stärker in die Gruppe der „misstrauischen Untertan:innen“ als Menschen mit Matura oder akademischen Abschluss.
Auch Frauen schätzen ihre eigenen politischen Kompetenzen niedriger ein und sind häufiger dieser Gruppe zuzuordnen. Dieses selbstkritischere Antwortverhalten von Frauen zeigt sich auch in vielen anderen Umfragen. Frauen neigen im Durchschnitt eher dazu, ihr eigenes Wissen niedriger einzuschätzen, während Männer sich eher über- als unterschätzen.
Betrachtet man die verschiedenen Altersgruppen, zeigt sich, dass die mittlere Altersgruppe ihre eigene Kompetenz höher einschätzt als unter 30-Jährige und über 60-Jährige. Gleichzeitig überwiegt in dieser Altersgruppe das Misstrauen, was sich mit Ergebnissen anderer Umfragen deckt.
Was heißt das nun also? Die bessere Einschätzung der eigenen Kompetenz im politischen Feld ist zweifellos als positive Entwicklung zu verbuchen, geht aber natürlich auch mit einer kritischeren Grundhaltung gegenüber den handelnden Politikerinnen und Politikern einher.
Diese stehen vor der Herausforderung, den Menschen wieder glaubhafter zu vermitteln, Interesse an ihnen und ihren Anliegen zu haben – und nicht nur daran, die nächste Wahl zu gewinnen.
Die aktuelle Krisenphase, die mit großer Unzufriedenheit mit der Politik einhergeht, ist dafür auf den ersten Blick ein schwieriger Zeitpunkt. Auf den zweiten Blick ist sie aber vielleicht sogar ein sehr guter, schließlich nehmen die Menschen politische Handlungen in Zeiten von Kaufkraftverlust, Klimawandel und ausklingender Pandemie wahrscheinlich stärker wahr, als in „Schönwetterphasen“, in denen man auch ganz gut alleine zurechtkommt.
ALEXANDRA SIEGL ist Senior Consultant bei Peter Hajek Public Opinion Strategies und beschäftigt sich seit 15 Jahren mit Politik und politischen Einstellungen und Stimmungsströmungen in der Bevölkerung. Sie studierte Betriebswirtschaft und Politische Kommunikation und lehrt an der FH Kärnten.