Allah und die Linke
Ob nach der Ermordung von Samuel Paty, dem Attentat auf Salman Rushdie oder dem Tod von Mahsa Amini, der jungen Iranerin, die ihr Leben verlor, weil sie ihr Kopftuch „unislamisch“ trug: Aus Furcht, Rechten Zündstoff zu liefern, schweigt die parteipolitische und außerparlamentarische Linke auffallend zum Thema Islam. Der „Islamophobie“-Vorwurf soll Kritiker:innen mundtot machen. Es ist an der Zeit, die Zurückhaltung im Umgang mit dem politischen Islam aufzugeben. Galt nicht Religionskritik spätestens mit Voltaire einmal als Selbstverständlichkeit?
Vor wenigen Wochen: Weil sie in einer Teheraner U-Bahn ihr Kopftuch „unislamisch“ trug, war die 22-jährige Iranerin Mahsa Amini von der staatlichen Sittenpolizei verhaftet worden. Sie hatte gegen die strengen Bekleidungsvorschriften verstoßen. Eine Gehorsams-Verweigerung – auch ein kleines Stück Selbstbestimmung. Dafür hatte man ihr zuerst die Freiheit, dann das Leben genommen.
Man hatte sie getötet, weil die Regierungs-Oligarchie und die Mullahs nichts so hassen wie selbstbestimmte Frauen. Erst vor wenigen Wochen hatte Präsident Raisi eine neue Anordnung „zur Förderung der Moral, für den Hidschab und Keuschheit“ erlassen, die die Kleidung von Frauen im öffentlichen Raum noch stärker als bisher einschränkt. Darin wurde die Sittenpolizei ermutigt, mit harter Hand gegen Frauen mit „unislamischer“ Kleidung vorzugehen. Seither berichteten Frauen immer häufiger, wie sie von Moralwächtern in Transporter gezwungen werden, in Zentren der Sittenwächter gebracht, dort beschimpft und geschlagen werden.
Eine von ihnen war Mahsa Amini.
Weltweit ist über den Tod von Mahsa Amini berichtet worden. Auch über die öffentlichen Proteste mutiger Frauen im Iran, ihrem Kampf gegen den staatlichen Disziplinierungs- und Unterdrückungs-Apparat, gegen religiösen Fanatismus des Mullah-Regimes – für mehr Selbstbestimmung.
Im linken Medien-Universum unterblieb der Aufschrei. Der Kampf iranischer Frauen gegen religiöse Bevormundung und Selbstbestimmung reduziert sich auf nachrichtliche Bestandsaufnahmen. Die Linke übt sich in politischer Lethargie. Keine eindeutige Verurteilung des islamistischen Wahns, keine Verurteilung des Regimes und seiner menschenverachtenden Wirklichkeit. Wieder einmal – und nicht zum ersten Mal.
Rückblende: Am 16. Oktober 2020 wurde der 47-jährige Lehrer Samuel Paty nahe seiner Schule im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine auf offener Straße enthauptet. Die Tat war barbarisch. Der Täter: Abdullah Ansorow, ein islamistisch motivierter 18-Jähriger tschetschenischer Herkunft. Patys „Verbrechen“: In seiner Unterrichtsstunde zur Meinungsfreiheit hatte er Mohammed-Karikaturen aus der Satirezeitschrift Charlie Hebdo gezeigt. Er wollte Denken lehren, nicht Glauben.
Der Mord löste Entsetzen aus. Präsident Macron hielt danach auf einer Trauerfeier ein Plädoyer für Meinungsfreiheit und verteidigte die religionskritischen Karikaturen und Texte. Dafür bekam er viel Kritik, vor allem in der islamischen Welt. Das sunnitische Rechtsinstitut Al Azhar in Kairo verurteilte Macrons Aussagen als „rassistisch und dazu geeignet, die Gefühle von zwei Milliarden Muslimen in der Welt entflammen zu lassen“. Kurz darauf kam es zu „entflammten“ Protesten in muslimischen Ländern und zu Boykottaufrufen gegen Frankreich. Beschämend aber: Macron erhielt kaum Rückendeckung aus Europa, auch nicht aus Deutschland, nicht aus Österreich. Keine klaren Worte aus der Politik. Keine Zeitung druckte die Karikaturen (über die Paty aufklären wollte) nach, nirgendwo gab es Solidaritäts-Demonstrationen. Man blieb im Allgemeinen, verurteilte den „Terror, woher auch immer er kommt“. Von religiösem Wahn wollte niemand reden.
Nach Paris kam Nizza, dann Wien: Allahs verwirrte Bodentruppen setzten ihren mörderischen Amoklauf fort. Er ist der blutige Begleitrahmen eines Prozesses, der seit einigen Jahren im Gang ist: die Einschüchterung des Denkens, die Bekämpfung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, einschließlich des Rechts auf Spott. Dass der mörderische Terror „nichts mit dem Islam zu tun hat“, das behaupten gerne weite Teile des linken Polit-Milieus. Wer den Islam als doktrinäre, meinungs- und frauenfeindliche Ideologie brandmarkt, wird schnell des Rassismus verdächtigt. Der Begriff Islamophobie wird zum Verteidigungs-Kampfbegriff gegen jede Kritik am Islam gemacht. Das kritische linke Weltbewusstsein – ansonsten jederzeit und allerorten abrufbar – kommt zum Erliegen. Eine fragwürdige linke Einäugigkeit. Was ist da los?
Warum schweigt die politische Linke, präziser: das linksliberale Moralmilieu, wenn die Werte der Aufklärung durch fundamentalistische Islamisten bedroht werden? Wie ist es möglich, dass einer sich als emanzipatorisch verstehenden Linken ausgerechnet in der Auseinandersetzung mit dem Islam ihre Sprache abhandenkommt? Man sollte meinen, für Aufklärung und Freiheit zu kämpfen, gehöre zur politischen DNA der kulturell-politischen Linken.
Schon nach dem Mordanschlag auf die Charlie Hebdo-Redaktion am 7. Januar 2015, als zwei maskierte Täter in die Pariser Redaktionsräume der Satire-Zeitschrift eindrangen und elf Menschen bestialisch ermordeten (darunter ein zum Personenschutz abgestellter Polizist und ein weiterer Polizist auf der Flucht), gab es zahlreiche französische linke Intellektuelle, die die „Verantwortungslosigkeit“ des Satiremagazins beklagten. Sie machten Charlie Hebdo letztlich selbst für das Blutbad verantwortlich, weil Zeichnungen im Blatt immer wieder islamfeindlich gewesen seien. Beispielsweise auf einer Titelseite aus dem Jahr 2006, die Kurt Westergard gewidmet war, der wegen seiner Karikaturen in der dänischen Tageszeitung Jyllands-Posten ebenfalls von Fundamentalisten mit dem Tod bedroht worden war. Was war auf dem Titelblatt zu sehen?
Mohammed beklagt sich. Er wird von Fundamentalisten überrollt!
Ein bärtiger Mann mit Turban hält seinen Kopf zwischen den Händen. Er weint oder ist sehr ärgerlich. In der Sprechblase steht: „Schon hart, wenn einen Idioten lieben.“ Der Prophet beklagt sich also über die Haltung seiner fanatischen Anhänger. In einer aufgeklärten, freien Gesellschaft nennt man das politische Karikatur. Nicht jeder muss über diese Karikatur schmunzeln, jeder darf sich beleidigt fühlen. Aber Frankreich hat den Blasphemie-Paragraphen, dieses „imaginäre Verbrechen“ (Jaques de Saint Victor) schon 1871 abgeschafft.
Die Beschwörung des „Respekts vor religiösen Anschauungen“
In der Beschwörung des „Respekts vor religiösen Anschauungen“ sind sich alle Religionen einig, und mittlerweile nicht nur die. Pochten früher nur ultra-religiöse und konservative Kreise auf unbedingte Einhaltung der „Gewissens- und Religionsfreiheit“ (deren Einschränkung ja nirgendwo propagiert wird, allenfalls das Recht, Religionen, ihre Dogmen und Verkünder zu kritisieren oder diese zu verspotten), machen sich mittlerweile auch vermeintlich progressive, antirassistische Bewegungen für die Einschränkung oder Abschaffung der Meinungsfreiheit stark.
Das Bündnis zwischen Religionsvertretern und progressiven Denkern sagt viel aus über die geistige dogmatische Verwandtschaft. Alle diese Bedenkenträger äußern, dass die „Laizität“ achtenswert sei, „solange sie alle religiösen Anschauungen“ akzeptiere. Dabei hat der Laizismus stets die Gläubigen, nie aber eine einzige Religion beschützt. Viele halten politische Karikaturen, in denen Propheten und Götter nach Gusto des Zeichners „sichtbar“ gemacht werden, für strafwürdige Blasphemie und Charlie Hebdo nach wie vor für eine islamophobe, rassistische Zeitung. Ein heuchlerischer Vorwurf.
Während die Kritik an den Kirchen und am Christentum – inklusive derber Witze über Papst und Klerus – als legitim betrachtet wird, wird Kritik am Islam mit dem Vorwurf der Islamophobie zum Schweigen gebracht. Gerne mit dem Hinweis, dass es sich dabei um die Religion einer Minderheit handelt, die häufig rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sei.
Tatsache ist: Wenn es um den politischen Islam geht, ist ein großer Teil der Linken bislang fatalerweise sprachlos. Sie sollte ihr unangenehm auffälliges Schweigen beenden. Es steht der Vorwurf im Raum, in linken Weltbildern gebe es „richtige“ und „falsche“ Opfer oder Täter. Das linke Schweigen ist ignorant und beschämend.
Und es wird ausgenutzt. Es ermöglicht den Fundamentalisten einerseits und Funktionären der muslimischen Verbände anderseits, den öffentlichen Diskurs und das kollektive Bewusstsein zu besetzen. Beispielsweise wenn sie auf die Straße gehen. Nicht gegen den Terror irrsinniger Glaubensbrüder oder für Meinungs- und Religionsfreiheit, noch weniger aus Solidarität mit den Opfern und deren Angehörigen. Ihr demonstrativer Abwehr-Mechanismus: „Es ist nicht unsere Schuld, wir müssen uns nicht rechtfertigen.“
Freilich, es gab – auch wenn das mehr als drei Jahrzehnte zurückliegt – einzelne Zeichen auch linker Solidarität gegen den Islamismus. Etwa 1989, als Salman Rushdies Satanische Verse erschienen und der iranische Revolutionsführer Ajatollah Khomeini mit einer Fatwa dazu aufrief, den Schriftsteller wegen Gotteslästerung zu töten. Die linke TAZ aber wollte sich nicht nur auf die Berichterstattung beschränken und veröffentlichte – auch, weil kaum jemand die Satanischen Verse kannte – auf ihrer Titelseite verteufelte Auszüge aus dem Buch mit einem Foto von Salman Rushdie. Ein mutiges Bekenntnis der Solidarität und ein eindeutiges Plädoyer für Meinungsfreiheit, zumal sich andere angesehene Tageszeitungen eher bedeckt hielten.
Seither war Rushdie immer gefährdet, und er wusste dies auch. Unverhohlen wollte und will das iranische Mullah-Regime den britisch-indischen Schriftsteller umbringen lassen – seit 34 Jahren. Begründet wird dieses Todesurteil damit, Rushdies Buch sei nach wie vor „gegen den Islam, den Propheten und den Koran“.
Politiker und Intellektuelle haben Rushdie im Stich gelassen
Trotzdem hat er sich in den letzten Jahren in der Öffentlichkeit gezeigt, hat weitere Bücher verfasst und Vorträge gehalten. Seit der Jahrtausendwende lebte er überwiegend in New York City, wo er nun vor wenigen Wochen kurz vor Beginn einer öffentlichen Veranstaltung über die USA als „Ort des Asyls für Autoren und andere Künstler und als Heimat der Redefreiheit“ von einem 24-jährigen islamistischen Fanatiker mit einem Messer attackiert und schwer verletzt wurde. Rushdie hat überlebt.
„Bei diesem Angriff ist niemand anderer als Salman Rushdie und seine Unterstützer verantwortlich zu machen oder gar zu verurteilen.“
Nasser Kanaani, iranischer Regierungssprecher
Indem er die „heilige Sache des Islam“ beleidigt und damit für mehr als 1,5 Milliarden Muslime rote Linien überschritten habe, habe sich Rushdie „selbst dem Volkszorn ausgesetzt“, sagt ein iranischer Regierungssprecher. Niemand habe das Recht, der Islamischen Republik Iran die Schuld zuzuweisen, so Kanaani. Eine infame, abstruse Schuldzuweisung. Und doch meinen gläubige Islam-Experten einmal mehr, davor warnen zu müssen, den Islam generell zu kritisieren. Sie sehen in dem Attentäter – wieder einmal – einen verwirrten Einzelgänger. Eine bequeme Realitätsverweigerung.
Für Hamed Abdel-Samad, den ägyptisch-deutschen Politikwissenschaftler und Autor islamkritischer Bücher, ist das pure Heuchelei. In einem Interview mit der Zeit macht er seinem Ärger Luft:
„Mich macht wütend, wenn es im Westen heißt, islamistische Attentäter seien nur einzelne Spinner, auch dürfe man religiöse Gefühle nicht verletzen. Das ist keine Toleranz, sondern Heuchelei – sie schafft Rückzugsräume für autoritäre Subkulturen. Westliche Politiker und Intellektuelle haben Rushdie im Stich gelassen, weil sie nicht zur Meinungsfreiheit standen.“
Hamed Abdel-Samad
Tatsache ist, auch diesmal berichteten alle Medien über das Attentat. Niemand aber hatte den Mut, Auszüge aus den Satanischen Versen zu veröffentlichen. Warum eigentlich nicht?
Ob links, liberal oder konservativ: Alle müssen die Stimme erheben, weil es auch ihre proklamierten Werte sind, die bei ausnahmslos jedem islamistischen Terroranschlag mit Füßen getreten und mit Sprengsätzen in die Luft gejagt werden. Es geht um den Kampf gegen Terror und religiöse Anmaßung – um die Verteidigung der Weltlichkeit unseres demokratischen Verfassungsstaates und gegen religiösen Wahn.
HELMUT ORTNER hat bislang mehr als zwanzig Bücher, überwiegend politische Sachbücher und Biografien, veröffentlicht. Zuletzt erschienen: „Widerstreit: Über Macht, Wahn und Widerstand“ und „Volk im Wahn – Hitlers Deutsche oder Die Gegenwart der Vergangenheit“ (April 2022). Seine Bücher wurden bislang in 14 Sprachen übersetzt.