Die EU-Armee: Eine Vision im Realitätscheck

Im Mai dieses Jahres feierte Europa den 80. Jahrestag der Befreiung von einer mörderischen Diktatur: Die Alliierten erkämpften 1945 die Freiheit für unseren Kontinent. Der nationalsozialistische Angriff auf Freiheit, Frieden und Sicherheit wurde – unter großen Opfern – zurückgeschlagen.
Auch in Österreich war der Jahrestag der Befreiung von Hitlers Drittem Reich Anlass für zahlreiche Reden, die die offensichtlichen Lehren aus unserer Geschichte für die Gegenwart betonten. Bundespräsident Alexander Van der Bellen brachte die Essenz des Gedenkens auf den Punkt: „Der Europatag ist ein Auftrag für Frieden, Freiheit und Sicherheit. (…) So stark, wie unsere Werte angegriffen, unsere Freiheit bedroht und unsere Lebensweise in Frage gestellt wird, mindestens so stark sollten wir sie verteidigen.“
Freiheit verteidigen: Eine historische Verpflichtung
Die Feinde der offenen Gesellschaft wurden zurückgeschlagen. Der Kampf hat sich – trotz des hohen Preises – gelohnt. Die zentrale Lektion: Wir stehen für unsere europäischen Werte ein und sind bereit, diese auch unter Aufbringung von Opfern zu verteidigen.
Vor dem Hintergrund dieser historischen Lektionen und der aktuellen, wieder wachsenden Bedrohungen stellt sich die drängende Frage: Wie genau soll Europa seine Werte heute verteidigen? Eine Vorstellung hat sich dabei unweigerlich ins Zentrum der Debatte gerückt und scheint vielen als die logische Antwort: Ein geeintes Europa soll als Bollwerk gegen autokratische Mächte bestehen, als wirksamer Verteidiger von Menschenrechten, Demokratie und Freiheit. Dieses überzeugende Ideal mündet oft in der Vision der Vereinigten Staaten von Europa, deren militärisches Rückgrat dann eine Europäische Armee bilden soll.
Diese Forderung findet sich mittlerweile in zahlreichen Parteiprogrammen (siehe ganz unten) wieder. So haben sich beispielsweise auch NEOS diesem Ziel verschrieben und fordern „eine Europäische Freiwilligenarmee unter gemeinsamer politischer Führung, gemeinsamem Oberbefehl und parlamentarischer Kontrolle, um die europäische Souveränität zu jedem Zeitpunkt sichern und verteidigen zu können.“
Dies wird oft als die logische und notwendige nächste Stufe der europäischen Integration präsentiert, ein wohlklingendes Ideal. Doch genau dieses Wohlgefühl täuscht. Die oft beschworene „Europäische Armee“ ist keine innovative Lösung, sondern eine Idee mit langer, glückloser Geschichte.
Eine alte Idee, neu verpackt
Tatsächlich ist die Idee einer europäischen Armee bemerkenswert alt: Winston Churchill, die Ikone für Europas Widerstandskraft, formulierte sie bereits 1950 im Europarat. Die gemeinsame Armee sollte einem gemeinsamen europäischen Verteidigungsminister unterstehen und in das strategische Kommando der NATO eingebettet sein. Kontrolle und Legitimation sollten durch eine europäische Versammlung und einen supranationalen Gerichtshof gewährleistet werden. 1952 unterzeichneten sechs Staaten den Vertrag zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG). Zwei Jahre später scheiterte das Projekt jedoch im französischen Parlament. Damit war die Vision einer europäischen Armee – und einer vertieften politischen Union – vorerst blockiert.
Mit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 erhielt die Vision einer EU-Armee neue, dringende Aktualität. In einer nun offensichtlich brüchigen internationalen Weltordnung wurde sie von vielen als unverzichtbarer Garant für europäische Unabhängigkeit gefeiert, als Ausweg aus der ineffizienten Fragmentierung nationaler Verteidigungsmärkte und als überfälliger Schritt hin zu den „Vereinigten Staaten von Europa“.
Bemerkenswert ist, dass ausgerechnet Wladimir Putin die Idee einer EU-Armee offen begrüßt – derselbe Mann, dessen fortgesetzter Angriffskrieg die größte Sicherheitskrise Europas seit 1945 ausgelöst hat. 2018, als Emmanuel Macrons Vorstoß für eine EU-Armee zu transatlantischen Spannungen führte, erklärte Putin im russischen Staatsfernsehen: „Europe is a powerful economic entity, a powerful economic union and it is quite natural that it wants to be independent, self-sufficient and sovereign in matters of defense and security.“
Was nach diplomatischer Anerkennung klingt, offenbart Putins wahres Kalkül: Eine EU-Armee würde genau das erreichen, was Russland und China seit Jahren anstreben – die Spaltung des Westens, die Schwächung der transatlantischen Bindungen und die Destabilisierung jener NATO, die Europa seit 1949 schützt. Der Kreml befürwortet nicht zufällig eine Initiative, die Europa von Amerika trennen und damit verwundbarer machen würde. Dass die Befürworter diese offensichtliche Warnung ignorieren, zeigt wie sehr sie die Lehren der Geschichte verdrängen: Europas Freiheit wurde 1945 durch konkrete alliierte Kooperation erkämpft, nicht durch abstrakte Konzepte.
Verlockende Versprechen
Trotz Putins verräterischem Beifall halten die Befürworter an einer Vision fest, die eine Reihe von verlockenden Versprechen in sich birgt:
- Europas Sicherheit gegenüber Russland stärken
- Strategische Unabhängigkeit von den USA gewinnen
- Militärische Effizienz durch Standardisierung steigern
- Europäische Rüstungsmärkte integrieren
- Kriseneinsätze eigenständig führen
- Europäische Identität durch gemeinsame Streitkräfte fördern
- All dies, ohne nationale Neutralität aufzugeben
Dazu kommt: Da die EU-Armee so fern jeder Realisierung ist, muss kein einziger Euro dafür budgetiert werden. Mit dieser kostenlosen Illusion lässt sich europäische Solidarität vortäuschen, ohne reale Verteidigungsbeiträge zu leisten.
Drei Modelle, ein Problem: Begriffsverwirrung
Warum hält sich diese Utopie so hartnäckig? Nicht trotz, sondern wegen ihrer Unbestimmtheit.
Die Befürworter einer EU-Armee vermeiden es, der Vision klare Konturen zu geben. Gerade diese Unschärfe macht sie attraktiv: eine Projektionsfläche, auf die sich alles laden lässt – von strategischer Autonomie über Effizienz bis hin zu europäischer Identität.
Diese Begriffswillkür ist kein Mangel, sondern Methode. Wie Humpty Dumpty in Alice im Wunderland können EU-Armee-Befürworter sagen: „Wenn ich ein Wort gebrauche, dann bedeutet es genau das, was ich will – nicht mehr und nicht weniger.“ So verschwimmen unter dem Begriff „Europäische Armee“ drei völlig unterschiedliche Konzepte:
- eine Zusatzarmee neben den nationalen Streitkräften,
- eine verstärkte Zusammenarbeit, die oft mit der Stärkung der „Europäischen Säule“ innerhalb der NATO gleichgesetzt wird
- sowie eine vollintegrierte europäische Armee unter gemeinsamem Oberbefehl – wie sie etwa NEOS im Parteiprogramm fordern.
Jedes Modell hat eigene Voraussetzungen, eigene Ziele, eigene Probleme – doch genau diese Unterschiede verschwimmen in der Debatte bewusst.
Modell 1: Eine zusätzliche Armee
Nationale Armeen blieben bestehen, während eine weitere Armee aus Kontingenten aller Mitgliedstaaten zusammengestellt würde. Die bisherige Bilanz ernüchtert: Die EU-Battlegroups existieren seit 2007, wurden nie eingesetzt. Die 2022 beschlossene Rapid Deployment Capacity droht dasselbe Schicksal zu erleiden. Der Grund: Die EU-Staaten können sich nicht auf Einsätze einigen. Das Ergebnis: Mehrkosten ohne Effizienzgewinne. Gegen Russland wäre diese Truppe bedeutungslos.
Das zentrale Problem liegt in der Finanzierung: Zusätzliche Kosten sind gegenüber der Bevölkerung kaum vermittelbar, wenn EU-Staaten bereits Schwierigkeiten haben, gestiegene Verteidigungsausgaben zu rechtfertigen. Zudem verschärft der demografische Wandel die Rekrutierungsprobleme. Deshalb beschränken sich solche Vorschläge meist auf kleine Interventionskräfte für Auslandseinsätze. Für die Territorialverteidigung oder glaubwürdige Abschreckung Russlands reichen diese Kräfte jedoch nicht aus. Die großen Versprechen der EU-Armee – Effizienzgewinne, Vermeidung von Doppelstrukturen, strategische Autonomie – kann dieses Modell nicht einlösen.
Modell 2: Verstärkte europäische Kooperation
Der Vorschlag zur Stärkung der Verteidigungskooperation der EU-Staaten innerhalb der NATO zielt auf die Optimierung und Harmonisierung bestehender Strukturen und Fähigkeiten ab. Mit dem „Strategischen Kompass“ hat sich die Europäische Union zu diesen Zielen verpflichtet, insbesondere zur Verbesserung der Interoperabilität der Streitkräfte und zur gemeinsamen Schließung kritischer Fähigkeitslücken.
Dieser Ansatz, der oft als „Europäische Säule“ der NATO bezeichnet wird, erscheint sinnvoll, birgt jedoch einige Herausforderungen: Großbritannien, Norwegen und die Türkei sind zwar Teil der „Europäischen Säule“ der NATO, aber keine EU-Mitglieder. Und umgekehrt sind nicht alle EU-Mitgliedstaaten NATO-Mitglieder, was Fragen hinsichtlich der Verteidigung der neutralen Länder wie Irland, Malta, Österreich und Zypern aufwirft.
Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass es sich bei diesem Modell nicht um die Schaffung einer eigenständigen, gemeinsamen europäischen Armee handelt. Die nationale Souveränität der EU-Staaten im Bereich Verteidigung bleibt gewahrt. Wer unter „EU-Armee“ lediglich den Ausbau der europäischen NATO-Säule versteht, bewegt sich zwar im Rahmen der NATO-Strategie, meint aber in Wirklichkeit eine vertiefte Einbindung in das Atlantische Bündnis, die auch die Frage der Neutralität neu stellt – und eben keine neue, eigenständige Streitmacht.
Der Ruf nach einer „EU-Armee“ läuft bei diesem Modell letztlich auf ein noch engeres Bekenntnis zur NATO hinaus – nicht auf echte Eigenständigkeit.
Modell 3: Die einheitliche, vergemeinschaftete Europäische Armee
Die einheitliche EU-Armee entspricht im Wesentlichen der Idee der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft der 1950er Jahre. Nationale Armeen würden in einer einheitlichen EU-Armee zusammengefasst. Befehl und Kommando dieser Armee wären zentralisiert. Der Effizienzgewinn erscheint enorm, da diese Armee über eine Million Soldaten und umfangreiches Equipment verfügen würde. Durch die Integration könnte die Vielzahl von unterschiedlichen Waffensystemen drastisch reduziert werden, was zu Kosteneinsparungen und höherer Einsatzfähigkeit führen würde.
Eine einheitliche EU-Armee wäre nicht nur eine organisatorische Reform, sondern ein Integrationsschritt von historischer Tragweite. Umso bemerkenswerter ist es, dass die politische Debatte den Begriff vage hält.
Die unüberwindbaren Hindernisse der EU-Armee
Der fundamentale Einwand gegen eine EU-Armee ist simpel: Europa hat bereits das effektivste Militärbündnis der Geschichte. Die NATO sichert seit 75 Jahren den Frieden, schützt 96 Prozent der EU-Bevölkerung und bindet Amerikas militärische Übermacht – einschließlich Nuklearschirm – fest an Europa.
Eine EU-Armee würde diese bewährte Struktur nicht ergänzen, sondern untergraben. Sie würde Ressourcen abziehen, Doppelstrukturen schaffen und den Westen spalten – genau das, was Putin will. Die Vorstellung, Europa könne parallel zur NATO „strategische Autonomie“ erlangen, ignoriert die Realität: Interoperabilität, gemeinsame Standards, integrierte Kommandostrukturen – all das leistet die NATO bereits.
Warum ein funktionierendes Bündnis durch ein ungetestetes Experiment ersetzen? Es gibt keinen rationalen Grund, die transatlantische Sicherheitsarchitektur zu gefährden, die Europa seit Generationen schützt.
Nationale Identität und die Streitkräfte
Armeen sind tief in nationaler Identität verwurzelt. Während Länder wie Deutschland und Österreich aufgrund ihrer Geschichte ein zwiespältiges Verhältnis zum Militär pflegen und die Auflösung ihrer Armeen theoretisch diskutierbar erscheint, sind Streitkräfte in Frankreich, Polen oder Griechenland Quell des Nationalstolzes. Eine EU-Armee bräuchte jedoch eine gemeinsame europäische Identität, die nicht existiert. Churchill brachte es auf den Punkt: „What soldiers want is to sing their own marching songs.“ Ohne gemeinsame „Marschlieder“ – ohne geteilte Geschichte, Sprache und Symbole – fehlt die emotionale Bindung zwischen Bürgern und Streitkräften. Das ist keine romantische Nebensache, sondern Grundvoraussetzung militärischer Legitimation.
Das Neutralitätsproblem
Ein zentrales Hindernis ist die Neutralität einiger Mitgliedstaaten. Nach dem NATO-Beitritt von Finnland und Schweden sind in der EU neben Österreich nur noch Irland, Malta und Zypern neutral. Nach Artikel I Absatz 2 des österreichischen Neutralitätsgesetzes darf Österreich keinem militärischen Bündnis beitreten. Experten vertraten im Landesverteidigungsausschuss des österreichischen Parlaments im Januar 2024 klar die Auffassung, dass die österreichische Neutralität nicht mit einer EU-Armee vereinbar ist. Mit Österreich, Irland, Malta und Zypern verfügen vier EU-Mitgliedstaaten über eine verfassungsrechtlich verankerte Neutralität, die eine vollintegrierte Armee bislang unmöglich macht.
Würde man neutralen Staaten Opt-out-Möglichkeiten gewähren, wäre die Armee funktionsunfähig. Eine schlagkräftige Armee erfordert einen effektiven gesamtstaatlichen Entscheidungsprozess mit klarer Befehlskette. Sie ist nicht mit nationalen Opt-out-Möglichkeiten im Einsatzfall vereinbar. Andernfalls wäre es keine richtige Armee. Das ist kein Randproblem, sondern ein zentrales Hindernis für jede Form tieferer militärischer Integration.
Fehlende rechtliche Grundlage
Der Europäische Rat hat unmissverständlich klargestellt: „Der Vertrag von Lissabon sieht weder die Schaffung einer europäischen Armee noch die Einberufung zu irgendeinem militärischen Verband vor.“
Eine EU-Armee bräuchte neue Verträge, die alle 27 Mitgliedstaaten einstimmig ratifizieren müssten – in vielen Fällen per Referendum. Zusätzlich müssten nationale Verfassungen geändert werden. Das deutsche Bundesverfassungsgericht urteilte bereits 2009, der Bereich Militär und Verteidigung sei „zur Übertragung auf die Europäische Union grundsätzlich weitgehend gesperrt.“ Deutschland bräuchte möglicherweise sogar eine neue Verfassung.
Diese Hürden sind nicht nur technisch. Sie spiegeln die fundamentale Realität: Verteidigung ist Kern staatlicher Souveränität. Der Status quo ist auf absehbare Zeit eingefroren.
Das Kommando- und Legitimitätsproblem
Ein Kernhindernis für eine EU-Armee ist das Fehlen klarer demokratischer Kontrolle. In den Mitgliedstaaten entscheidet das nationale Parlament über Einsatz und Entsendung von Soldaten – ein unverzichtbares Element demokratischer Souveränität und Voraussetzung für gesellschaftliche Akzeptanz von Militäreinsätzen. Auf europäischer Ebene fehlt diese Legitimation: Weder das Europäische Parlament noch andere EU-Institutionen genießen das Vertrauen, über Krieg und Frieden zu befinden. Es geht hier nicht um Technik oder Verfahren, sondern um das Herzstück demokratischer Kontrolle.
Wer soll also über eine EU-Armee entscheiden, wenn Sicherheit und Menschenleben auf dem Spiel stehen? Schon die Vorstellung, dass polnische Truppen einem deutschen Oberbefehl folgen oder umgekehrt, zeigt die politische Brisanz. Europäische Institutionen besitzen dafür keine ausreichende demokratische Verankerung.
Österreich illustriert das Dilemma besonders deutlich. Nur 14 Prozent der Bürger wären laut Umfrage bereit, ihr Land selbst zu verteidigen, während die Regierung an der Neutralität festhält. Dennoch soll Österreich Teil einer EU-Armee werden – mit der Folge, dass Brüssel über Einsätze entscheiden würde, ohne österreichisches Veto. Damit müssten österreichische Soldaten womöglich gegen den Willen ihrer eigenen Regierung und Bevölkerung in den Krieg ziehen. Dieser fundamentale Widerspruch zur demokratischen Legitimität bleibt ungelöst.
Die EU-Battlegroups (EUBGs) sind ein Beispiel für das Versagen: Seit ihrer Schaffung im Jahr 2007 wurden die 1.500 Soldaten starken EU-Battlegroups trotz zahlreicher Krisen nie eingesetzt – ein Beleg für das fehlende politische Mandat. Wenn sich selbst bei einer so kleinen Truppe keine Einigung über den Einsatz erzielen lässt, wie soll dann eine EU-Armee für die territoriale Verteidigung funktionieren, die notwendigerweise mehrere hunderttausend Soldaten umfassen muss? Die praktische Unumsetzbarkeit wird bei dieser Größenordnung zur existenziellen Bedrohung für Europa. Andererseits wäre eine Beteiligung nur zustimmender Staaten ebenso wenig praktikabel, da dies die erhofften Effizienzgewinne zunichtemachen würde.
Brüchige Einheit
Die Fürsprecher einer EU-Armee träumen noch immer von den „Vereinigten Staaten von Europa“. Doch sie starren nur auf das, was sie sehen wollen – und übersehen die Zentrifugalkräfte, die längst am Werk sind: den Brexit, wachsende EU-Skepsis und eine tief sitzende Uneinigkeit bei den zentralen Fragen der Sicherheit.
Ohne eine gemeinsame Bedrohungswahrnehmung bleibt das Konzept ein Trugbild. Stattdessen existiert ein Flickenteppich aus historischen Erfahrungen, Interessen und Ängsten. Finnland wurde im Zweiten Weltkrieg beinahe von Russland ausgelöscht; das Baltikum und Polen sehen eine erneute Unterjochung als existenzielle Gefahr. Deutschland hingegen ignorierte osteuropäische Warnungen jahrelang, während Nord Stream als „gutes Geschäft“ galt. Frankreich setzte lange auf „strategische Autonomie“, ein Konzept, von dem nach zweieinhalb Jahren Ukraine-Krieg kaum noch jemand spricht. Österreich versteckt sich hinter dem Mythos Neutralität, während Ungarn und die Slowakei demonstrativ Nähe zum Kreml pflegen.
Das Misstrauen gegenüber einer von Deutschland und Frankreich dominierten Sicherheitsarchitektur ist begründet. Die osteuropäischen Staaten fühlten sich 2014 nach der Krim-Annexion im Stich gelassen – bei Sanktionen wie bei Waffenlieferungen. Die damaligen französischen Bemühungen um einen „strategischen Dialog“ mit Moskau und Deutschlands Energie-Sonderwege verfestigten das Bild, dass Paris und Berlin ihre sicherheitspolitischen Sorgen nicht ernst nehmen. Für Polen bleibt die amerikanische Sicherheitsgarantie die einzige Rückversicherung.
Unter diesen Umständen ist es für viele Regierungen unvorstellbar, ihre nationale Sicherheit einer supranationalen Instanz anzuvertrauen. Die Bereitschaft, füreinander ein existenzielles Risiko einzugehen, fehlt schlicht. In der Ukraine-Krise wurde es sichtbar: Warschau und die Balten lieferten kompromisslos, während die „alten“ EU-Staaten zauderten. Jede europäische Armee würde nicht nur an militärischen Hürden scheitern, sondern vor allem an fehlender Loyalität und fehlendem Vertrauen.
Rolle der Nicht-EU-NATO-Staaten
Eine rein „europäische“ Armee würde zwangsläufig wichtige europäische Verbündete wie Großbritannien, Norwegen und die Türkei marginalisieren, obwohl diese Länder unverzichtbare Pfeiler der kontinentalen Verteidigung sind und bleiben. Ihre Einbindung ist für eine kohärente europäische Sicherheitsarchitektur entscheidend, was nur innerhalb des breiteren NATO-Rahmens effektiv gewährleistet werden kann. Ohne die Einbindung dieser Partner bleibt jede europäische Sicherheitsarchitektur unvollständig und fragil. Diese Fragmentierung würde in Washington nicht unbemerkt bleiben.
Risiko der US-Entfremdung
Die Etablierung einer eigenständigen EU-Armee birgt das erhebliche Risiko, dass die USA diese als Signal der Abkehr oder der Entbehrlichkeit interpretieren. Eine solche Entfremdung könnte die transatlantischen Bindungen schwächen und die essenzielle sicherheitspolitische Rückversicherung Europas untergraben, die seit Jahrzehnten den Frieden garantiert.
Kapazitäten und Kosten
Die Spaltung der EU-Mitgliedstaaten in sicherheitspolitischen Grundfragen verhindert bislang jede glaubwürdige gemeinsame Abschreckung gegenüber Bedrohungen wie Russland. Ohne eine gemeinsame Strategie, politische Einigkeit und funktionierende Befehlsketten bleibt Europa sicherheitspolitisch fragmentiert.
Genau deshalb ist die NATO – und insbesondere die amerikanische Beistandsgarantie – für Europa unverzichtbar. Nur die Einbindung der USA gewährleistet eine glaubwürdige Abschreckung und Sicherheit für alle europäischen Staaten.
Zahlen unterstreichen die strukturelle Schwäche Europas: NATO-Planer kalkulieren, dass im Ernstfall 100.000 US-Truppen in Europa durch bis zu 200.000 zusätzliche US-Soldaten verstärkt würden. 2023 stemmten die USA 69 Prozent der NATO-Verteidigungsausgaben – ein strukturelles Ungleichgewicht, das Europas Abhängigkeit unterstreicht. Während europäische Streitkräfte ohne US-Unterstützung keine längeren Kampfeinsätze führen könnten, bleibt die europäische Rüstungsproduktion lückenhaft: Nur 20–25 Prozent der von der EU gelieferten Waffen werden innerhalb des Blocks produziert. Bei der Ukraine-Unterstützung liefern die USA zwar mengenmäßig weniger, doch diese 20 Prozent gelten als „die tödlichste und wichtigste“ Ausrüstung. Ohne amerikanische Führung wäre eine einheitliche europäische Reaktion auf die Ukraine-Krise unmöglich gewesen.
Das nukleare Dilemma
Eine der größten Hürden für eine eigenständige europäische Armee liegt in der Nuklearfrage: Europa verlässt sich bisher auf die nukleare Abschreckung der USA im Rahmen der NATO. Frankreich ist die einzige EU-Atommacht – eine Vergemeinschaftung seiner Nuklearwaffen ist politisch nicht denkbar, da die Entscheidung über deren Einsatz fest in nationaler Hand bleibt. Gleichzeitig haben Länder wie Österreich, Malta und Irland internationale Verträge gegen Kernwaffen ratifiziert.
Solange Europa keinen eigenen glaubwürdigen Nuklearschirm aufbauen kann und auch Frankreichs Bereitschaft für einen gemeinsamen Schutz in Zweifel steht, bleibt jede EU-Armee in ihrer strategischen Wirksamkeit fundamental beschränkt. Besonders gegenüber Russland, das laufend mit dem Einsatz seiner Atomwaffen droht, wäre das Fehlen eines glaubwürdigen nuklearen Schutzschirms hochgefährlich. Eine unabhängige EU-Streitmacht ohne feste Einbindung in die amerikanische Nuklearstrategie wäre riskant und politisch wie militärisch kaum durchsetzbar. Solange diese Lücke besteht, ist jede Debatte über strategische Autonomie letztlich hypothetisch.
Fazit
Seit 75 Jahren bleibt die EU-Armee ein Papiertiger – nicht weil es an gutem Willen fehlt, sondern weil die politische Realität Europas sie unmöglich macht. In Wirklichkeit fehlt der EU nach wie vor alles, was für eine echte gemeinsame Armee nötig wäre: politische Einheit, eine gemeinsame Sicht auf die Bedrohung und die Bereitschaft, militärische Entscheidungsgewalt an Brüssel abzugeben. Kein Wunder, dass ausgerechnet Putin diese Idee begrüßt – sie würde sein strategisches Ziel erfüllen: die Spaltung des Westens.
Die Lehre des 8. Mai 1945 ist klar: Freiheit wurde durch konkrete Opfer und bewährte Allianzen erkämpft, nicht durch Wunschdenken. Deshalb muss Europa alles daransetzen, seine Verteidigungsfähigkeiten im Rahmen der NATO zu stärken und zugleich sicherstellen, dass das Bündnis auch bei einer Neuausrichtung der USA unter Präsident Trump bestehen bleibt. Nur eine starke, geeinte NATO – und nicht das Spiel mit wolkigen Visionen – bietet Europa den nötigen Schutz.
CHRISTIAN WIND ist Experte in den Bereichen Recht und internationale Beziehungen und hat als EU- und OSZE-Wahlbeobachter in mehr als zwanzig Missionen weltweit umfangreiche Erfahrungen gesammelt. Neben seiner beruflichen Tätigkeit hat Christian als freiberuflicher Autor zu Themen wie Menschenrechte und Demokratie beigetragen, wodurch er einen tiefen Einblick und ein kritisches Verständnis für internationale Sicherheitspolitik und Verteidigungsfragen entwickelt hat. Seine akademische Ausbildung in Wien und an der Johns Hopkins University unterstreicht seine Expertise in diesen Bereichen.
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Die EU-Armee in europäischen Parteiprogrammen:
Volt Europa (Europawahlprogramm 2024): „Set up a European armed forces under the control of Parliament and jointly procure weapons. We want a European army under democratic parliamentary oversight, that can act independently in crises, making the EU less dependent on external actors, especially when immediate action is required.“ Quelle: Volt Europa, Campaign Programme for the European Elections 2024, volteuropa.org/storage/pdf/eu-elections-2024/volt_campaignprogramme_english.pdf.
FDP (Deutschland, Programm der FDP zur Bundestagswahl 2025): „Unser langfristiges Ziel, der Aufbau einer Europäischen Armee, ist ein integraler Bestandteil der Stärkung des europäischen Pfeilers innerhalb der NATO.“ Quelle: FDP, fdp.de/forderung/gemeinsame-sicherheits-und-verteidigungspolitik-der-eu-vertiefen.
SPD (Deutschland, Europawahlprogramm 2024): „Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten haben schon lange die Vision einer europäischen Armee, denn wir wissen, durch gemeinsame Investitionen und Organisation unserer Streitkräfte können wichtige Synergieeffekte erzielt werden. Im Sinne des strategischen Kompasses der Europäischen Union möchten wir, dass diese eine handlungsfähigere Sicherheitsakteurin wird. Auch wenn die NATO ihre zentrale Rolle für unsere Bündnisverteidigung behält, wollen wir Europa in die Lage versetzen, Sicherheit vor externen Bedrohungen zunehmend eigenständig zu gewährleisten.“ Quelle: SPD, Europawahlprogramm 2024, https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/EuroDel/20240128_Europaprogramm.pdf.
Renaissance (Frankreich, Europawahlprogramm 2024): „Elle a aussi repris l’idée d’une armée européenne et veut encourager le réarmement des États, avec un investissement à hauteur de 100 milliards d’euros pour renforcer l’Europe. L’objectif est de permettre des interventions autonomes de l’Union et d’affirmer son rôle d’acteur géopolitique.“ Quelle: Renaissance, Besoin d’Europe, zitiert nach Libération, liberation.fr/politique/europeennes-2024-que-disent-les-programmes-sur-lukraine-et-la-defense-commune-20240601_BKUTKBINKJEXFMDXJVFSCRPZLQ.
Renew Europe / ALDE (Fraktion im EP, 2024): „We call for the development of European armed forces, that are able to act autonomously when needed, while complementing NATO, in order to ensure Europe’s security and defence.“ Quelle: Renew Europe, reneweuropegroup.eu/priorities.
Freie Wähler (Deutschland, Europawahlprogramm 2024): „Es brauche eine gemeinsame europäische Armee, nicht als Doppelung zur NATO-Struktur, sondern als Ergänzung. Nur so könne Europa seine Handlungsfähigkeit sichern.“ Quelle: Freie Wähler, zitiert nach tagesschau.de/europawahl/parteien_und_programme/sicherheit-120.html.