Europas Sicherheit: In der europäischen NATO-Armee
Der 24. Februar, der Tag des unprovozierten Großangriffs Russlands auf die Ukraine, gilt bereits als Zeitenwende. Obgleich der Angriff eigentlich bereits 2014 mit der Annexion der Krim und Teilen des Donbass begann, merkt die freie Welt nun, acht Jahre verspätet, dass Frieden in Europa kein Naturzustand ist. Wenn der Angriff einen Vorteil für Europas Sicherheitsarchitektur hatte, dann dass er alte Debatten fokussiert und in vorhersehbare Bahnen lenkt.
Tobte bis Februar noch eine Diskussion um eine strategische Autonomie Europas von der NATO, so hat Russlands Herrscher Wladimir Putin dafür gesorgt, dass die NATO gestärkt wurde wie seit Ende des Kalten Krieges nicht. Heute kann sich Europa im besten Fall innerhalb der NATO eine gewisse Autonomie verschaffen.
Seit langem sehen Osteuropa, Polen und die baltischen Staaten in der mächtigen NATO ihre Lebensversicherung gegen Russland, und nicht in der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der Europäischen Union. Nun zeigen auch Schweden und Finnland mit ihren Beitrittsansuchen, dass ihnen die NATO-Beistandspflicht des Art. 5 vertrauenswürdiger erscheint als die EU-Solidarität nach Art. 42(7). Europäische Sicherheitspolitik wird in vorhersehbarer Zukunft nur innerhalb der NATO stattfinden.
Keine EU-Verteidigung ohne NATO
Eine EU-Armee neben der NATO ist nach derzeitigem Strickmuster nicht machbar. Für Kleinkonflikte könnte Europa Eingreiftruppen bereitstellen, z.B. die Battlegroups oder Rapid Deployment Capacity. Für größere Kriegshandlungen würden aber dieselben Soldat:innen sowohl der NATO als auch der EU-Armee zur Verfügung stehen müssen – und die Staaten müssten sich entscheiden, wie viele Personen und Material sie unter welches Kommando stellen könnten. Die Staaten, die der NATO ihre Sicherheit anvertrauen, werden eine derartige Schwächung der NATO nicht akzeptieren. Damit ist die europäische Armee außerhalb der NATO nicht mehr realisierbar.
Eine Alternative wäre eine EU-Armee als europäische Säule der NATO. Diese wäre dann aber nur für NATO-Mitgliedstaaten möglich. Dieses Arrangement hätte mehrere Vorteile: Aus den 23 europäischen NATO-Armeen (inklusive den beitretenden Ländern Schweden und Finnland) würde eine einzige, die Effizienzsteigerungen wären enorm. Zusätzlich wäre diese europäische Armee auch in der Lage, in kleineren Konflikten nicht die gesamte NATO-Struktur anrufen zu müssen. In Zeiten, in denen in Washington ein wenig vertrauenswürdiger Präsident sitzt, wäre die europäische Armee auch in der Lage, sich unabhängig von den USA verteidigen zu können. Und die Abschreckungsfähigkeit Europas wäre in Zeiten, in denen die Vertrauenswürdigkeit der USA zweifelhaft erscheint, ungleich höher als mit 27 Einzelarmeen, bei denen im Ernstfall auch nicht immer klar wäre, dass sie solidarisch bis zum Äußersten bei ihren Partnern stehen.
EU-Armee neu denken
Eine EU-Armee außerhalb der NATO, wie vor dem russischen Angriffskrieg noch angedacht, wäre immer eine Herausforderung gewesen. Die Strukturen der europäischen nationalstaatlichen Armeen sind auf die NATO abgestellt. NATO-Mitgliedstaaten hatten im Kalten Krieg genaue Aufgaben, um miteinander im Verbund sowjetische Angriffe abzuwehren. Diese Struktur kehrt nun wieder: Den großen Mitgliedern wird wieder Verantwortung für einen Partner oder Sektor übertragen – was für Nicht-Mitglied Österreich bedeutet, dass es keinen für unsere Unterstützung abgestellten NATO-Partner gibt. Wir sind also trotz GSVP in der neuen Weltordnung wieder etwas mehr allein.
Von den bald 23 europäischen NATO-Heeren sind nur sehr wenige in der Lage, Kampftruppen in ausreichender Zahl für komplexe Einsätze zur Verfügung zu stellen, an den Ort des Geschehens zu verlegen und dort langfristig zu versorgen. Auch die im Strategischen Kompass der Europäischen Union geplanten Rapid Deployment Capacities sind nur für mittelgroße und zeitlich befristete Einsätze ausgelegt. Außerdem sind diese Heere nach dem Ende der klaren Mission „Verteidigung der Ostgrenze“ heute eher ein Potpourri von Einzelarmeen ohne gemeinsame, koordinierte Kampffähigkeit oder power projection capability – also ohne die Fähigkeit, sich weitab von der Heimat in Kampfquantität erhalten und kämpfen zu können. Um ausreichende Kampfkraft für einen andauernden Großkonflikt zu schaffen, muss aus diesen europäischen Armeen eine europäische Armee werden. Ungeachtet der Frage, ob zum Zwecke einer europäischen Autonomie oder innerhalb der NATO.
Neutralität neu denken
Österreichs Position, die Neutralität nicht neu diskutieren zu wollen, ist weder im Kontext der autonomen EU-Armee noch in einer in die NATO eingegliederten sinnvoll. Österreich kann sich nur in ein kollektives Verteidigungssystem einbringen, wenn den Partnern versprochen werden kann, dass österreichische Truppen im Einsatzfall ohne Wenn und Aber zur Verfügung stehen. Kein:e Kommandant:in trainiert monatelang mit einer Einheit, nur um dann im Einsatzfall zu erfahren, dass das österreichische Kontingent aufgrund von Neutralitätsbedenken nicht mitmachen wird. Damit steht Österreich im Abseits.
Die Eingliederung in eine europäische Armee ist rechtlich bereits durch die Verfassungsänderungen zum EU-Beitritt möglich. Man müsste nur das Gesetz, das die Bereitstellung von Truppen für internationale Einsätze regelt, minimal novellieren, um einen Einsatz a priori für einen gegebenen Zeitraum vom Parlament absegnen zu lassen. Dieses Prinzip besteht bereits, nämlich für internationale Einsätze, z.B. im Rahmen der UNO.
Der größere Sprung für Österreich wäre die Mitarbeit in einer EU-Armee, die ihrerseits eine Säule des NATO-Bündnisses darstellt. Aber darauf läuft „dabei sein“, wie es Verteidigungsministerin Tanner formuliert hat, hinaus. Die europäische Sicherheitsarchitektur wird sich nicht an militärische Schwergewichte wie Malta, Zypern, Irland und Österreich anpassen. Entweder wir sind dabei, oder wir sind draußen.
Letzteres ist natürlich möglich. Dank unserer geografischen Position inmitten von EU- und NATO-Staaten können wir auch einfach Trittbrett fahren. Dann aber erübrigt sich die Diskussion um die Erhöhung des Verteidigungsbudgets.