Die „Meat Waves“ der russischen Propaganda
Durch die russische Informationskriegsführung gegen den Westen stellen sich unweigerlich viele Fragen. Unter anderem: Wie effizient sind die „aktiven Maßnahmen“ des Kreml?
Durch die Berichte russischer Koordinatoren kremlnaher Einflussoperationen, die ich selbst einsehen konnte, weiß ich, wie Russland die eigenen Propaganda-Erfolge misst: durch Engagement-Metriken und Medienberichterstattung.
Bei den Engagement-Metriken berichten sie über die Anzahl der Freigaben, Likes, Kommentare und Ansichten im Zusammenhang mit den Materialien, die sie in den sozialen Medien veröffentlichen. Auf diese Weise bewerten die Betreiber der Kreml-Propaganda die Reichweite ihrer Botschaften. Dieser Ansatz sagt nicht unbedingt aus, dass diese Botschaften erfolgreich waren, aber er ermöglicht einen quantitativen analytischen Vergleich zwischen verschiedenen Einflusskampagnen.
Die Bewertung der Medienberichterstattung ist ein genaueres Instrument. Eines der Hauptziele eines jeden Betreibers von Informationskriegsführung ist nicht nur die Schaffung bösartiger Narrative, sondern auch die Verbreitung dieser Narrative in den politischen Mainstream-Debatten durch den Prozess, den ich „Narrative Laundering“ nenne. Es handelt sich dabei um die Weitergabe von Narrativen in der Mediensphäre, wobei die ursprüngliche Quelle, aus der diese Narrative stammen, entweder vergessen oder nicht mehr zu ermitteln ist. Mit anderen Worten: Durch Narrative Laundering bringen kremlfreundliche Akteure bösartige Botschaften von Randgruppen-Websites und „inauthentischem Verhalten“ in den sozialen Medien in die Mainstream-Medien, die die Quelle dieser Botschaften nicht nennen würden.
Russische Narrative sind erfolgreich
Diese beiden Messgrößen, Engagement-Metriken und Medienberichterstattung, können mit dem dreistufigen Ansatz zur Bewertung des Erfolgs der russischen Informationskriegsführung in Verbindung gebracht werden.
- Die Verbreitung eines bösartigen Narrativs an das westliche Publikum ist ein Drittel des Erfolgs einer bestimmten Beeinflussungsoperation: Wenn Sie dieses Narrativ gehört oder gelesen haben, war die Verbreitung erfolgreich.
- Wenn dieses Narrativ nicht nur konsumiert wurde, sondern auch zu einem legitimen Standpunkt in westlichen Mainstream-Diskussionen geworden ist, spricht man von zwei Drittel des Erfolgs.
- Ein vollständiger Erfolg ist erreicht, wenn ein Standpunkt, der auf einem bösartigen Narrativ beruht, nicht nur als legitim angesehen, sondern auch als die richtige Sichtweise akzeptiert wird.
Unter diesen Gesichtspunkten muss man leider festhalten: In vielerlei Hinsicht war der russische Informationsangriff auf die westlichen Gesellschaften ein Erfolg.
Um die Effizienz der russischen Propagandamaschine zu erkennen, muss man sie nur mit der des Iran und Nordkoreas vergleichen. Wie oft hören wir in Europa iranische Propagandanachrichten? Sehr selten. Und wie oft konsumieren wir nordkoreanische Narrative? Fast nie.
Das bedeutet zwei Dinge. Erstens erreichen uns die iranischen und nordkoreanischen Mechanismen weitgehend nicht; zweitens sind wir gegen ihre Propaganda resistent, da wir selbst nicht versuchen, ihre Erzählungen in unsere politischen Debatten einzubeziehen. Das steht in drastischem Gegensatz zur russischen Propaganda und deren Akzeptanz im Westen.
Die Taktik der „Meat Waves“
Einer der Schlüssel zu den Erfolgen des Kreml in seiner Informationskriegsführung gegen den Westen liegt nicht in der besonderen Raffinesse seiner bösartigen Botschaften, sondern in der schieren Anzahl und Vielfalt seiner Quellen. Das kann mit einer russischen Militärtaktik verglichen werden, die als „Meat Waves“ („Fleischwellen“) bekannt ist: Die Kosten für Menschenleben sind in Russland im Allgemeinen sehr gering, und die russischen Befehlshaber ziehen es oft vor, Menschen als Munition zu verwenden: Um Granaten zu sparen, schicken sie Welle um Welle entbehrlicher Soldaten – manchmal sogar ohne Waffen – zum Angriff auf ukrainische Stellungen. Mitunter ist diese Taktik erfolgreich.
Die „Fleischwellen“ der russischen Informationskriegsführung zielen nicht darauf ab, in den westlichen Informationsraum einzudringen, indem sie besonders schlau sind – sie versuchen einfach, ihn mit einer großen Zahl von kremlfreundlichen, anti-ukrainischen und/oder Verschwörungsnarrativen zu überfluten. Zweifellos scheitern einige von ihnen bereits bei der Verbreitung, aber einige von ihnen schaffen es in die westlichen Mainstream-Debatten.
Lange Zeit neigten die europäischen Institutionen dazu, mit der russischen Propaganda- und Desinformationsmaschinerie ein weitgehend nutzloses „Whac-a-mole“-Spiel zu spielen, indem sie versuchten, eine endlose Vielzahl von Fake News zu entlarven. Im Jahr 2022, nach dem Beginn der russischen Invasion in der Ukraine, sanktionierte und sperrte die EU verspätet die Websites von RT und Sputnik, obwohl dies nicht konsequent genug war: Sowohl RT als auch Sputnik richteten Spiegel-Websites ein, die die EU offenbar nicht zur Kenntnis nahm.
Für einen neuen Ansatz in der Propagandabekämpfung
Im Jahr 2023 machte die EU einen wichtigen Schritt nach vorn, indem sie zwei russische Politikberatungsunternehmen sanktionierte, die aktiv an der Schaffung zahlreicher „Fleischwellen“ russischer Desinformation beteiligt waren: Die Social Design Agency (SDA) und Structura National Technologies sowie deren Gründer Ilja Gambaschidse.
Doch obwohl der Schritt der EU die Projekte von Gambaschisze beeinträchtigt hat – von denen eines direkt darauf abzielt, die westliche Unterstützung für die Ukraine zu untergraben -, sind sie weiterhin aktiv. Wenn es der EU ernst damit ist, den Strukturen der russischen Informationskriegsführung wirklichen Schaden zuzufügen, ist es sinnvoll, auch deren organisatorische Grundlage ins Visier zu nehmen: Mikhail Biyun (Gambashidses Assistent), Anna Antipova (CEO von SDA), Nikolai Tupikin (CEO von Structura), Andrey Perla (Projektleiter von SDA) und andere Personen, die die beiden Unternehmen leiten.
Das „Whac-a-mole“-Spiel gegen die nicht enden wollenden „Fleischwellen“ russischer Propaganda und Desinformation mag ein spannendes Unterfangen sein – aber die wirklich wirksamen Bemühungen, sie zu stoppen, sollten sich gegen die Kommandozentralen richten, die sie produzieren.
Dieser Artikel erschien ursprünglich auf Englisch auf EU Observer.
ANTON SHEKHOVTSOV ist Politikwissenschaftler und forscht zu Faschismus, Extremismus und Propaganda. In seinem Buch „Russia and the Western Far Right: Tango Noir“ widmet er sich den Verbindungen zwischen dem Kreml und europäischen Rechtsparteien.