Die unangenehme Seite der Wahrheit
In der Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien muss man offensiv Wahrheiten ansprechen, die einem nicht gefallen. Denn sonst werden diese von der Gegenseite gebracht – die dann plötzlich recht hat.
Wir Menschen sind Geschichtenerzählmaschinen. Unser Bild von der Welt ist eine große Geschichte, die in unserem Kopf wohnt. Was gut zu dieser Geschichte passt, erzählen wir gerne weiter, was sich mit unserer Geschichte schlecht verträgt, das ignorieren wir lieber.
Manchmal wird das zum Problem. Zum Beispiel, wenn wir uns genau dadurch in wilde Verschwörungstheorien verstricken: Wenn ich durch die Welt gehe und dabei Geschichten über Chemtrails im Kopf habe, über eine internationale Pharma-Mafia oder die geheime Weltherrschaft reptiloider Aliens, dann werde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit Tag für Tag irgendwelche Hinweise dafür entdecken, dass diese Geschichten stimmen. Denn für alles lassen sich Hinweise finden – egal wie weit es von der Wirklichkeit entfernt ist.
Natürlich gibt es eine unvergleichlich viel höhere Zahl von Hinweisen, die darauf hindeuten, dass diese Geschichten purer Unsinn sind – aber wenn ich es schaffe, diese Hinweise zu ignorieren, dann kann ich mich in meiner persönlichen Verschwörungs-Geschichte Tag für Tag bestätigt fühlen.
Von der Werbung bis zur Gehaltsverhandlung
Wir wenden diese Taktik aber auch an, wenn wir mit Verschwörungstheorien nichts zu tun haben. Es handelt sich um ganz normales menschliches Verhalten: Natürlich wollen wir uns selbst im besten Licht präsentieren. Und wir wollen auch die Geschichten im besten Licht präsentieren, an die wir persönlich glauben. Wir fokussieren ganz automatisch auf das, was unsere Geschichte bestätigt – nicht auf das, was sie in Gefahr bringen könnte.
Wir verkaufen ein Fahrrad und weisen auf die besonders hochwertige Gangschaltung hin – dass die Bremsen ziemlich übel sind, sagen wir nicht dazu. Wir verhandeln eine Gehaltserhöhung und betonen, wie gut das Projekt letzten Februar gelaufen ist. Dass dieses andere Projekt im Oktober eine einzige Katastrophe war, erwähnen wir besser nicht.
So etwas empfinden wir nicht als Lüge – schließlich behaupten wir nichts Falsches, wir lassen bloß einen Teil der Wirklichkeit aus. Doch so verständlich, so alltäglich und so menschlich diese Vorgehensweise auch sein mag: Im Umgang mit Verschwörungstheorien, im Kampf gegen Fake News und Wissenschaftsfeindlichkeit ist sie nicht zielführend.
Manchmal genügt es nicht, Wahres zu sagen. Man muss sich zusätzlich auch bemühen, keine wichtigen Wahrheiten auszulassen. Sonst überlässt man diese Wahrheiten nämlich der Gegenseite.
Corona und die Impfung
In der Diskussion über die COVID-Impfung war dieser Effekt sehr deutlich zu sehen: Impfungen sind prinzipiell eine großartige Sache, die mRNA-Impfungen gegen COVID-19 haben viele schwere Krankheitsverläufe verhindert und viele Leben gerettet. Das ist wahr. Aber natürlich gibt es auch Wahrheiten abseits dieser Erzählung: Enttäuschenderweise schützte die Impfung nicht so lange gegen Erkrankung wie gedacht, weil die Viren schneller mutierten, als man erwartet hatte. Auch das ist eine Wahrheit, die man aussprechen muss.
Außerdem gab es selbstverständlich manchmal Impfnebenwirkungen – nicht ansatzweise in dem verheerenden Ausmaß, das von der Querdenkerfraktion vorhergesagt wurde, aber jeder einzelne Fall ist höchst bedauerlich. Dass es zu solchen Fällen kommt, ist weder skandalös noch überraschend, sondern normal und erwartbar: Es war in Fachkreisen nicht angezweifelt worden, niemand hatte etwas anderes behauptet. Man empfiehlt Impfungen im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass sie in manchen Fällen Nachteile bringen, insgesamt der Nutzen allerdings klar überwiegt. Aber in der Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Impfung hat man diese Wahrheit manchmal ganz gerne ausgespart.
Das bedeutet dann aber, dass es Wahrheiten gibt, die fast nur von der Impfgegner-Seite angesprochen werden. Zwar argumentiert diese Seite auf wissenschaftlich höchst unredliche Weise und kommt teilweise zu völlig falschen Schlüssen, aber dadurch, dass man bestimmte Wahrheiten vermeidet und selbst nicht ausspricht, überlässt man sie der Impfgegner-Seite. Genau deshalb wirkt die Impfgegner-Seite auf manche Leute dann plötzlich seriös und glaubwürdig. Hätte man offen und ehrlich die ganze Wahrheit präsentiert, dann könnte sich diese Fraktion niemals als alleinige Hüterin unangenehmer Wahrheiten inszenieren.
Die eine Wahrheit und die andere Wahrheit
Dieses Muster kann man bei vielen heiß umstrittenen politischen Themen beobachten: Österreich ist ein Land, dem Einwanderung aus dem Ausland riesengroße Vorteile gebracht hat, und Österreich hat die Pflicht, Asylberechtigten Schutz zu gewähren – das ist wahr. Darüber hinaus gibt es aber auch die Wahrheit, dass es manchmal Integrationsprobleme gibt, und dass manche Schulen, in denen besonders viele Kinder Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache haben, zu wenig Unterstützung bekommen. Beide Wahrheiten schließen einander nicht aus. Aber wenn man nur die eine anspricht, gelingt es der Gegenseite, ein Monopol auf einen Teil der Wahrheit zu erringen.
Der Klimawandel ist eine drohende Katastrophe, der wir uns mit aller Macht entgegenstellen müssen. Das ist wahr. Bestimmte Folgen der Klimakatastrophe werden manchmal übervereinfacht und übertrieben reißerisch dargestellt. Auch das ist wahr.
Russland hat die Ukraine auf völkerrechtswidrige, brutale und inakzeptable Weise überfallen. Das ist wahr. Die NATO ist ebenfalls keine Vereinigung moralisch unfehlbarer Staaten. Auch das ist wahr.
Wenn zwei Aussagen gleichzeitig wahr sind, heißt das natürlich noch lange nicht, dass sie gleich wichtig sind. Die Suche nach unterschiedlichen Aspekten der Wahrheit darf man nicht mit „false balance“ verwechseln – mit dem höchst gefährlichen Drang, die wirkliche Wahrheit immer irgendwo im Kompromiss zu verorten. Nein, die Wahrheit liegt nicht immer in der Mitte. Manchmal hat eine Seite recht, und die andere Seite ist völlig auf dem Holzweg. Ein Kompromiss zwischen Wahrheit und verrücktem Unsinn ist immer noch verrückter Unsinn. Aber man macht den verrückten Unsinn stärker, wenn man ihm die volle Verfügungsgewalt über Argumente lässt, die tatsächlich korrekt sind.
Poppers Falsifikationismus
Um glaubwürdig zu bleiben, müssen wir daher im Umgang mit Fake News, Lügengeschichten und Verschwörungstheorien eine grundlegend andere Strategie wählen als beim Verkaufen eines Fahrrads oder bei der Verhandlung über eine Gehaltserhöhung. Wir müssen so ehrlich wie möglich agieren. Wir müssen auf Schwachstellen oder auf Unvollkommenheiten unserer eigenen These von uns aus hinweisen. Wir müssen uns nicht nur bemühen, dass alles, was wir sagen, tatsächlich wahr ist – wir müssen uns darüber hinaus auch bemühen, dass wir alles, was wahr ist, tatsächlich sagen.
Das erinnert an Karl Poppers Prinzip des Falsifikationismus in der Wissenschaft: Man soll die eigene These so hart behandeln wie nur irgendwie möglich, meint Popper. Man soll sie aktiv und bewusst den härtesten Falsifikations-Versuchen aussetzen, die man sich vorstellen kann. Man soll nicht nach Bestätigungen Ausschau halten, sondern im Gegenteil: Gerade für das, was unserer These widersprechen könnte, sollten wir uns ganz besonders interessieren.
Die Ungleichheit der Mittel
Das Problem dabei: Man hat auf diese Weise einen unvergleichlich viel mühsameren Kampf zu führen als die Gegenseite. Denn wer Verschwörungstheorien und Fake News in die Welt setzt, macht sich genau diese Mühe nicht: Es gibt Leute, die behaupten, dass uns die Regierung mit mysteriösen Chemikalien vergiften will, dass der Klimawandel bloß eine Lüge ist, um unsere Industrie zu vernichten, oder dass man das Perpetuum mobile längst erfunden hat, aber die Naturwissenschafts-Mafia die Entdeckung verheimlicht, weil sie von der Energie-Lobby gekauft ist. Wer so etwas tatsächlich glaubt, macht sich nicht die Mühe, nach Gegenargumenten Ausschau zu halten. Wir müssen uns also an Regeln halten, von denen wir von Anfang an wissen: Die Gegenseite kümmert sich um diese Regeln nicht.
Aber das ist nichts Neues. Schon immer galt die Grundregel: Jeder Dummkopf kann zehnmal schneller Falschaussagen in die Welt setzen als die klügsten Leute widerlegen können. Davon darf man sich nicht verunsichern lassen. Ehrlichkeit und Faktentreue ist die einzig sinnvolle Strategie gegen Unehrlichkeit und Faktenverbiegen. Und dazu gehört es eben manchmal, Wahrheiten auszusprechen, die einem selbst nicht so gut gefallen. Das mag allen Regeln von Werbung, Marketing und PR widersprechen – wenn wir in einer demokratischen Diskussion gemeinsam die besten Lösungen finden wollen, ist es trotzdem unsere einzige Chance.
FLORIAN AIGNER ist Physiker, Wissenschaftspublizist und Autor. In seinen Büchern und Texten für Zeitungen und Radio befasst er sich hauptsächlich mit Naturwissenschaft und Technik, aber manchmal auch mit dem Gegenteil davon – nämlich wissenschaftsfeindlicher Esoterik und Verschwörungstheorien. Aigner lebt und arbeitet in Wien.