Diversität und optimistischer Liberalismus
Bei den Neurowissenschaften, der Psychologie und unter Neuro-Aktivist:innen gewinnt der Gedanke von Neurodiversität immer mehr an Bedeutung und Glaubwürdigkeit. Darunter versteht man eine Weltanschauung, eine wissenschaftliche Selbstverständlichkeit und ein sozialpolitisches Statement gleichzeitig.
Neurodiversität weist zuerst schlicht auf die Tatsache hin, dass jedes unserer Gehirne und Nervensysteme einen Stempel der Einzigartigkeit trägt, der evolutionär gesehen wertvoll ist. Neuronen entwickeln sich laut genetischem Fahrplan, Axonen und Dendriten verbinden Neuronen durch den täglichen Input von Reizen und Erfahrungen. So formt und adaptiert sich unser Gehirn genau so, wie es überlebenstechnisch am günstigsten ist. Natürlich ist die Differenz unserer individuellen Unterschiede im Meer der menschlichen Neurologie eine Sache der Perspektive, ein Faktum, das wir in individualistischen Gesellschaften wenig betonen.
Als Individualisten mit neuro-romantischen Tendenzen erleben wir unsere Gedanken, Emotionen und Perspektiven als Unikat und verbringen einen guten Teil unseres Daseins damit, unsere Einzigartigkeit mit der Welt zu teilen. Nicht nur in zu langen Reden, sondern auch in Form von Musik, Tanz, Sport, Kunst, Mode, Stimmlage, Gestik und Gangart.
Die Idee der Neurodiversität
Doch der Gedanke der Neurodiversität geht tiefer, denn er beschäftigt sich mit der Summe unseres neurologischen Ausdrucks als Menschheit insgesamt. Dadurch wird er bewertungsfrei: Ein Gehirn ist nicht „besser“ als das andere, jedes hat seine Bedeutung und seinen Platz in der menschlichen Evolution. Vertreter:innen der Neurodiversitätsbewegung argumentieren, dass Abweichungen von der neurologischen Norm, z.B. Autismus oder ADHS, im Genom überleben, weil sie adaptive Vorteile bieten, die das normative Gehirn nicht zeigt – etwa eine Hyperfokussiertheit im Autismus oder einen XXXL-Energiespeicher bei ADHS.
Die US-amerikanische Soziologin Judy Singer hat den Begriff „Neurodiversität“ zusammen mit dem US-Journalisten Harvey Blume geschaffen. Schon 1988 schreibt Blume im Atlantic darüber:
„Neurodiversity may be every bit as crucial for the human race as biodiversity is for life in general. Who can say what form of wiring will prove best at any given moment? Cybernetics and computer culture, for example, may favor a somewhat autistic cast of mind.“
Harvey Blume bezog sich auf den gefühlt höheren Prozentanteil an Autist:innen unter Computer-Geeks, verglichen mit dem Anteil in der Gesamtbevölkerung. Der zentrale Gedanke von Neurodiversität rückt hier ins Licht, dass eine neurologische Abweichung von der Norm eine Bereicherung ist und keine Last. Eine normale Variation des menschlichen Genoms statt einer „Abartigkeit“, die man aus der Welt schaffen muss. Alle neurologischen Konstellationen sind wertvoll – besonders, wenn die damit verbundenen Stärken im richtigen Umfeld zum Einsatz kommen können. Das ist nicht immer der Fall und oft auch schwierig, aber es ist auch zu bedenken, dass die Norm ein mathematischer Durchschnitt ist, den kein Mensch erfüllt. Quantensprünge in unserer Entwicklung kommen von Genies mit neurologischen Profilen weit abseits jedes Durchschnitts.
Weg mit der Stigmatisierung
Das medizinische Modell der klinischen Psychologie, das sowohl in den USA als auch in Europa prävalent ist und das auf ein normatives neurologisches Bild hinarbeitet, hat für viele Menschen einen wichtigen Platz in der Behandlung von psychologischen Problemen. Die Sprache dieses Modells weist dementsprechend auf Erkrankungen hin – das Ziel ist eine Heilung. Hier kommt es zu den meisten Ansätzen für Kritik am Modell der Neurodiversität, da viele psychologische Probleme unerwünscht, belastend und nicht hilfreich sind.
Dabei weisen Neuro-Aktivist:innen darauf hin, dass sogar der Umgang mit psychotischen Zuständen, wie etwa in der Schizophrenie, ein soziales Konstrukt sind, die in einigen Kulturen sogar verehrt werden. Stimmen hören kann demnach entweder zu einem besseren sozialen Status führen oder zu einem Leben auf der Straße – je nachdem, wo man lebt.
Der Zeitgeist einer exzessiver Liebe zu sozialer Gerechtigkeit steht im Mittelpunkt eines Interviews mit Judy Singer im Forbes Magazine vom Oktober 2021. Darin verlangt Singer eine Gleichstellung der neurodivergenten Bevölkerung, besonders am Arbeitsmarkt, wie es etwa auf Basis von Gender, Ethnik, Religion und LGBTIQ+ nicht mehr wegzudenken wäre. Singer gesteht, dass neurodiversen Gruppen, wie Legastheniker:innen und Autist:innen, im Moment überschwänglich viele spezielle Talente zugeordnet werden – was jedoch im Sinne einer historischen Wiedergutmachung hilft, mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeit zu erlangen.
Was Österreich von den USA lernen kann
Die Landschaft der Inklusivität sieht in Österreich anders aus als in den USA. Was im Vergleich, etwa mit dem sozial progressiven Bundesstaat Kalifornien, bei uns sichtbar fehlt, ist der unerschütterliche Optimismus, ohne den Inklusivitäts-Bewegungen wie die der Neurodiversität nicht richtig ins Rollen kommen können. Es braucht diese optimistische Überzeugung, dass Diversität uns alle bereichert und dass wir uns deswegen enthusiastisch für Inklusivität einsetzen sollen. Inklusivität ist mehr als Akzeptanz oder gar Toleranz. Inklusivität ist ein adaptiver Vorteil. Wir brauchen alle Gehirne, um den komplexen Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Gefühlt bewegt sich das Gesinnungsbarometer in Österreich zu Gleichstellungsfragen eher zwischen Toleranz und Akzeptanz. Es gibt viel Luft nach oben zu einem inklusiven Österreich, und das ist nicht zu unserem Vorteil.
In der Forschung haben wir verstanden, dass Inklusivität zu besseren Ergebnissen führt. Es braucht nur ein wenig Hausverstand, um die negativen Auswirkungen zu erfassen, wenn nur 2 Prozent der Menschen mit afrikanischer Abstammung in den internationalen DNA-Datenbanken repräsentiert sind, im Gegensatz zu den überrepräsentierten Menschen mit europäischer Abstammung. Diese eklatanten Defizite sind nicht nur diskriminierend, sondern sie versperren uns die Sicht auf genetische Varianten von Krankheiten in Bevölkerungsgruppen, die diagnostisch nicht erfasst wurden. Dass die diagnostischen Instrumente anhand genetischer Profile einer weißen Minderheit entwickelt wurden, ist zum Nachteil von Weltgesundheit und Weltwirtschaft, was allen schadet.
Ebenso nachteilig sind der Ausschluss oder die Benachteiligung von neurodivergenten Bevölkerungsgruppen vom Arbeitsmarkt. Chancengleichheit ist eine Grundfeste des liberalen Gedankenguts. Es ist Teil unserer Aufgabe als Gesellschaft sicherzustellen, dass jede:r die gleichen Voraussetzungen zum Erfolgreichsein bekommt. Im Forbes-Artikel ist die Rede vom Trend eines „Polyanna-Effekts“, eines fast krankhaften Optimismus, der in den ersten Dekaden dieses Jahrtausends beobachtet wird. So strotzt auch das post-pandemische Interview mit Singer vor Neuro-Optimismus und Visionen einer „Wir-Gesellschaft“, die in unseren Breiten oft als naiv abgestempelt wird, obwohl uns eine gute Portion Optimismus nicht schaden könnte.
Optimismus ist eine Form des positiven Denkens, die erlernt werden kann. Ein optimistischer Mensch wird eher an die Qualitäten einer neurodivergenten Person glauben als ein Pessimist, diese möglicherweise sogar leicht überschätzen, was hilft, das Pendulum historischer Ungerechtigkeiten wieder ins Lot zu bringen. Optimismus hilft, ein stärkeres Wir-Gefühl zu entwickeln, inklusiver zu denken und zu handeln, da der Optimist die Vorteile darin erkennt. Optimismus selbst hat sich in vielen internationalen Studien als adaptiver Vorteil herausgestellt, da Optimismus zu höherer Widerstandsfähigkeit und besserem Stressmanagement führt. Optimismus bringt, wie Neurodiversität, Vorteile für Individuum und Gesellschaft.
Von der Neurodiversitätsbewegung lernen
Nach 2,5 Jahren Pandemie, einer Energiekrise, einer Klimakrise und politischer Instabilität sehen wir, dass es nicht mehr ausreicht, Probleme in kleinen, homogenen und exklusiven Gruppen lösen zu wollen. Wir brauchen interdisziplinäre, diverse, internationale Arbeitsgruppen. Divergenzen und Differenzen sind eine willkommene Bereicherung, und optimistisches Denken hilft dem Prozess.
Was können wir von der Neurodiversitätsbewegung lernen?
- Wenn Österreicher:innen die Vielfalt an Menschen im Land als Vorteil und Bereicherung sehen, können wir gemeinsam die Zukunft anpacken, statt gegeneinander zu packeln.
- Ohne Angst vor Differenzen können wir in einen offenen Diskurs einsteigen und begeistert voneinander lernen. Nur so werden neue Ideen und Ansätze geboren.
- Mit dem Wissen, dass kein Hirn/Mensch besser ist als das/der andere, können wir die Menschlichkeit wieder voranstellen.
Fazit: So wichtig unsere Individualität ist, überlebenstechnisch sind wir nur gemeinsam stark. Exklusivität ist Stillstand. Um Stillstand zu vermeiden, heißt es: „Alle Hirne an Deck!“ Deswegen: Kehren wir dem Defizitdenken und dem damit verbundenen Vokabular den Rücken und werden wir proaktiv im inklusiven Denken und Handeln. Wo kannst du heute damit anfangen?
SABINE HUEMER ist Kognitiv- und Neurowissenschafterin und Umweltpsychologin mit Lehraufträgen an der University of California, Los Angeles und der Paris-Lodron-Universität Salzburg. Sie ist Autorin von wissenschaftlichen Studien zum Thema Neurodiversität, die sie auf internationalen Konferenzen auf drei Kontinenten und in einem TEDx Talk vorstellte. Sie engagiert sich politisch als Gemeinderätin in Mondsee.