Europa darf nicht Frankreich werden
Das wirtschaftsliberale Europa ist in Gefahr: Ein Weckruf.
Der Europäischen Union hängt seit Jahrzehnten der Ruf nach, ein Bürokratiemonster zu sein. Fast jeder hat schon einmal von dem Klischee gehört, dass die EU zu krumme Gurken oder Bananen verboten hätte. Das ist natürlich falsch.
Und vor allem verdient die Union diesen Ruf nicht. Die europäische Integration war seit der Mitte des letzten Jahrhunderts eher ein Motor von wirtschaftlicher Liberalisierung in Europa. In Österreich geht zum Beispiel das Ende des Salzmonopols und die Liberalisierung des Strommarkts auf europäische Vorgaben zurück. Das Zementmonopol ist überhaupt schon während den Beitrittsverhandlungen gefallen.
Tatsächlich ist es eine der zentralen Aufgaben der EU, Wettbewerb in einem gemeinsamen Markt zu fördern. Um das zu ermöglichen, sehen die europäischen Verträge ein schlagkräftiges Wettbewerbsrecht vor. Die europäischen Regeln in diesem Bereich sind für viele Länder rund um die Welt ein Vorbild.
Die europäischen Verträge sehen auch ein grundsätzliches Verbot von Staatshilfen vor. Das heißt, dass die europäischen Mitgliedstaaten nicht einfach die Unternehmen ihrer Wahl subventionieren können, sondern zuerst eine Erlaubnis der Europäischen Kommission einholen müssen, die mit hohen Auflagen verbunden ist. Ohne solche Regeln würden die Staaten in einen Subventionswettlauf schlittern, bei dem jeder Staat „seinen“ Unternehmen immer mehr Förderungen gewähren müsste, um mit den Förderungen der anderen Staaten mitzuhalten.
Ein alter Gegensatz
Dieser Fokus auf Wettbewerb ist vor allem vom deutschen Ordoliberalismus inspiriert. Diese Denkschule stützt sich auf die Idee, dass der Staat zwar die Rahmenbedingungen für funktionierenden Wettbewerb garantieren muss, sich aber nicht direkt in den Wettbewerb einmischen darf. Zentrale Wirtschaftsplanung lehnt sie strikt ab, auch und vor allem aufgrund der Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus.
Seit den Anfängen der europäischen Integration koexistieren diese ordoliberalen Regeln mit einer anderen, staatsgläubigeren Vision der europäischen Einheit. Man spricht hier oft von Dirigisme. Hinter diesem Wort, das sich von dem französischen Wort diriger (leiten) ableitet, versteckt sich die Idee, dass der Staat die Wirtschaft aktiv steuern muss.
Wie die Herkunft des Worts schon zeigt, ist diese Haltung vor allem in Frankreich seit langem sehr verwurzelt. Ihren Ursprung findet sie im Colbertisme, benannt nach einem Finanzminister aus dem 17. Jahrhundert. Schon Jean-Baptiste Colbert setzte auf eine straffe Industriepolitik, bei der der Zentralstaat Vorbildunternehmen aufbaut und das Wirtschaftsleben als Ganzes zu steuern versucht.
Die andauernde Stärke dieser Denkschule ist daran zu erkennen, dass Preiskontrollen in Frankreich erst 1986 abgeschafft wurden und der Staatsanteil bis heute nirgendwo in Europa so hoch ist wie in Frankreich. Sie ist aber auch daran zu erkennen, dass immer mehr sich für einen Dirigismus auf europäischer Ebene einsetzen. Und das mit immer größerem Erfolg.
Das Gespenst des Dirigismus geht um in Europa
Die Unterstützer des Dirigismus berufen sich dabei oft auf eine Form von Alternativlosigkeit. Nur mehr staatliche Steuerung der Wirtschaft, so die oft verwendete Argumentation, ermögliche es, gegen die chinesischen Staatskonzerne und die amerikanischen Tech-Riesen zu bestehen.
Ein klassisches Beispiel dieser Argumentation ist die Rhetorik rund um „europäische Champions“. Hinter diesem Ausdruck versteckt sich die Idee, dass die EU bzw. ihre Mitgliedstaaten einzelne Unternehmen aussuchen sollen, sie mit staatlichen Subventionen eindecken und von den strengen Wettbewerbsregeln entbinden sollen.
So forderten zum Beispiel der französische und der deutsche (!) Wirtschaftsminister 2019 eine europäische Industriestrategie, im Rahmen derer die Mitgliedstaaten die Entscheidungen der Kommission in Sachen Wettbewerbsrecht womöglich sogar überstimmen könnten. Diese Forderung war eine direkte Reaktion auf die Entscheidung der EU-Kommission, die Fusion des deutschen Siemens-Konzerns mit dem französischen Alstom aus wettbewerbsrechtlichen Gründen zu untersagen.
Begründet haben die beiden Minister ihre Forderung damit, dass nur eine echte Industriepolitik auf europäischer Ebene den europäischen Wohlstand garantieren könne. Diese Annahme steht aber auf höchst wackeligen Beinen. Wie ein Positionspapier der österreichischen Bundeswettbewerbsbehörde unterstreicht, würde die Förderung von europäischen Champions zwar „für manche, politisch gut vernetzte, Unternehmen einen Vorteil bedeuten“, aber allen anderen Unternehmen schaden.
Dennoch sind die Rufe nach einer dirigistischen Wirtschaftspolitik in Europa nicht leiser geworden – ganz im Gegenteil. Insbesondere durch den französischen Präsidenten Macron werden Forderungen nach einer dirigistischeren Wirtschaftspolitik oft mit Begriffen wie „Europäische Souveränität“ verknüpft. Hinter diesem Begriff verstecken sich aber dieselben alten Konzepte, die schon Finanzminister Colbert begrüßt hätte, wie die französische Politologin Salih I. Bora in einem jüngst erschienenen Paper aufzeigt.
Es ist bezeichnend, dass ein liberaler Präsident in Frankreich dirigistische Ideen mit am meisten Nachdruck in Brüssel verteidigt.
Das Comeback der Industriepolitik
In den letzten Jahren hat diese Rhetorik begonnen Früchte zu tragen. 2020 hat die Europäische Kommission zum ersten Mal eine europäische Industriestrategie vorgelegt. Auch wenn sie dabei beteuert hat, dass es sich nicht um eine Industriepolitik handelt, weil sie einzelnen Unternehmen nichts vorschreibt, ist es ein Sieg für die Anhänger einer dirigistischen Union.
Zwei EU-Kommissare sind für diese Industriestrategie verantwortlich. An ihnen lässt sich gut der alte Gegensatz zwischen Dirigismus und Ordoliberalismus ablesen. Während die Dänin Margrethe Vestager wie keine andere eine liberale Linie in der Wettbewerbspolitik vertritt, ist Thierry Breton, der französische Kommissar, ein erklärter Fan von europäischen Champions. Auch wenn Vestager in der Hierarchie der Kommission Breton übergeordnet ist, tritt immer öfter er in den Vordergrund, wenn es um Industriepolitik geht. Seine dirigistische Vision verknüpft er – wie auch der französische Präsident Macron – mit Konzepten wie „europäische Souveränität“ oder „strategische Autonomie“.
Das Staatshilferecht hat Long Covid
Während der Corona-Krise wurden auch die Regeln rund um Staatshilfen de facto außer Kraft gesetzt, was zu genehmigten Staatshilfen in der Höhe von 3,1 Billionen (3.100 Milliarden) Euro führte. Der Ausnahmezustand wurde 2022 aufgrund des russischen Angriffskriegs verlängert und erst am 31.12.2023 vollständig außer Kraft gesetzt – wodurch das Staatshilferecht de facto seit vier Jahren nur mehr sehr abgeschwächt durchgesetzt wird. Staaten konnten also beinahe fördern, soviel sie wollten – ohne dass die Kommission ihnen Grenzen setzte.
Die Statistik zeigt, dass manche Staaten diesen Freischein mehr ausgenutzt haben als andere. Deutschland hat zum Beispiel Staatshilfen in der Höhe von einem Viertel seiner eigenen Wirtschaftsleistung genehmigen lassen, während Griechenland nur Staatshilfen in der Höhe von einem Zwanzigstel seiner Wirtschaftsleistung angemeldet hat.
Darüber hinaus zeigen die Zahlen der Kommission, dass die Staaten weitaus höhere Staatshilfen angemeldet haben, als sie schlussendlich ausgeschüttet haben. Insbesondere Deutschland hat doppelt so hohe Staatshilfen angemeldet wie ausgeschüttet. Das klingt auf den ersten Blick wie eine gute Neuigkeit. Man muss aber bedenken, dass auch der Anschein von mehr Förderfähigkeit in einem Land den Wettbewerb verzerrt: Unternehmen wissen dadurch, dass sie eher gefördert werden, wenn sie sich in Deutschland ansiedeln. Das verzerrt den Wettbewerb in Europa.
Es ist ironisch, dass die Billigfluglinie Ryanair in den letzten Jahren zum stärksten Durchsetzer des europäischen Staatshilferechts wurde. Nachdem sie darunter litt, dass ihre besser vernetzten Konkurrenten von großen Staaten enorme Förderungen während der Corona-Krise zugesprochen bekamen, hat sie die Staatshilfe-Genehmigungen der Kommission vor Gericht angefochten – und mehrmals recht bekommen.
Auch die rechtlichen Rahmenbedingungen über die Corona-Krise hinaus wurden verändert. 2023 wurde die General Block Exemption Regulation (GBER) reformiert. Dahinter verbergen sich Regeln, die festlegen, welche Förderungen Mitgliedstaaten auch ohne vorherige Erlaubnis der Kommission Unternehmen erteilen können.
In den Monaten vor der Reform haben insbesondere französische Politiker davor gewarnt, dass Europa von den amerikanischen Förderungen in Sachen Klimaschutz abgehängt werden könnte. Tatsächlich wurde in den USA der sogenannte Inflation Reduction Act 2022 beschlossen. Er hat nicht viel mit Inflation zu tun, sieht aber massive Förderungen für grüne Technologien vor.
Sinnbildlich für diese Warnungen ist ein gemeinsames Statement von Robert Habeck und seinem französischen Amtskollegen Bruno Le Maire. Sie sprechen sich für eine „verstärkte europäische Industriepolitik“ als Antwort auf den Inflation Reduction Act aus. Schlussendlich wurde die GBER so reformiert, dass die Mitgliedstaaten nun weit leichter grüne Subventionen vergeben können.
Auch wenn das auf den ersten Blick gut klingt, bleibt das ein gefährlicher Einschnitt in das wirtschaftsliberale Herz der EU. Auch grüne Subventionen können den Wettbewerb innerhalb Europas verzerren. Und sie sind weniger effizient als andere Instrumente, wie zum Beispiel CO2-Bepreisung. Vor allem aber besteht die Gefahr von Trittbrettfahrerei. Unter dem Vorwand von Klimaschutz können dirigistische Staaten wieder „ihre“ Industrie fördern und den Wettbewerb verzerren.
Dirigistische Lösungen führen zu weniger Wohlstand
Insgesamt sind dirigistische Lösungen oft teurer. Das liegt ganz einfach daran, dass der Staat nicht effizient darin ist, Ressourcen zu verteilen. Nicht die Besten bekommen normalerweise Förderungen – sondern die, die am besten vernetzt sind. In seinem Jahresbericht 2018/2019 hat der deutsche Sachverständigenrat für Wirtschaft („die Wirtschaftsweisen“) zur Industriepolitik festgehalten:
„Es ist unwahrscheinlich, dass die Politik hinreichend über verlässliches Wissen und genaue Kenntnis der künftigen technologischen Entwicklungen oder Nachfrageänderungen verfügt, um dieses Vorgehen zu einer sinnvollen langfristigen Strategie zu machen.“
Im Klartext heißt das: Industriepolitik ist zum Scheitern verurteilt und führt zu weniger Wohlstand.
Wenn der Staat nicht nur die Basis für funktionierenden Wettbewerb schafft, sondern selbst die Gewinner auswählt und glaubt, vorhersehen zu können, was die Wirtschaft in zehn Jahren braucht, ist das also selten eine gute Idee. Und Thierry Breton, der französische Kommissar, sprach sogar von „unserem Plan für 25 Jahre“.
Die europäischen Liberalen müssen endlich aufwachen. Die Deutungshoheit darf nicht den Dirigisten überlassen werden. Das wäre das Ende des wirtschaftsliberalen Europas. Umso wichtiger, dass bei den diesjährigen Wahlen zum EU-Parlament starke liberale Stimmen einziehen, die bereit sind, den Dirigisten den Kampf anzusagen.
FELIX SCHNABL ist Mitglied der Jungen Liberalen NEOS (JUNOS) und war für JUNOS Schüler:innen als Programmatiker tätig. Er studiert Europäisches Recht im Rahmen der European Law School, einer Kooperation der Université Panthéon-Assas in Paris, der Berliner Humboldt-Universität und des King’s College in London. Felix beschäftigt sich bereits seit mehreren Jahren mit dem Liberalismus und seinen Anwendungen in den verschiedensten Politikfeldern.