Frankreich: Die Entzauberung Macrons
Frankreich hat – wieder – einen Premierminister. Im zweiten Anlauf konnte Sébastien Lecornu eine Regierung zimmern. Die Aufgaben, die vor ihm liegen, sind groß, die Pattstellung im Parlament hat sich nicht geändert. Frankreichs politisches System bleibt wohl weiter in der Krise. Die Gründe dafür sind eine Verfassung, die in der heutigen Gesellschaft nicht mehr liefern kann, und ein Präsident, der das nicht wahrhaben will.
Frankreich steckt in der größten innenpolitischen Krise seit Jahrzehnten, gekennzeichnet durch landesweite Proteste und Streiks gegen die Sparpolitik der Regierung. Mit rund 3,4 Billionen Euro – 114 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – hat Frankreich die höchste absolute Staatsverschuldung der EU. Gleichzeitig lähmt eine beispiellose politische Instabilität das Land: Seit den vorgezogenen Neuwahlen im Juni 2024 ist das Parlament zersplittert, stabile Mehrheiten sind in weiter Ferne.
Der französische Premierminister Sébastien Lecornu – der unerwartet letzte Woche zurücktrat, um vier Tage später wiederernannt zu werden – versucht nun das Überleben seiner jungen Regierung zu sichern, indem er dem Linksblock in der Nationalversammlung bei der Pensionsreform entgegenkommt. Dafür hofft er auf Unterstützung beim Budget für das kommende Jahr, das die massive Neuverschuldung Frankreichs reduzieren soll. Ob sich dieser Poker ausgehen wird, bleibt abzuwarten. Doch was das Drama der letzten Wochen und Monate zeigt, ist, wie dysfunktional das politische System in der zweitgrößten Volkswirtschaft der EU geworden ist.
Ein paralysierter Staatsapparat
Denn dies ist keine gewöhnliche Parlamentskrise, sondern das ganze politische System der 5. Republik scheint zu wanken. Dieses geht auf Charles de Gaulle und seine Vision einer mächtigeren Exekutive, die in einer quasi-monarchischen Präsidentschaft konzentriert ist, zurück und wurde 1958 in eine Verfassung gegossen. De Gaulle, der Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg und Held Frankreichs, prägte die Idee eines starken Präsidenten. Doch heute scheint das System nicht mehr zu funktionieren. Herausgefordert von einer Pattsituation im Parlament, einer schweren Finanzkrise und einem volatilen internationalen Umfeld ist der französische Staat paralysiert.
Im Mittelpunkt des Problems stehen die Natur des Präsidentenamts und die Politik des aktuellen Amtsinhabers. Nach der Niederlage bei den Europawahlen im Juni 2024 löste Emmanuel Macron das Parlament auf und rief vorgezogene Neuwahlen aus. Gegen alle Erwartungen vereitelte eine hastig zusammengestellte linksgerichtete Koalition und eine Kampagne für taktisches Wählen den Erfolg von Marine Le Pens Rassemblement National. Aber keine politische Gruppe erzielte genug Sitze, um allein zu regieren.
Doch Macron widersetzte sich der demokratischen Logik und der parlamentarischen Arithmetik. Er wies die Forderung der Mitte-Links-Parteien zurück, dass sie das Recht hätten, eine Regierung zu bilden. Stattdessen ernannte er nacheinander konservative und zentristische Premierminister, die Minderheitsregierungen anführten, aber nicht in der Lage waren, tatsächlich Politik zu gestalten.
Wie soll Lecornu, ein enger Verbündeter Macrons, es schaffen, ein Reform- und Sparbudget zu verabschieden, wenn dies seinen beiden unmittelbaren Vorgängern, Michel Barnier und François Bayrou, missglückte? Sollte auch diese Regierung im Parlament scheitern, führt kein Weg an Neuwahlen vorbei.
Indes werden die Rufe nach Macrons Rücktritt immer lauter und sind längst nicht mehr nur auf die radikalen Ränder beschränkt, auch zwei seiner ehemaligen Premierminister schlossen sich vergangene Woche der Forderung an. Eine vorzeitige Präsidentenwahl ist jedoch unwahrscheinlich: Macron ist nicht verpflichtet, den Élysée-Palast vor dem Ende seiner Amtszeit 2027 zu räumen.
Das politische System Frankreichs der 5. Republik, dessen Stabilität auf dem respektvollen Gehorsam gegenüber dem Volkswillen und dem Vorhandensein einer klaren Mehrheit basiert, war nie dafür geschaffen worden, und erschwert sogar die Entstehung von Koalitionen, wie sie in anderen Ländern Europas üblich sind. Die 5. Republik hat möglicherweise ihre letzte Phase erreicht. Wie das Macron’sche Projekt selbst begann auch sie zu bröckeln, als er vereidigt wurde.
Präsident Macrons Glück und Ende
Macrons Wahl zum Präsidenten 2017 muss in Anbetracht des kollektiven Versagens einer politischen Generation gesehen werden, die in den späten 1970er Jahren herangewachsen war. Angeführt von Nicolas Sarkozy auf der konservativen und François Hollande auf der linken Seite, hatte diese Generation weder die historische Erfahrung noch das intellektuelle Gewicht von de Gaulle oder François Mitterrand. In einer Zeit der Globalisierung und sozialer Umwandlungen waren sie unfähig, eine adäquate Antwort auf die Sorgen der Wähler:innen zu formulieren.
Sarkozy pochte in seiner Amtszeit (2007–2012) auf Symbolpolitik, doch notwendige innenpolitische Reformen ging er nicht an. Hollandes Amtszeit (2012–2017) war von der Eurozonen-Schuldenkrise und einer beispiellosen Welle von Terroranschlägen geprägt, er trat nicht mehr zur Wiederwahl an und hinterließ ein Land in Schock und Selbstzweifel. In einem politischen Umfeld, das durch Populismen aller Art weiter destabilisiert wurde, erkannte Macron seine Chance und nutzte sie geschickt. Er ließ große Teile einer desillusionierten Öffentlichkeit ihre Wünsche auf seine relativ leere Leinwand projizieren. Da die meisten Wähler:innen gegen die traditionellen Parteien der rechten und linken Mitte stimmten, erschien seine Kandidatur als ungetestetes Auffangbecken für verschiedene politische Frustrationen.
Von der Verfassung vor politischem Druck geschützt, wurde Macron das spaltende Wesen des französischen Präsidialsystems. Aus Ambitionen und Reformfreude wurde rasch ein Ignorieren von Einsprüchen, vor allem in Macrons erster Amtszeit, in der seine Partei auch die Mehrheit im Parlament hatte. Seit den Demonstrationen der Gelbwesten (gilets jaunes) zeigte sich das politische System immer wieder unfähig, auf die öffentlichen Bedenken zu reagieren. Macron begann konsequent repräsentative Mechanismen und zivilgesellschaftliche Organisationen oder Streiks zu ignorieren.
Bald erwies sich Macron, von dem viele hofften, er würde echte Reformen anstoßen, als nur ein weiterer junger Mann mit altmodischen Ideen. Die Insignien des Amts, das (mit Ausnahme der USA) in kaum einer anderen demokratischen Verfassung so mächtig ist, umschmeichelten auch ihn so sehr, dass sein Fokus immer mehr auf sein Amt und große Gesten gerichtet wurde, die mühevolle Kleinarbeit der Regierung aber mangels stabiler Mehrheit im Parlament zum Stillstand kam.
Wie Frankreich aus der jetzigen Systemkrise herauskommt, ist noch nicht absehbar. Doch die 5. Republik, die von großen Persönlichkeiten gegründet und geprägt wurde, könnte durch ebenjenen übertriebenen Fokus auf große Persönlichkeiten im Präsidentenamt zu Ende gehen.
GREGOR PLIESCHNIG war Redakteur im Materie-Team. Der Politikwissenschafter und Exil-Kärntner spezialisiert sich auf Internationales, Europa und Gesellschaftspolitik. Er arbeitet als Journalist in Wien.