Heldinnen der Freiheit und Würde: Die Botschaft von Kallas und Kara-Mursa
Mit dem völkerrechtswidrigen Überfall auf die Ukraine hat Russland den größten Angriffskrieg auf europäischem Boden seit 1945 entfacht. Die Ukraine stemmt sich gegen die brutale Aggression, unterstützt von westlichen Verbündeten. Doch angesichts der unzähligen Verbrechen Russlands gegen die Ukraine und ihre Bevölkerung stellt sich die Frage: Wie soll, wie muss Österreich auf diesen historischen Tabubruch reagieren? Was ist unsere Verantwortung angesichts der größten existenziellen Bedrohung Europas und seiner Demokratien seit dem Zweiten Weltkrieg? Während sich die Ukraine in einem Kampf auf Leben und Tod befindet, steht auch für uns in Österreich viel auf dem Spiel. Es ist ein kritischer Moment, der Mut, Klarsicht und Entschlossenheit erfordert. Die Geschichte wird über unser Handeln richten.
Die österreichische Politik war bisher nicht in der Lage, auf diese historische Herausforderung angemessen zu reagieren. Zwei osteuropäische Frauen haben bei ihren Besuchen in Wien mit beeindruckendem Mut und Klarheit gegen Putins Russland Stellung bezogen. Diesem Beispiel müssen wir folgen. Ich werde darlegen, wie bedrohlich die Situation ist und wie Österreich darauf reagiert hat. Die Republik handelt verantwortungslos. Wir müssen endlich klar Stellung gegen die russische Aggression beziehen. Kaja Kallas und Jewgenija Kara-Mursa weisen uns den Weg.
Zwei Frauen, die entschlossen für die Freiheit einstehen
Am 9. Februar 2024 gab die estnische Premierministerin Kaja Kallas im österreichischen Parlament eine eindrucksvolle Rede an die Freiheit – kurz darauf wurde bekannt, dass sie sich aufgrund ihrer Haltung auf Russlands Fahndungsliste befindet. Wenige Tage später, am 20. Februar, gab Jewgenija Kara-Mursa ein bewegendes Interview im ORF. Die Ehefrau des inhaftierten Oppositionellen Wladimir Kara-Mursa, der für seine Kritik an Putins Krieg in Sibirien inhaftiert wurde, steht ebenso unerschütterlich zu ihren Überzeugungen.
Diese Frauen zeigen eindrucksvoll, dass Freiheit und Würde selbst unter der Bedrohung durch ein autoritäres Regime verteidigt werden können – mit unerschrockenem Mut und zielgerichtetem Handeln.
Knieschlottern in München
Die Münchner Sicherheitskonferenz, ein wichtiges Stimmungsbarometer, offenbarte den Ernst der Lage. Nicht nur die Nachricht vom Tod Alexei Nawalnys hatte spürbare Auswirkungen auf die Stimmung der Anwesenden. Für Russland-Expertin Anne Applebaum war es die mit Abstand bedrückendste Konferenz, die sie je erlebte, der Russland-Kenner Michael McFaul spürte eine Atmosphäre wie in den 1930er Jahren.
Auslöser für das kollektive Knieschlottern ist die Lage in der Ukraine. Zehn Jahre nach der Krim-Annexion und zwei Jahre nach der großangelegten Invasion warnt Präsident Selenskyj, ohne rasche Hilfe habe sein Land gegen Russland „keine Chance“. Sollte die Ukraine fallen, wären die Folgen für Europa katastrophal, so der Historiker Timothy Garton Ash. Viele fürchten, ein Sieg Russlands könnte dessen imperialen Hunger weiter anfachen und Europa weiter destabilisieren. Offenbar fällt es dem Westen schwer, die „Zeitenwende“-Rhetorik in militärische Realität umzusetzen.
Ohnmacht in Österreich
Nirgendwo zeigt sich diese Lähmung deutlicher als in Österreich. Trotz alarmierender Warnsignale, wie sie auch das österreichische Bundesheer in seinem Risikobericht 2024 mit der Prognose einer wahrscheinlichen Intensivierung der hybriden Kriegsführung Russlands gegen Europa deutlich macht, herrscht hierzulande eine tiefe Ohnmacht. So lässt etwa die für Dezember 2023 angekündigte Sicherheitsstrategie weiter auf sich warten.
Die Bevölkerung klammert sich an die Neutralität und ignoriert die EU-Beistandspflicht. Selbst die Verteidigungsministerin räumt ein, dass die Neutralität kein Schutzschild ist. Doch kein:e Politiker:in wagt, daraus die logische Konsequenz zu ziehen: Die Neutralität ist überholt und muss endgültig abgeschafft werden.
Offenbar steckt man hierzulande lieber den Kopf in den Sand und gibt sich beruhigenden Illusionen hin. Weil die Politik glaubt, sich vor der heiligen Kuh Neutralität verneigen zu müssen, hört man meines Wissens von wenigen Volksvertretern ein Bekenntnis zu einer klaren und realistischen Haltung in diesem größten europäischen Krieg der Nachkriegszeit. Angesichts des Ernsts der Lage muss man sich fragen, welches Demokratieverständnis hierzulande gelebt wird, wenn Wähler:innen auch jetzt, in diesem dramatischen Bedrohungsszenario, die Wahrheit nicht zugemutet werden kann.
Österreichs Beitrag zur Verteidigung der Ukraine in harten Fakten
Diese Haltung hat konkrete, beschämende Folgen: Zwar wird landauf, landab volle oder „bedingungslose Solidarität“ mit der arg bedrängten Ukraine beschworen. Das ist wohlfeil, hat aber freilich mit der Realität nur wenig zu tun: Laut dem Ukraine Support Tracker des Instituts für Weltwirtschaft aus Kiel hat Österreich die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 mit insgesamt 3,25 Milliarden Euro (inklusive Anteil an Zahlungen der EU) unterstützt. Anteilig am BIP liegt Österreich im Vergleich mit anderen westlichen Ländern damit im unteren Mittelfeld. Gleichzeitig hat Österreich seit der russischen Großinvasion aber mehr als das Dreifache, nämlich rund zehn Milliarden, für Gas an Russland gezahlt und kräftig die menschenverachtende russische Kriegsmaschinerie gefüttert. Damit hilft Österreich, die Zerstörung der Ukraine zu finanzieren, und untergräbt damit die eigene Sicherheit und den Frieden in Europa.
Gleichzeitig hält die Regierung beharrlich an einer Interpretation von Österreichs Neutralität fest, die nichts mit der rechtlichen Realität zu tun hat, und weigert sich, die Ukraine mit dringend notwenigen Waffenlieferungen zu unterstützen. (Hier soll nicht unerwähnt bleiben, dass Österreich im Rahmen seiner europäischen Beistandsverpflichtung in Verbindung mit dem Beschluss des EU-Rats Waffen an die Ukraine liefern darf.)
Der eklatante Widerspruch zwischen Solidaritätsbekundungen und mangelndem Willen, die Ukraine wirksam zu unterstützen, ist unerträglich. Österreich ist ein Trittbrett- und Geisterfahrer in der europäischen Sicherheitspolitik.
Um das Gewissen zu beruhigen, wird hierzulande gerne auf die Komplexität der Lage verwiesen. Statt Position zu beziehen, versteckt man sich hinter Worthülsen. Dabei ist der russische Angriff auf die Ukraine eine klare Verletzung des Völkerrechts und der Menschenrechte. Es ist eindeutig falsch, ein souveränes Land anzugreifen und unschuldige Menschen zu töten. In diesem Krieg kämpfen die Kräfte der Freiheit gegen die Kräfte der Finsternis.
Stark und mutig für die Freiheit: Vorbilder Kallas und Kara-Mursa
Vor diesem Hintergrund waren die Besuche von Kaja Kallas und Jewgenija Kara-Mursa in Wien eine Wohltat, da beide Frauen in einfacher und verständlicher Sprache deutlich machten, wofür sie stehen:
1. Die Freiheit muss verteidigt werden
In Österreich ist nur eine Minderheit bereit, das eigene Land zu verteidigen, geschweige denn die Ukraine. Doch Kallas betont: Freiheit wird nicht geschenkt – sie muss erkämpft werden. Das sollte auch in Österreich unsere Handlungsmaxime sein.
2. Keine Neutralität gegenüber dem Feind unserer Werte
Putin führt Krieg gegen den Westen. Deshalb mahnt Kara-Mursa, wir können gegenüber solchen Feinden nicht neutral bleiben. Und zumindest rhetorisch stimmt Österreich dem zu: „Wir“ müssen die Ukraine unbedingt verteidigen, tönen österreichische Politiker:innen. In der Praxis will man der Ukraine jedoch keine Waffen liefern. In den meisten Ländern Europas gilt es als selbstverständlich, dass die Ukraine und Europa gegen einen ruchlosen Aggressor nicht allein durch die richtige Gesinnung verteidigt werden können. Diese offensichtliche Schlussfolgerung ist jedoch in Österreich völlig tabu. Dagegen ruft Kallas uns in Erinnerung, dass wir alle für unsere Freiheit bezahlen, einen Beitrag dafür leisten müssen.
3. Europäische Solidarität darf sich nicht auf Lippenbekenntnisse beschränken
Aus strategischen Gründen ist militärische Hilfe für die Ukraine notwendig, da Schwäche laut Kallas und Kara-Mursa die Aggression nur verstärkt. Putin will nicht mit der Ukraine verhandeln, sondern hält an seinen ursprünglichen Kriegszielen fest. Er und sein Regime müssen daher mit Waffengewalt gestoppt werden. Österreich muss Putin endlich beim Wort nehmen – doch wir bleiben weiter passiv.
Kallas und Kara-Mursa dagegen geben sich keinen Illusionen und keinem Wunschdenken hin. Ein Tyrann wie Putin versteht nur die Sprache der Gewalt, sagt Kara-Mursa. Deshalb hat Kallas gemeinsam mit den deutschen, tschechischen und dänischen Regierungschefinnen und -chefs in einem Aufruf in der Financial Times gefordert, dass jedes einzelne europäische Land einen Beitrag zur militärischen Hilfe der Ukraine leisten muss.
Österreich muss seine Hilfe an die Ukraine drastisch aufstocken
In Österreich rühmen sich Politiker oft, wie sehr die Alpenrepublik der Ukraine doch beistehen würde. Im Anbetracht der harten Fakten, die ich oben genannt habe, verwundert mich das doch sehr. Kein anderes Land leistet mehr Hilfe im Verhältnis zum BIP an die Ukraine als Estland. Und dennoch macht Kaja Kallas klar, der Westen mehr tun muss, weil nur dann Putin gestoppt werden kann.
Schluss mit der österreichischen Geschichtsvergessenheit
Anders als in Osteuropa kennt man hierzulande kaum die Verbrechen der Wehrmacht in der Ukraine. Daran waren auch viele Soldaten aus Österreich beteiligt. Man hofft auf Verhandlungen mit Putin – doch wie Kara-Mursa mahnt, haben Appeasement-Versuche schon 1938 versagt. Putin hat eine klare Expansionsstrategie verfolgt: 2008 griff er Georgien an, 2014 annektierte er die Krim und griff danach die Ostukraine an. 2019 machte er Belarus noch abhängiger.
In ihrem Interview erinnerte Kara-Mursa daran, dass der Westen Putin immer wieder mit Nachgiebigkeit begegnet ist, in der Hoffnung, ihn so zu befrieden. Doch wie Kallas und Kara-Mursa mahnen, wäre ein erneutes Appeasement fatal. Imperialistische Diktatoren lassen sich nicht durch territoriale Zugeständnisse stoppen, wie schon das Münchner Abkommen 1938 zeigte. Europa muss aus der Geschichte lernen und entschlossen gegen Putins Expansionismus vorgehen.
Konzentrieren wir uns auf das Wesentliche
Seit den 1950ern geistert die Idee einer Europäischen Armee in der Mottenkiste nicht realisierter Ideen herum – erfolglos. Nach dem NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands ist ein solches Projekt noch weniger realistisch. Zudem wäre eine EU-Armee kaum mit Österreichs Neutralität vereinbar. Angesichts der akuten Bedrohung durch Russland sollte sich die EU zuallererst auf die effektive Unterstützung der Ukraine konzentrieren, statt politisches Kapital in ein seit 70 Jahren stagnierendes Konzept zu investieren. Statt eine EU-Armee zu forcieren, die auf absehbare Zeit Illusion bleibt, sollten pragmatische und wirksame Schritte zur Stärkung der europäischen Verteidigung gesetzt werden.
Ohne die Führungsrolle der USA wären die Europäer derzeit zudem überfordert, wie die Reaktion auf den Ukraine-Krieg zeigt. So beklagt Constanze Stelzenmüller jüngst in der FT, dass Macron und Scholz „die strategische Antwort auf die größte Sicherheitsbedrohung Europas seit einer Generation verpfuschen, während die Zukunft der Ukraine am seidenen Faden hängt“.
Wenn Donald Trump im November 2024 tatsächlich zum Präsidenten der USA gewählt wird und dann die NATO verlassen würde, müsste die bestehende Struktur ohne die USA weitergeführt werden. Kallas hat sich klar gegen eine EU-Armee ausgesprochen, da eine Parallelstruktur zu NATO im militärischen Ernstfall nur Verwirrung erzeugen würde.
Wir brauchen mehr Mut
„Die Lage ist bedrohlich, aber der schlimmste Feind ist die Angst“, sagt Kaja Kallas. Dieser Mut zeichnet auch Kara-Mursa aus. Österreich und Europa müssen endlich handeln, Courage und Entschlossenheit zeigen, um Freiheit und Demokratie zu verteidigen.
Die Lehren aus den mutigen Standpunkten von Kallas und Kara-Mursa sind eindeutig. Es ist an der Zeit, dass Österreich und Europa ihre Verantwortung ernst nehmen und endlich angemessen zu handeln. Die Verteidigung der Freiheit und der demokratischen Werte erfordert mehr als Neutralität – sie verlangt Courage, Entschlossenheit und die Bereitschaft, für das zu kämpfen, was richtig ist.
Lassen wir uns von den Heldinnen der Freiheit inspirieren und stellen wir uns gemeinsam der Herausforderung, Europa ein sicheres und freies Zuhause zu bewahren.
CHRISTIAN WIND ist Experte in den Bereichen Recht und internationale Beziehungen und hat als EU- und OSZE-Wahlbeobachter in mehr als zwanzig Missionen weltweit umfangreiche Erfahrungen gesammelt. Neben seiner beruflichen Tätigkeit hat Christian als freiberuflicher Autor zu Themen wie Menschenrechte und Demokratie beigetragen, wodurch er einen tiefen Einblick und ein kritisches Verständnis für internationale Sicherheitspolitik und Verteidigungsfragen entwickelt hat. Seine akademische Ausbildung in Wien und an der Johns Hopkins University unterstreicht seine Expertise in diesen Bereichen.