Mercosur: Blockade beenden – Chancen ergreifen
Die aktuelle Debatte rund um das EU-Assoziierungsabkommen mit den vier Mercosur-Ländern (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) richtet das Scheinwerferlicht des heimischen politischen Diskurses wieder einmal auf das kontrovers diskutierte Thema Freihandel. Tatsächlich ist der Handel mit anderen Ländern das Fundament für Arbeitsplätze, Wohlstand und Sozialstaat in Österreich. Rund ein Drittel der Waren und Dienstleistungen aus Österreich wird im Ausland verkauft, damit geht jeder vierte Steuer-Euro auf den Export zurück. 1,2 Millionen heimische Arbeitsplätze werden durch Exporte gesichert. Jede Export-Milliarde, die wir weltweit umsetzen, bringt Österreich im Schnitt 6.000 neue Jobs.
Barrierefreier Handel über die Landesgrenzen hinweg ist aber nicht selbstverständlich: Unternehmen mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern profitieren von Handelspartnerschaften, die Hürden und Barrieren beseitigen oder zumindest senken – etwa im Bereich Zölle oder bei technischen Normen. Ein Abbau von Handelshürden, faire Wettbewerbsbedingungen durch fairen Marktzugang weltweit und eine europäische Mitgestaltung der globalen Handelsarchitektur durch gut gemachte Abkommen sind daher insbesondere für Österreich im ureigenen Interesse.
Populismus als handelspolitische Agenda
Die Europäische Union hat bereits 48 Wirtschaftsabkommen in Kraft, die Handelserleichterungen mit insgesamt 78 Staaten umfassen. Diese haben sich durchaus bewährt: Seit der Anwendung des EU-Kanada-Abkommens CETA im Jahr 2017 sind europäische Exporte nach Kanada bis 2021 um 26 Prozent gestiegen und haben dabei laut Europäischer Kommission 70.000 Arbeitsplätze geschaffen. Auch österreichische Exporte nach Kanada sind bis 2022 um 75 Prozent gestiegen – ohne dass dadurch unsere Lebensmittel- oder Sozialstandards abgesenkt worden wären.
Trotz der genannten Fakten erleben wir in Bezug auf das EU-Mercosur-Abkommen ein Dejà-vu zu den Diskussionen rund um CETA oder dem (nie zu Ende verhandelten) Abkommen TTIP zwischen der EU und den USA. Zwar ohne das berühmte „Chlorhuhn“, aber dennoch dominieren Angst, Panikmache und Polemik die öffentliche Diskussion. Eine Allianz aus Landwirtschaftsvertreterinnen und -vertretern, NGOs, Lebensmittel-Handelsketten und dem Boulevard agitiert gegen das Abkommen und trägt fleißig und bewusst zur Emotionalisierung der Diskussion bei.
In dieser Atmosphäre erfolgte auch im Nationalrats-Wahlkampf 2019 ein fast einstimmiger Beschluss des EU-Hauptausschusses des Nationalrates, welcher bis heute die österreichische Bundesregierung dazu verpflichtet, das Abkommen auf europäischer Ebene abzulehnen – eine für eine international verwobene und exportorientierte Volkswirtschaft wie die österreichische paradox anmutende Entscheidung. Aktuell sprechen sich von den fünf im Nationalrat vertretenen Parteien vier gegen das Abkommen aus. Selten traf das Sprichwort vom Sägen am eigenen Ast volkswirtschaftlich mehr zu. Im Zentrum der vermeintlichen Sorgen: Landwirtschafts- und Klimapolitik.
Landwirtschaft: Fakten und Chancen
Vertreterinnen und Vertreter der heimischen Landwirtschaft warnen etwa insbesondere vor einer Überschwemmung des europäischen Markts mit Rindfleisch aus Südamerika. Ein Blick auf die Details des Abkommens zeigt aber, dass durch dieses nur auf ein bestimmtes Kontingent (99.000 Tonnen) der Rindfleisch-Importe Zölle gesenkt werden sollen. Dieses Kontingent entspricht allerdings lediglich vernachlässigbaren 1,25 Prozent des jährlichen Verbrauchs in Europa. Auch erfolgt die Senkung im Laufe von fünf Jahren, und bei Marktverwerfungen könnten jederzeit wieder Zölle eingeführt werden.
Österreich, ein Netto-Exporteur von Rindfleisch, bezieht nur ca. 4 Prozent seiner Rindfleischimporte und 0,8 Prozent seiner gesamten Lebensmittelimporte aus dem Mercosur-Raum. „Überschwemmungen“ sind entlang dieser Zahlen kaum vorstellbar. Außerdem wird gerne übersehen, dass die österreichische Landwirtschaft selbst exportorientiert ist und Marktöffnungen zu ihrem Vorteil zu nutzen weiß: Seit dem Beitritt zur EU haben sich heimische Lebensmittelexporte weltweit verneunfacht, die Exporte insgesamt vervierfacht.
Ökologische und ökonomische Vorteile von Mercosur
Befürchtungen von negativen Auswirkungen auf das Klima werden ebenfalls oft angeführt. Dabei bietet das Abkommen gerade im Bereich Nachhaltigkeit immense Chancen: Ein Blick in die bis dato bekannten Vertragstexte zeigt, dass sich beide Partner explizit dazu verpflichten, auf eine nachhaltige, CO2-arme Wirtschaft hinzuarbeiten, Umweltstandards nicht zu senken, sich für einen nachhaltigen Umgang mit Waldflächen einzusetzen und das Pariser Klimaübereinkommen effektiv umzusetzen. Letzteres verpflichtet etwa Brasilien, gegen illegale Rodungen vorzugehen und 12 Millionen Hektar Regenwald wieder aufzuforsten – das entspricht der Größe von Österreich und der Schweiz.
Studien der London School of Economics im Auftrag der Europäischen Kommission belegen den positiven Beitrag des Abkommens zum Handel mit Umwelttechnologien, gerade österreichische Unternehmen exportieren Klimaschutztechnologien nach höchsten Standards und könnten so einen noch größeren Beitrag leisten. Gerne wird auch verschwiegen, dass der aktuell bedeutendste Handelspartner der Mercosur-Region China ist. Schließen wir Europäerinnen und Europäer dieses Abkommen nicht ab, wird sich dieser Trend nicht ändern, sondern eher verstärken – mit allen nachteiligen ökonomischen und ökologischen Folgen, regional wie auch global.
Auch wird nur zu oft übersehen, dass Mercosur für uns ein wesentlicher Partner in der nachhaltigen Energiewende sein kann: Die Region ist reich an Rohstoffen, wie z.B. seltenen Erden, die wir in Europa dringend benötigen, um unsere Ziele in der grünen Transformation erreichen zu können. Gerade die Erfahrungen mit der Pandemie sowie dem Ukraine-Krieg haben uns gezeigt, dass eine Diversifizierung unserer Handelspartner – insbesondere bei wesentlichen Rohstoffen – oberstes Ziel sein sollte, um einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden.
Doch nicht nur ökologisch, auch ökonomisch finden die immensen Vorteile des Abkommens selten Beachtung: Bereits jetzt sichern Exporte in den Mercosur-Raum laut Zahlen der EU-Kommission in Europa 855.000 und in Österreich 32.000 Arbeitsplätze. Und das bei sehr hohen Zöllen vor Ort, wie beispielsweise auf Fahrzeuge 35 Prozent, auf Maschinen 14–20 Prozent oder auf Medikamente 14 Prozent. Studien der Europäischen Kommission prognostizieren bei einem entsprechenden Abbau dieser und anderer Handelshürden durch das Abkommen einen Anstieg europäischer Exporte um bis zu 68 Prozent. Allein der Abbau der Zölle würde europäischen Exporteuren 4 Milliarden Euro ersparen: eine Summe, die unternehmerisch investiert werden könnte, etwa in Beschäftigung und Innovation.
Zudem wäre die EU der erste Handelspartner, der mit den Mercosur-Staaten ein Handelsabkommen abschließt. Das würde österreichischen und europäischen Exporteuren einen sehr wichtigen Wettbewerbsvorteil im globalen Wettlauf mit China, Indien und anderen um die besten Marktzugänge verschaffen.
Geopolitische Verschiebungen
Die geopolitische Situation hat sich in den vergangenen Monaten und Jahren verändert: Die Nachbarschaft Europas ist ein fragiler Krisenherd geworden: Nordafrika, der Nahe Osten und der Schwarzmeerraum sind politisch und daher auch in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung instabil. Gleichzeitig bemühen sich sowohl Russland als auch China in diesen Regionen um Verbündete. Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine wurde auch die östliche Nachbarschaft der EU endgültig zum Konfliktherd – zudem bricht Russland als Wirtschaftspartner sukzessive weg.
Es ist daher mehr denn je notwendig für Europa, mit dynamischen Märkten, befreundeten Demokratien und verlässlichen Partnern weltweit Allianzen zu stärken. Dies alles trifft aktuell auf Mercosur zu. Die österreichische Bundesregierung sollte daher dringend ihre Blockadehaltung überdenken und sich mit unseren EU-Partnern solidarisch zeigen. Der Abschluss des EU-Mercosur-Assoziierungsabkommens ist ökonomisch, ökologisch und geopolitisch eine Chance, die es jetzt – mehr denn je – rasch zu ergreifen gilt.
IGOR SEKARDI ist stellvertretender Leiter des Bereichs für Internationale Beziehungen und Märkte bei der Industriellenvereinigung und zuständig für Handelspolitik.