ORF-Zukunft: Rückt endlich das Publikum in den Mittelpunkt!
Ich fordere einen unabhängigen ORF, der sich ohne parteipolitische Einflussnahme dank zeitgemäßer Managementstrukturen und nachhaltiger Finanzierung auf seine Kernaufgabe konzentriert: die Produktion von Public Value.
Aber was bedeutet Public Value heute konkret?
Und wie kann dieser „Mehrwert“ nicht allein als „Mehr“ von immergleichen ORF-Angeboten verstanden werden, sondern als publikumsattraktives, innovatives Angebot wie auch klar bestimmtes Erfordernis, das dem Gemeinwohl dient?
Die Ansprüche sind schnell formuliert: Unabhängigkeit von der Politik, ein hochqualitatives Programm für alle („ORF für alle“, insbesondere für ein jüngeres Publikum), und sparsames Wirtschaften. Einfach gefragt: Welchen Nutzen habe ich beim Konsum von ORF-Programmen und Leistungen, und dient mein Konsum auch nachweislich dem bonum commune der österreichischen Gesellschaft?
Public Value: Leitbild oder Leerformel?
Der Begriff „Public Value“ (englisch wörtlich für „öffentlicher Wert“) bezeichnet jedenfalls den Wertbeitrag und Nutzen, den eine Organisation für eine Gesellschaft erbringt. Public Value beantwortet die Frage, was eine Organisation wertvoll für eine Gesellschaft macht. Entscheidend ist dabei das neue Verständnis von „Wert“-Schöpfung, welche erst durch individuelle Wertschätzung auf gesellschaftliche Akzeptanz stößt. Damit wird die gesellschaftsstabilisierende, aber auch gesellschaftsverändernde Funktion von Organisationen vom Einzelnen aufs Ganze betont.
Kritik wird am ORF ja viel geäußert: zu teuer, aufgebläht in den Strukturen, zu viel Unterhaltung mit zu wenig innovativem Programm, viel zu eng mit der Politik verflochten, etc. etc. Leider ist gleichzeitig die Debatte über den Wert von öffentlich-rechtlichen Rundfunk über alle Angebote und Altersgruppen recht akademisch – und damit jedenfalls ziemlich verwirrend. Das liegt wohl oder übel an der Unklarheit von „Public Value“ als Leitbegriff, also dem Mehrwert für Publikum und Gesellschaft, den der ORF durch seinen gesetzlichen Auftrag erfüllen soll. Einig ist man in der Sache nicht.
Wie gesagt: Im Kern geht es in dieser Debatte um die Frage, welche Programme Werte für die Gesellschaft vermitteln und wie öffentlich-rechtlicher Rundfunk institutionell gesellschaftsrelevante Inhalte produziert, auf diversen Plattformen und Kanälen vertreibt und damit zur sozialen Integration und Herstellung von Öffentlichkeit beiträgt. Entscheidend ist aber, dass dieser von der Gesellschaft wahrgenommene Wertbeitrag individuell erfahren, akzeptiert und auch honoriert wird.
Man muss die Public Value-Idee daher vom Kopf auf die Füße stellen: Erst durch individuelle Wertschätzung im Sinne einer Nutzenmaximierung beim Konsum entsteht auch gesellschaftliche Akzeptanz für das Kollektivgut öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Ganz ohne Zweifel:
„Public value is what the public values.“
Damit Public Value also nicht zur Leerformel wird, gilt es aber zunächst ein zentrales Problem zu lösen: Was als Public Value gilt, ist nicht nur ein Definitions- und Aushandlungsproblem von gesellschaftlichen Partikularinteressen im Sinne des Gemeinwohls, sondern im Wesentlichen auch ein Messproblem.
Denn nur so wird der Nutzen, den ein Individuum aus dem Konsum von TV-Programmen und anderen Bewegtbildangeboten zieht, zum nachweisbar universalen Wert. Wird dieser individuelle Nutzen nicht generiert, gibt es keine Zahlungsbereitschaften und dann wird auch kein gesellschaftlicher Wert generiert, und damit auch keine Öffentlichkeit. In der Medienökonomie entscheiden eben individuelle Konsumpräferenzen über den Nutzen eines Marktangebots. Das ist auch bei Public Service Media im transformationalen Wettbewerb nicht anders.
Ein Lösungsansatz: Der Public Value Scorecard
Es muss also gefragt werden: Wie kann der ORF unter gegebenen schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen – etwa ein gesetzlich aufgetragener Sparkurs – die geforderten Leistungs- und Nutzennachweise erbringen? Was macht den ORF nachweislich wertvoll für mich und die Gesellschaft?
Ein „Public Value Scorecard“ (PVSC) kann hier eine wertvolle Entscheidungsgrundlage für das Management von öffentlich-rechtlichen Medien sein und auch Evidenzen für die ausgegebenen Transformationsziele liefern. Die European Broadcasting Union und die ARD haben bereits Scorecard-Frameworks entwickelt, um den gesellschaftlichen Wert des öffentlich-rechtlichen Rundfunks evaluierbar zu machen. Dabei wurden zentrale Grundwerte definiert, z.B. „Universalität“, „Unabhängigkeit“, „Vielfalt“, „Exzellenz“, „Verantwortlichkeit“, und „Innovation“, und in verschiedenen Studien evaluiert.
Damit diese Grundwerte auch erreicht werden, müssen sie operationalisiert und messbar gemacht werden. Dafür sind zunächst Kennzahlen zu identifizieren, die dann im Scorecard-Modell sinnstiftend zusammengefügt werden. Der Public Value des ORF wird folgerichtig multidimensional erfasst. Anhand von Messzahlen lässt sich dann ein faktenbasierter Dialog über den Public Value des ORF führen. Das Besondere an dieser Methode ist auch, dass menschliche Grundbedürfnisse als Bewertungsgrundlage für Public Value-Nutzen hinzugezogen werden.
Insgesamt soll das ORF-Programm also nicht nur dem gesetzlichen Auftrag entsprechen, sondern auch und insbesondere beim Publikum als wertvoll wahrgenommen werden – um Grundbedürfnisse nach Orientierung, Informations- und Unterhaltung zu decken, und letztlich Gemeinwohl zu wecken. Der individuelle kommt dann vor dem öffentlichen Wert.
Mehrwert beim Publikum messen
Es ist nochmals in Erinnerung zu rufen: Der Wert eines öffentlich-rechtlichen Mediums zeigt sich an der Qualität und an der Vielfalt des öffentlichen Raumes, den sie mit anderen wichtigen Akteuren der Gesellschaft schaffen und gestalten. Ein Raum, in dem sich alle mit allen treffen können, in dem man sich informiert, diskutiert, entspannt, genießt, bildet, manchmal streitet, Ideen kreiert, zuhört. Ein Raum, den grundsätzlich alle mitgestalten können.
Man muss zu folgendem Schluss gelangen: Der ORF will die Transformation zum führenden digitalen Content-Provider schaffen. Er ist allerdings nicht der einzige Garant für die Produktion von Public Value: Auch private Medien gestalten und schaffen Öffentlichkeit. Eine ORF-Zukunft gelingt nur, wenn man endlich näher an das Publikum herangerückt und sich als neuer Intermediär für Public Value-Inhalte in alle Richtungen öffnet. Sonst bleibt das Public Value Gerede eine reine PR-Veranstaltung.
Das heißt konkret, dass Public Value nicht allein anhand von Performance-Indikatoren zu bewerten ist, die der ORF selbst erhebt, sondern sämtliche Werte umfasst, die er für die Gesellschaft insgesamt erzeugt. Dazu braucht es freilich repräsentative Umfragen in der Bevölkerung auf Basis von Methoden und Messinstrumenten wie den Public Value Scorecard. Nur wenn dies nachweislich gelingt, kann auch von einem Wertetransfer gesprochen werden.
Mit Public Value in der Ära des digitalen Wandels poliert der ORF zumindest schon einmal sein Image als öffentlich-rechtlicher Werte-Champion auf. Der ORF wird aber an den Akzeptanzerfolgen von Public Value-Beiträgen für das österreichische Publikum gemessen werden müssen.
PAUL CLEMENS MURSCHETZ ist Privatdozent für Medienmanagement und Medienökonomie und selbstständiger Medienberater (mmc – murschetz media consulting).