Postkutsche statt Twitter
Einer der bekanntesten Briefwechsel der Wissenschaftsgeschichte ist der zwischen Gottfried Wilhelm Leibniz und Samuel Clarke als Vertreter Newtons. Es werden fundamentale philosophische und wissenschaftliche Fragen diskutiert: die Natur von Gott, Raum und Zeit. Die Diskussion verläuft sehr kontrovers, bisweilen sogar scharf – aber zivilisiert. Ob das auch so gewesen wäre, wenn die beiden Herren einen Account bei Twitter gehabt hätten?
Wer von Hand mit Tinte und Feder schreibt, hat Zeit zum Nachdenken, zum Überarbeiten, zum Feinschliff – vielleicht erinnert sich der eine oder andere Leser daran. Wer weiß, dass ein Brief wochenlang mit Postkutsche und Segelboot unterwegs sein wird und ihn nur sehr wenige Fachleute zu Gesicht bekommen, argumentiert anders als jemand, der maximal 280 Zeichen zur Verfügung hat, praktisch live vor großem Laienpublikum twittert und innerhalb weniger Minuten mit Antworten rechnet.
Verfolgt man den öffentlichen Austausch bekannter Wissenschaftler zu Themen wie der richtigen Coronastrategie oder der Frage nach dem Ursprung des Virus, dann sehnt man sich nach Papier, Schreibfeder und Postkutschen zurück. Unsere wissenschaftliche Debattenkultur vertwittert rapide – und dem Ansehen der Institution Wissenschaft tut das nicht gut: Dieser Verfall findet nämlich in aller Öffentlichkeit statt. Als Optimist glaube ich allerdings, dass es besser geht.
Vorschlag 1: Wer Kritik an der Arbeit anderer Wissenschaftler übt, sollte klar benennen, was genau er für falsch hält und seine Einschätzung mit Argumenten begründen. Das geht auf Twitter natürlich nicht. Die naheliegende Lösung: Man sollte es gar nicht versuchen. Man könnte aber z.B. auf Twitter seine Kritikpunkte sachlich benennen, auf einen Blog verweisen, auf dem man die Argumente ausformuliert und von dort den Leser zur entsprechenden Fachliteratur führen. So wären soziales Medium und Seriosität unter einen Hut gebracht – und die Leser lernen etwas dazu. Professor Andersen vom Scripps Research Institute zeigt im Rahmen der Debatte zum Ursprung des Coronavirus leider, dass ich mit diesem Vorschlag keine offenen Türen einrenne. Er kommentiert auf Twitter den Preprint Dr. Bruttels (Uni Würzburg) und seiner Kollegen zur Labortheorie mit Ausdrücken wie Kindergartenniveau, Unsinn und Bullshit. Argumente konnte ich seinen Worten keine entnehmen.
Vorschlag 2: Die kritisierte Position sollte inhaltlich korrekt dargestellt werden. Die Erfahrung zeigt zwar, dass Strohmänner leichter zu bekämpfen sind als gute Argumente und beim Publikum – leider nicht nur bei Twitter – immer wieder gut ankommen. Beispiel ist der bekannte Lancet Letter, in dem im Februar 2020 pauschal alle Versionen der Labortheorie vorab als „Verschwörungstheorien“ zur Verbreitung von Furcht, Gerüchten und Vorurteilen diffamiert wurden. Schon damals war klar, dass es ernstzunehmende Versionen ebendieser Labortheorie gibt. Die Argumente dafür waren zumindest einigen der Autoren auch bekannt.
Vorschlag 3: Die eigene Position sollte frei von offensichtlichen Fehlern und Absurditäten sein. Auch falls diese gerade „politisch opportun“ sein sollten. Leider muss das explizit gesagt werden. Der deutsche Gesundheitsminister Professor (!) Lauterbach hat z.B. auf Twitter die Corona-Impfung als „nebenwirkungsfrei“ bezeichnet. Damit hat er zum einen die seriösen Bedenken kompetenter Wissenschaftler trivialisiert. Zum anderen hat er allen möglichen Verschwörungskonstrukten eine Steilvorlage geliefert: Es gibt keine nebenwirkungsfreie Impfung; was wirkt, hat Nebenwirkungen. Was ist wohl die Nebenwirkung derartiger Aussagen auf das Ansehen der Wissenschaft in der Öffentlichkeit?
Vorschlag 4: Kritik sollte vom Geist der Aufklärung getragen sein. Motto: Als Wissenschaftler suchen wir alle nach der besten Theorie und „spielen im selben Team“. Konkret: Persönliche Angriffe, Herabsetzungen der Person und ihrer Qualifikation, Diffamierungen jeder Art haben in der öffentlichen Debatte unter Wissenschaftlern nichts verloren. Leider wurde auch diese Selbstverständlichkeit regelmäßig missachtet, sogar von der wissenschaftlichen Prominenz: „Kekulé macht Stimmung, seine Darstellung ist tendenziös“, schrieb Drosten bei Twitter. „Er kennt unsere Daten nicht und zitiert falsch. Kekulé selbst könnte man nicht kritisieren, dazu müsste er erst mal etwas publizieren.“ In der Gemeinschaft der Virologen spiele er „keine Rolle“.
Vorschlag 5: Unsere Universitäten genießen in der Öffentlichkeit nach wie vor einen guten Ruf. Ich würde mir wünschen, dass sie sich konsequent vor Kollegen stellen, die unfair oder stillos angegriffen werden. Das kann dem Angegriffenen spürbar helfen – wer alleine im Shitstorm steht, braucht sehr viel Kraft. Und es kann vielleicht auch disziplinierend wirken: Wer weiß, dass seine Tiraden auf Facebook, Twitter oder sonstwo von Universitäten „offiziell“ mitgelesen werden, wird vielleicht eine Runde Postkutsche fahren, bevor er auf den Sendeknopf drückt.
Vorschlag 6: Mein letzter Vorschlag hat den Hauch des Unrealistischen. Aber, wie gesagt: Ich bin Optimist! Mich hat entsetzt, wie viele Wissenschaftler den ersten Lancet Letter unterschrieben haben – es waren mehr als 20.000 – und dieser über ein Jahr lang als eine Art „Widerlegung“ der Labortheorie herhalten konnte. Dabei sind seine beiden Hauptargumente eine schon damals erkennbar wackelige Behauptung, die Zoonose-Theorie sei durch die darin zitierten Studien praktisch ohne ernsthafte Alternative und die ebenso fragwürdige wie unplausible Vorab-Diffamierung aller Varianten der Labortheorie als „Verschwörungstheorien“. Es ist kein Ruhmesblatt für unseren Wissenschaftsbetrieb, dass dieser Diskussionsstopper so lange so gut funktioniert hat. Großflächige Konformitätsbereitschaft konnte leider auch bei vielen anderen Themen beobachtet werden. Ich führe das auf eine so weit verbreitete wie zutiefst unwissenschaftliche Autoritäts- und Obrigkeitsgläubigkeit im Wissenschaftsbetrieb zurück – gerade da hat so eine Einstellung nichts verloren. Wie wäre es, wenn wir in Zukunft Werte wie „respektlose Neugier“, „vorbehaltloses Erforschen alternativer Hypothesen“ und „Kontroverse als Weg zur Erkenntnis“ wieder hochhalten lernen? Der Wissenschaft und ihrem Image in der Öffentlichkeit würde das sehr gut tun.
ANDREAS EDMÜLLER ist Privatdozent für Philosophie an der LMU in München und war fast 30 Jahre lang selbstständiger Unternehmensberater (Projekt Philosophie). Zahlreiche Buchveröffentlichungen zu Staatsphilosophie, Religionskritik, Argumentieren, Manipulation, Konfliktmanagement. Sein aktuelles Buch: „Verschwörungsspinner oder seriöser Aufklärer? Wie man Verschwörungstheorien professionell analysiert.“