Über die Notwendigkeit einer sicherheitspolitischen Debatte
Sicherheit ist nicht alles – aber ohne Sicherheit ist alles nichts.
So könnte man einen bekannten Spruch abwandeln, um auszudrücken, wie wichtig Sicherheit ist. Ohne Sicherheit ist Freiheit ein leeres Wort. Denn kann ich mich nicht sicher fühlen, bin ich nicht frei, das zu tun, wonach mir der Sinn steht. Es ist daher auch eine der Grundaufgaben der liberalen Demokratie, für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zu sorgen.
In der Praxis heißt das, dass der Politik sowohl die Sicherheit im Inneren als auch die Sicherheit nach außen ein wichtiges Anliegen sein muss. Ein Anliegen, dem sie nur gerecht werden kann, wenn sie Klarheit darüber schafft, ob und in welcher Weise die Sicherheit bedroht ist oder bedroht sein könnte. Der zweite Schritt muss sein, Strategien und Maßnahmen zu überlegen und umzusetzen, um den Gefahren zu begegnen.
Nichts anderes verlangen die Unterzeichner:innen des nun schon zweiten offenen Briefes. Sie fordern eine öffentliche Debatte über die Sicherheitslage, die sich durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine grundlegend geändert hat. Ein Jahr Krieg in unserer Nachbarschaft – und wir tun so, als wäre alles beim Alten. Als könnten wir uns beruhigt zurücklehnen, da Österreich ja neutral ist. Wie der Teufel das Weihwasser scheut die Regierung eine Debatte darüber, was unsere Neutralität heute bedeutet und ob und inwiefern sie (noch) die Sicherheit unseres Landes gewährleisten kann.
Die Haltung der Regierung ist unverantwortlich. Sie lässt sich nur aus der Perspektive politischer Parteien erklären, die ihre eigenen Interessen über die des Landes stellen. Für sie ist die Neutralität eine heiße Kartoffel, die man besser nicht anrührt.
Denn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ist für die Neutralität. Sie gilt für viele als Teil der österreichischen Identität. Wir sind gut mit ihr durch den Kalten Krieg gekommen und haben erreicht, Amtssitz internationaler Organisationen zu werden. Auch auf die Erfolge Österreichs als Vermittler in Konflikten wird gerne verwiesen – diese liegen allerdings schon länger zurück. All das kann und soll auch nicht bestritten werden, doch damit werden zwei entscheidende Entwicklungen ausgeblendet: Der Beitritt zur Europäischen Union und die grundlegend veränderte Sicherheitslage.
Als EU-Mitglied trifft Österreich eine Beistandspflicht, wenn ein anderes Mitgliedsland angegriffen wird. Daher musste die Verfassung angepasst werden, als Österreich der EU beitrat. Neutral sind wir nur mehr insofern, als Österreich keinem Militärbündnis beitritt und keine militärischen Stützpunkte auf seinem Territorium erlaubt.
Es ist wohl eine Illusion, dass diese abgespeckte Version ein wirksamer Schutz vor Angriffen sein könnte. Dass die anderen Mitgliedstaaten auch gegenüber Österreich eine Beistandspflicht trifft, wir selbst aber unsere Neutralität hochhalten, ist vielleicht doch keine Lösung, auf die man stolz sein könnte. Seit dem 24. Februar des vergangenen Jahres müssen wir uns auch von der Illusion verabschieden, dass konventionelle Kriege in Europa Geschichte sind.
Beide Illusionen haben ein zähes Leben. Sie haben es vor allem deshalb, weil sich die Regierung scheut, der Bevölkerung reinen Wein einzuschenken. Sie betreibt damit eine Politik, für die Verantwortungsbewusstsein ein Fremdwort ist und mit der aus Eigeninteresse unser aller Sicherheit aufs Spiel gesetzt wird. Wir, die wir die offenen Briefe unterzeichnet haben, können und wollen das nicht hinnehmen.
IRMGARD GRISS ist frühere Präsidentin des Obersten Gerichtshofes. Nationale Bekanntheit erlangte sie als Leiterin der Untersuchungskommission zur Causa Hypo Alpe Adria, die das Kontrollversagen von Politik und Behörden feststellte. 2016 trat sie selbst als unabhängige Kandidatin zur Bundespräsidentschaftswahl an, bei der sie im ersten Wahlgang 18,94 Prozent der Stimmen erzielte. Zwischen 2017 und 2019 war sie als Allianzpartnerin der NEOS Abgeordnete zum Österreichischen Nationalrat.