Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungstheorien: Die andere Seite der Medaille
Das Schlagwort Wissenschaftsfeindlichkeit in der Überschrift leitet in der Regel leicht melancholische Betrachtungen dazu ein, warum diese „in der Bevölkerung“ immer weiter um sich greift. Zur Abwechslung gehe ich der Frage nach, welchen Beitrag die Wissenschaft selbst zu dieser Entwicklung leistet – der ist nämlich sehr groß. Umgangssprachlich ausgedrückt: Wir sollten erst einmal vor der eigenen Tür kehren, bevor wir auf andere schimpfen. Wie ist das gemeint?
Die Laborthese als „Verschwörungstheorie“
Seit 2020 gab es in Deutschland (mindestens) drei öffentlichkeitswirksame Versuche, die sogenannte Laborthese zu stärken. Sie besagt, dass das Coronavirus aus einem Labor in Wuhan entkommen ist und wahrscheinlich vorher von Wissenschaftlern gezielt verändert wurde.
Niemand kann heute mit Sicherheit sagen, ob die Laborthese stimmt. Aber die Argumente von Professor Wiesendanger (Nanophysik), Professor Theißen (Genetik) und Dr. Bruttel (Immunologie) und Team sind gut recherchiert, handwerklich solide ausgearbeitet und wissenschaftlich völlig respektabel. Vergleichbare Laborunfälle gab es schon früher, die gezielte Veränderung von Viren ist bestens dokumentiert, und dass die chinesische Regierung von hehrem Aufklärungsdrang getrieben wäre, kann auch nicht vorausgesetzt werden.
In zwei offenen Briefen schließen sich dann auch noch einige Dutzend internationale Wissenschaftler im März und Mai 2021 der Forderung an, die Laborthese ernsthaft zu untersuchen. Also: Man hätte erwarten können, dass „die Wissenschaft“ den Ball aufnimmt und das tut, was kompetent und mutig angeregt wurde, nämlich der Sache auf den Grund zu gehen.
Leider lief es anders. Praktisch sofort nach dem Aufkommen der Laborthese gab es eine Diffamierungskampagne vonseiten anderer, sehr bekannter und renommierter Wissenschaftler. Das prominenteste Beispiel dürfte der Lancet Letter vom Februar 2020 sein. Darin wird vor der Laborthese als gefährlicher „Verschwörungstheorie“ gewarnt, die nur Furcht, Gerüchte und Vorurteile erzeuge. Die 27 Erstunterzeichner behaupten darüber hinaus, dass es überwältigende wissenschaftliche Evidenz für eine natürliche Entstehung des Virus gebe (falsch) und dass sie selbst keine konfligierenden Interessen hätten (dreist falsch – viele waren und sind mit ihren Karrieren und ihrer Finanzierung eng mit dieser Art von Virenforschung verbunden). Eine seriöse argumentative Bewertung der Laborthese findet in diesem offenen Brief nicht statt; etwa 20.000 weitere Wissenschaftler haben ihn dann allerdings noch mitunterzeichnet. Ach ja – der enorme Aufklärungswille der chinesischen Seite und deren vorbildliche Transparenz werden ebenfalls gelobt.
Die Folgen waren absehbar: Diese geballte Wucht angesehener Experten, unter ihnen der Virologe Drosten, hat die öffentliche Meinung sehr stark und nachhaltig geprägt und alle Vertreter der Laborthese vorab als versponnene Außenseiter und inkompetente Querulanten abzustempeln versucht. In diese Richtung ging auch die Diskussion um Professor Wiesendangers Thesen zum Ursprung des Virus im Februar 2021.
Ein moralisch und wissenschaftlich ähnlich fragwürdiges Sperrfeuer gab es als Reaktion auf die von Dr. Bruttel und seinem Team formulierte Laborthese im Oktober 2022: Auf der international anerkannten Plattform für wissenschaftliche Debatten, Twitter, wurde Bruttels Arbeit sofort nach Erscheinen als Preprint von anderen anerkannten Wissenschaftlern als Unsinn und Bullshit auf Kindergartenniveau eingeordnet. Auch die Berichterstattung der Medien über ihn und sein Team war mehr als ein Jahr danach noch deutlich von der gegen Wiesendanger und Theißen geprägt und verzerrt.
Dass es auch anders und zivilisiert geht, zeigt diese Antwort auf Bruttel und Team: Es wird Kritik geübt, ohne wissenschaftliche Kompetenz und Seriosität infrage zu stellen. Die Debatte läuft noch.
Fassen wir zusammen: Die Laborthese wurde in jedem der drei Fälle von anerkannten und kompetenten Wissenschaftlern mit nachvollziehbaren und soliden Argumenten untermauert. Ihre Forderung nach weiteren Untersuchungen ist naheliegend, absolut seriös, verständlich und wird von vielen Kollegen unterstützt. Es gibt keinen Grund, sie als haltlose Spinnerei darzustellen und ihre Vertreter als „Verschwörungstheoretiker“ zu verleumden. Zigtausend andere Wissenschaftler hat das aber ganz offensichtlich nicht interessiert.
Debattenkultur und Glaubwürdigkeit der Wissenschaft
Und jetzt zurück zur Überschrift: Welchen Eindruck zu Glaubwürdigkeit und Verlässlichkeit des Wissenschaftsbetriebs erzeugen derartige Kampagnen „bei der Bevölkerung“? Wird hier wirklich das Bild neutraler und redlicher Wahrheitssuche vermittelt? Was lernt „die Bevölkerung“ dabei über den Prozess der Meinungsbildung in der Wissenschaft? Was ist davon zu halten, wenn Dr. Bruttel in einem Interview gefragt wird:
„Gehen Sie nicht ein gewisses Risiko als Forscher ein, wenn Sie mit so einem Preprint an die Öffentlichkeit gehen?“
Diese Frage ist ein sehr deutliches Indiz dafür, wie weit die Shitstormisierung der wissenschaftlichen Debatte bereits fortgeschritten ist. Wieso geht ein Forscher ein Risiko für seine Karriere ein, wenn er solide erarbeitete Ergebnisse zur Diskussion stellt? Dass es tatsächlich so weit gekommen ist, zählt mittlerweile offenbar zum Allgemeinwissen. „Die Bevölkerung“ wird sich ihren Teil dabei denken.
Leider reden wir nicht von einem Einzelfall. Renommierte Wissenschaftler haben während der Pandemie nicht nur hier die grundlegenden Standards intellektueller Redlichkeit, skeptischer Offenheit und argumentativer Konsequenz verletzt. Immer wieder kam es in aller Öffentlichkeit zu persönlichen Angriffen gegen Kollegen, der unberechtigten Abwertung ihrer Kompetenz inklusive Verortung in der Querschwurbler- und Verschwörungsspinnerszene.
Ich bin davon überzeugt, dass dieser Debattenstil dem Ansehen der Wissenschaft und ihrer Vertreter enormen Schaden zugefügt hat. Wer einerseits für sich die höchsten Standards an Kompetenz, Redlichkeit und intellektueller Offenheit reklamiert und andererseits persönliche Angriffe und das Lostreten von Shitstorms in den unsozialen Medien als Standardvorgehen praktiziert, macht sich und seine Sache sehr schnell sehr unglaubwürdig. Vor allem, wenn es sich dabei um bekannte und eigentlich angesehene Vertreter der Zunft handelt.
Auch auf einer zweiten Ebene schaden diese Personen der Wissenschaft. Die Wissenschaft verteidigt sich gegen Eingriffe durch Politik und Zeitgeistströmungen bisher erfolgreich und zu Recht mit dem Argument der Selbstkontrolle: Die internen Abläufe, Methoden und ethischen Standards seien am besten geeignet, Auswüchsen und Missbrauch vorzubeugen bzw. sie schnellstmöglich wieder zu beseitigen. Externe Kontrollinstanzen seien so unnötig wie ineffektiv. Wer bitte soll uns das noch glauben, wenn es so weitergeht?
Die dritte Ebene der Bedenklichkeit betrifft die Signalwirkung derartiger Kommunikation für unsere Nachwuchswissenschaftler. Mehr als 80 Prozent haben keine feste Anstellung und sind in ihrer Karriere auf das Wohlwollen der „Oberen“ angewiesen. Diese signalisieren offenbar sehr deutlich, welche Forschungsergebnisse und Ansätze in bestimmten Bereichen erwünscht und somit karrierefördernd sind – und welche als „Verschwörungstheorien“ zu gelten haben. Das könnte in manchen Forschungsgebieten eine für den normalen Gang der Wissenschaft unübliche Einheitlichkeit der Forschungsergebnisse mit erklären. Ob „die Bevölkerung“ das nicht mitkriegt?
Mein Fazit: Wir haben allen Grund, ernsthaft darüber nachzudenken, wie sich derartiges Verhalten führender Vertreter der Wissenschaft auf deren Glaubwürdigkeit und die Wissenschaftsfeindlichkeit allgemein auswirkt. Da haben wir eine konkrete Stellschraube, an der wir als Wissenschaftler wirkungsvoll selber drehen können – niemand wird uns dabei in den Arm fallen. Zumindest nicht „die Bevölkerung“.
ANDREAS EDMÜLLER ist Privatdozent für Philosophie an der LMU in München und war fast 30 Jahre lang selbstständiger Unternehmensberater (Projekt Philosophie). Zahlreiche Buchveröffentlichungen zu Staatsphilosophie, Religionskritik, Argumentieren, Manipulation, Konfliktmanagement. Sein aktuelles Buch: „Verschwörungsspinner oder seriöser Aufklärer? Wie man Verschwörungstheorien professionell analysiert.“