„Chile ist in einer politischen Krise“
The English version of this interview can be found here.
Am Sonntag findet in Chile ein Referendum für eine neue Verfassung statt. Es ist das zweite dieser Art – und das mögliche Ende eines Prozesses, der sich seit 2019 zieht. Warum dauert das alles so lang, und was ist das Problem mit der chilenischen Verfassung? Darüber spricht Rocío Gambra regelmäßig in ihrem Política-Podcast. Sie gibt uns eine Einführung in die politische Krise von Chile.
Am Sonntag stimmt die chilenische Bevölkerung über eine neue Verfassung ab. Der Prozess dorthin dauert aber schon einige Jahre. Was ist das Problem?
Der Prozess für unsere neue Verfassung begann im Jahr 2019. Aber zuerst mussten wir entscheiden, ob wir überhaupt eine neue Verfassung wollen, und wenn ja, wie wir sie schreiben. Das erste Referendum dazu war im April 2020 geplant, aber wegen der Pandemie mussten wir es auf Oktober verschieben. Danach haben wir die Leute gewählt, die die neue Verfassung schreiben sollten, das war im Mai 2021 – was sich wiederum wegen einer neuen Covid-Welle verzögert hat.
Chile hat also neue Personen gewählt, die eine neue Verfassung schreiben sollen?
Ja, und die kommen nicht nur von Parteien. Man konnte auch unabhängige Personen wählen, um an der neuen Verfassung mitzuarbeiten. Aber die meisten waren Teil von Interessengruppen. Das hat dann dazu geführt, dass der Entwurf voller Punkte war, die von diesen verschiedenen Stakeholdern eingebracht wurden. Wenn diese Verfassung angenommen worden wäre, wäre sie die längste Verfassung der Welt gewesen. Das meiste, was geschrieben wurde, stammte trotzdem von der Linken und eher Radikalen, denn die Rechte hatte nach den Wahlen nicht genug Sitze, um ihren Standpunkt in das Dokument einzubringen – sie bekam nur 37 von 155 Sitzen.
Warum überhaupt eigene Leute dafür wählen? Warum kann nicht das Parlament eine neue Verfassung schreiben?
Chile steckt in einer politischen Krise. Nur 11 Prozent vertrauen dem Parlament, also haben wir unabhängige Leute gewählt, die „die Wünsche des Volkes“ vertreten, das war der Gedanke. Und viele von denen, die gewählt wurden, waren von der Linken. Danach dauerte der Prozess noch ein Jahr, im Juli 2022 hatten wir dann den ersten Entwurf der Verfassung, die Abstimmung über den Entwurf war im September. Und obwohl 80 Prozent der Menschen der Meinung waren, dass wir eine neue Verfassung brauchen, waren 60 Prozent gegen den ersten Entwurf.
Wie erklären Sie das?
Wichtig ist vor allem das Wahlrecht. Vor 2009 gab es eine Wahlpflicht: Wer sich registriert hat, musste wählen. Danach konnte man wählen, wenn man wollte, aber man war automatisch eingeschrieben, das System war ähnlich wie in Österreich. Das Referendum von 2020, bei dem wir uns eine neue Verfassung geben wollten, war das erste Referendum, bei dem die Wahl freiwillig war. Aber letztes Jahr – beim Referendum über den ersten Entwurf der Verfassung – hatten wir zum ersten Mal eine Wahlpflicht für alle. Mehr als 80 Prozent der Menschen gingen zur Wahl, und 62 Prozent waren gegen den Entwurf.
Und das hat alles verändert. Denn die einen sagen: „Wir haben die neue Verfassung nicht gewollt, also ändern wir jetzt auch nichts“. Aber andere verweisen auf das Referendum von 2020, bei dem 80 Prozent für eine neue Verfassung waren: Obwohl wir damals eine freiwillige Abstimmung hatten. Und was die Sache noch komplizierter macht: Wir könnten unsere Verfassung jetzt leichter ändern, weil man keine Zweidrittelmehrheit mehr braucht, sondern nur noch vier Siebtel. Wir haben schon früher Teile unserer Verfassung ohne Referendum geändert.
Was ist überhaupt das Problem mit der alten Verfassung?
Unser Hauptproblem ist, dass wir die Art und Weise ändern müssen, wie wir unsere Vertreter wählen. Wir haben die Standards gesenkt, um neue Parteien zu gründen, wir haben die Wahlbezirke geändert. Darum ist unser Kongress heute sehr zersplittert. Im Moment haben wir in Chile 21 Parteien im Kongress, und trotzdem sind die Linke und die Rechte ungefähr gleich groß. Deshalb haben nur 11 Prozent der Menschen Vertrauen in den Kongress. Wenn wir jetzt die Verfassung ändern und uns darauf einigen, wie wir Politik machen, können wir das Land verändern und aus der politischen Krise herauskommen.
Letztes Jahr wurde der erste Entwurf der Verfassung abgelehnt. Wie ging es danach weiter?
Nachdem der erste Entwurf keine Mehrheit gefunden hat, haben wir ein neues Verfahren angewandt. Beide Kammern des Parlaments wählten im Proporzsystem 24 Experten aus. Im Jänner 2023 haben sie die Arbeit aufgenommen, im Mai haben wir erneut 50 Personen gewählt, die sich auf einen Entwurf einigen mussten. Im Juni haben die Experten den neuen gewählten Vertretern ihren Entwurf übergeben, im November wurde die überarbeitete Verfassung veröffentlicht. Und am Sonntag haben wir genau dazu ein Referendum.
Wie ist dieser Entwurf?
Das Problem ist, dass die Partei, die die Verfassung überhaupt nicht reformieren wollte, 22 von 50 Sitzen bekommen hat, und die Rechte elf. Sie haben also eine Mehrheit von 33 Sitzen – und man braucht 30, um etwas zu ändern. Die Linke konnte im Grunde nach Hause gehen, und die Rechte konnte schreiben, was sie wollte. Und jetzt nutzen sie es, um die Wahlen für die Republikanische Partei von José Antonio Kast zu gewinnen. Er will Präsident werden und war der Hauptanwärter gegen Gabriel Boric und die regierende Linkspartei. Jetzt setzt er sein ganzes politisches Kapital auf die Verfassung – denn wenn sie eine Mehrheit bekommt, ist er quasi schon Präsident. Für die Vertreter der Rechten ging es also vor allem darum, der Linken zu schaden.
Er will also die Verfassung nutzen, um Wahlen gegen die Linke zu gewinnen. Aber welche Policys stehen in der Verfassung?
In Chile gibt es einen Kampf zwischen zwei Modellen: dem kapitalistischen und dem staatlichen. Entweder kann man sich aussuchen, woher man die Gesundheitsversorgung bekommt, oder nur der Staat kann sie einem geben. Die Linke argumentiert, dass es sich nicht um ein garantiertes Recht handeln kann, wenn jemand anders als der Staat für etwas sorgt. Andererseits gibt es das Modell, bei dem man sich an private Unternehmen wenden kann und der Staat die Kosten übernimmt, oder zumindest einen Teil davon. Die Linke ist der Meinung, dass man unmoralisch ist, wenn man mit etwas Geld verdient, was der Staat anbietet.
Wie stehen Sie dazu?
Wenn man argumentiert, dass der Staat der einzige Anbieter sein sollte, klingt das gut für die eigene Klientel, aber nichts wird dadurch besser. Wenn man keinen Wettbewerb hat, gibt es keinen Antrieb, besser zu werden. Unser Geld ist schon jetzt nicht gut angelegt, weil es viele politische Akteure gibt, die hohe Vergünstigungen erhalten. Das ist kein Vergleich zu dem, was man im privaten System bekommen kann. Warum also sollte man die Menschen zu staatlichen Anbietern zwingen, wenn sie nicht gut genug sind? Ich bin nicht der Meinung, dass der Staat der Einzige sein sollte, der Dienstleistungen erbringen kann.
Wie hat die Linke auf den neuen Entwurf reagiert?
Viele von ihnen argumentieren, dass wir unsere aktuelle Verfassung beibehalten sollten, weil sie Angst haben, dass sie die neue Verfassung nicht mehr ändern können. Und sie wollen eine Menge Privilegien für bestimmte Gruppen in die Verfassung aufnehmen, Sonderbehandlungen. Also warten sie lieber auf ihre nächste Chance.
Wenn Chile nicht für die neue Verfassung stimmt, ist das Land in einer politischen Sackgasse, oder? Dann haben es sowohl die Linke als auch die Rechte versucht, und beide sind gescheitert, während es immer noch eine Mehrheit für eine neue Verfassung gibt.
Genauso ist es. Und das ist besonders schlimm, weil unsere Wirtschaft im Moment am Boden liegt. Wir haben eine hohe Inflation, und wir brauchen Investoren, wir brauchen also neue Regeln, um sie ins Land zu lassen. Das Problem ist, dass wir, wenn diese Verfassung keine Mehrheit findet, immer noch unsere politischen Probleme haben, unsere zersplitterte Politik und keine Anreize, sie zu ändern – denn auf dem Kalender schauen alle nur auf die nächste Wahl. Ich denke, wir müssen sie ändern, denn ohne eine neue Verfassung können sie die Regierung weiterhin lähmen.
Sie werden also für die neue Verfassung stimmen. Glauben Sie, dass sie eine Chance hat?
Ich werde dafür stimmen. Aber ich weiß nicht, was passieren wird. Denn es gibt eine Menge Lügen und Unsinn da draußen. Die Linke argumentiert zum Beispiel, dass die Frauen mit dieser neuen Verfassung schlechtergestellt wären – das stimmt nicht, aber es könnte Auswirkungen haben. Und die Parteien, die dafür sind, haben Schwierigkeiten, genügend Freiwillige für die Auszählung der Stimmen zu finden.
ROCÍO GAMBRA ist Sozialkommunikatorin, Doktorin der Agrarwissenschaften und Mitglied von Evópoli, einer liberalen Mitte-Rechts-Partei in Chile. Sie ist Host des Política-Podcasts und Rednerin bei „The Constitution in Construction“, digitalen Plattformen und Radiosendern, die in der Region Los Lagos in Chile ausgestrahlt werden.