Claudia Gamon: „Das Volk in wesentliche Fragen der EU einbinden“
Parlament, Kommission, Rat – die Institution EU ist komplex aufgebaut, der Gesetzgebungsprozess für Bürger:innen nur schwer nachvollziehbar. Ist das System gut so, wie es ist? Oder sollte man die EU „vereinfachen“ – und wenn ja, wie?
Die Frage ist: Was ist das Ziel? Wenn der Gesetzgebungsprozess einfacher verständlich sein soll, muss man andere Dinge ändern, als wenn das Ziel ist, dass er besser funktioniert. Ich denke nicht, dass die Leute wesentlich mehr über die österreichische Gesetzgebung wissen als über die europäische. Das Grundvertrauen ist vielleicht ein anderes, weil die Distanz einfach größer ist. Das Einzige, was man da tun kann, um dieses Grundvertrauen zu schaffen – um ein Gefühl dafür zu schaffen, wer die Entscheidungsträger sind – ist, das als Teil der politischen Grundbildung zu sehen. Und auch mehr Leute mit Besuchen in die politischen Institutionen bringen. Wer man einmal dort war und weiß, wo die Debatten stattfinden, wo entschieden wird, wie viele Institutionen es eigentlich gibt, hat ein besseres Gefühl dafür.
Nur die Abgeordneten zum EU-Parlament werden direkt von den Bürger:innen gewählt, der Rat und die Kommission werden von den Regierungen bestückt. Würde ein anderes System das „Grundvertrauen“ stärken?
Wir treten als NEOS dafür ein, dass der Rat ganz anders funktionieren sollte. Er ist dafür da, die nationalstaatliche Perspektive in den Gesetzgebungsprozess einzubringen – aber er arbeitet nicht parlamentarisch, sondern sehr undurchsichtig. Wir wissen zum Beispiel in den meisten Fällen nicht, wie Österreich abgestimmt hat – außer es wird gewollt öffentlich gemacht – oder welche Mehrheiten für welchen Punkt gefunden wurden. Es hätte einen unglaublichen Wert, wenn der Rat auch parlamentarisch funktionieren würde. Darum würden wir den Rat zur zweiten parlamentarischen Kammer machen. Eigentlich funktionieren viele Parlamente so – theoretisch auch das österreichische, nur dass der Bundesrat de facto keine Funktion hat. Im EU-Parlament sitzen dann die Abgeordneten, die europäische Politik machen, und in der zweiten Kammer sitzen jene, die das nationalstaatliche Interesse vertreten. Da wäre die Aufgabenverteilung klarer.
Wäre mehr direkte Demokratie auf europäischer Ebene wichtig?
Es könnte schon spannend sein, wenn man einmal für wesentliche Fragen europaweit eine Abstimmung macht. Eine EU-weite Volksabstimmung könnte auch ein demokratisches Event sein, in dem man eine europäische Frage zum Zentrum des gemeinsamen öffentlichen Diskurses macht. Aber man müsste sich eine gute erste Frage dafür aussuchen – da sollte man nicht aus Jux und Tollerei über alle möglichen Themen abstimmen lassen. Man muss sich nur an die letzte Online-Abstimmung erinnern, die man als direkte Demokratie verkauft hat: die Abstimmung über die Abschaffung der Zeitumstellung. Ich glaube, die Bevölkerung der Europäischen Union sollte man wirklich dann einbinden, wenn es um die wesentlichen Fragen, die wesentlichen Entscheidungen der Zukunft der Union geht.
Du sprichst dich für die Vereinigten Staaten von Europa aus. Wie sollen die aussehen, was wäre der Unterschied zum jetzigen Konzept der EU?
Das ist auch ein Überbegriff, damit man ein Gefühl kriegt, in welche Richtung es gehen sollte. Da geht es nicht darum, dass es äquivalent funktionieren soll wie der Bundesstaat Österreich, mit ganz vielen Landeshauptleuten auf europäischer Ebene. Ganz im Gegenteil: Es ist eine Ansage, dass das Ziel die immer stärkere politische Integration ist.
Ich weiß, dass es das Leben, den Alltag der Europäer:innen nicht beeinflusst, ob das Parlament zwei Kammern hat. Ich finde es aber wesentlich, weil dadurch die EU besser funktioniert. Aber die größten Veränderungen in den Vereinigten Staaten von Europa wären natürlich institutionelle: dass die Kommission wie eine echte Regierung funktioniert, dass alle Abläufe parlamentarisch und transparent sind. Dass es keine Vetos mehr gibt, sondern eine ganz andere Funktionalität, wie man zu Gesetzen und Initiativen kommt. Dass das Parlament auch ein Initiativrecht hat!
Und natürlich vordergründig auch Änderungen, die mit unseren Rechten zu tun haben. Da ist das Sichtbarste das, was wir immer symbolisch den „europäischen Pass“ genannt haben: Dass man zuerst Bürger:in der Europäischen Union bzw. der Vereinigten Staaten von Europa ist, und erst sekundär eines Nationalstaats.
Angesichts der aktuellen sicherheitspolitischen Situation: Wie würde eine EU-Armee in den Vereinigten Staaten von Europa mitspielen?
Ein Bundesstaat genauso wie ein Staatenbund muss sich selbst verteidigen können, also eine eigene Verteidigungsfähigkeit haben, die nicht von Dritten abhängig ist. Diese Dritten sind jetzt die Vereinigten Staaten von Amerika, durch die Truppen, die sie in der NATO stellen. Und wir haben keine andere Verteidigungsfähigkeit – das ist die Realität, aber das ist nicht der Optimalzustand. Wir wollen nicht von anderen abhängig sein, wir wollen eine selbstbestimmte Europäische Union sein. Mir wäre es zu weit weg, wenn wir eine EU-Armee erst in Vereinigten Staaten von Europa haben würden, denn die letzten eineinhalb Jahre haben gezeigt, dass das viel dringender notwendig ist.
Apropos dringend: Die europäische Klimapolitik steht unter dem Schirm des Green New Deal – 55 Prozent weniger CO2-Emissionen bis 2030 und klimaneutral bis 2050 –, zuletzt wurden etwa neue Regeln für umweltfreundlichere Kraftstoffe in der Luftfahrt beschlossen oder Maßnahmen für haltbarere Produkte und gegen Greenwashing. Wird auf EU-Ebene genug für den Klimaschutz getan?
Ich glaube, dass vielen noch gar nicht klar ist, wie weitreichend der European Green Deal ist und wie lange uns die Gesetzesänderungen der letzten drei Jahre noch beschäftigen werden. In dieser Periode seit der EU-Wahl 2019 ist so viel passiert in der Klimapolitik wie in den 15 Jahren davor nicht. In einer Geschwindigkeit, die glaube ich auch dem Problem entspricht. Aber es ist noch nicht spürbar! Und dieses Problem hat mit den Institutionen in der EU zu tun: dass wir halt lange brauchen.
Das hat Vor- und Nachteile. Es hat Nachteile in einer Situation wie jetzt, wo man gegen die Zeit rennt. Es hat aber auch Vorteile, weil wir Gesetze für mehrere 100 Millionen Menschen machen. Das muss auch für jedes Mitgliedsland funktionieren, das muss für unterschiedliche Umstände funktionieren, und es muss auch der Komplexität der Materie entsprechen. Deshalb ist es auch immer so schwierig, den Green Deal zusammenzufassen, weil er alle möglichen Lebensbereiche umfasst: von der Landwirtschaft übers Häuserbauen zum Energiesystem und den Wirtschaftskreislauf generell.
Du hast es schon angesprochen: Die Klimakrise ist wohl eines der drängendsten Probleme unserer Zeit, und gleichzeitig ist der EU-Gesetzgebungsapparat sehr behäbig. Müsste das nicht schneller gehen?
Wenn man sich bedenkt, dass wir das ganze ETS-System (Emissionshandel, Anm.) vollkommen novelliert haben, und das sogar noch eineinhalb Jahre vor dem Wahltermin, war das zeitlich vollkommen in Ordnung. Es war ambitioniert, das in der Zeit fertigzukriegen, aber es hat ja auch mit den Ressourcen in Brüssel zu tun. Die Kommission hat auch nur eine beschränkte Anzahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, da muss man auch priorisieren.
Ein großer Schmerzpunkt ist sicher einer der wesentlichen Punkte, wo die EU Kompetenzen hat, und das ist die Agrarpolitik: Die letzte GAP-Reform (Gemeinsame Agrarpolitik, Anm.), die eigentlich jetzt schon wieder aus der Zeit gefallen ist, ist 2020 beschlossen worden. Das ist ein Politikbereich, wo das Visionäre schon immer gefehlt hat, dabei wäre es aufgrund der drohenden Klimakatastrophe umso wichtiger. Jetzt müssen wir wieder sieben Jahre warten, bis wir zum nächsten Reformpunkt kommen. Für sowas haben wir keine Zeit mehr.
Passiert es auch, dass man nach langen Verhandlungen endlich auf einen gemeinsamen Nenner kommt und dann z.B. durch technologische Entwicklungen alles schon wieder überholt ist?
Vielleicht nicht unbedingt wegen Technologie. Ich glaube, es ist schon möglich, dass man Gesetze technologie-agnostisch gestaltet, dass man auch Raum lässt für Entwicklungen, die erst entstehen. Das ist in der Klimapolitik in vielen Bereichen gelungen, aber in anderen funktioniert das schlechter, z.B. bei künstlicher Intelligenz. Da sitzt man jetzt auch in dieser Periode schon seit einiger Zeit an einem EU-weiten Rahmengesetz für Artificial Intelligence, aber seit die letzte Version von ChatGPT draußen ist, hat sich die Debatte vollkommen verändert. Ich glaube, wir dürfen der gesellschaftlichen Debatte nicht hinterherhängen.
Da fällt mir das Verbrennerverbot ein. Das kommt jetzt nicht ganz so strikt wie geplant, E-Fuels sind ausgenommen. Die Auto-Industrie selbst ist da schon viel weiter, da denkt man in viel kürzeren Zeitspannen. Hat die Politik da verschlafen?
Ja, das war unfassbar frustrierend. Vor allem weil das ja ein Flagship-Gesetz der liberalen Fraktion hätte werden sollen. Ich habe das auf intellektueller Ebene immer verstanden, wenn Leute gesagt haben: Man muss es nicht verbieten. Aber bei den Argumenten, weshalb man dann dieses Gesetz verhindern wollte, ging es gar nicht darum, ob ein Verbot als politisches Instrument notwendig ist: Die Leute haben eigentlich behauptet, so schlimm ist der Verbrenner gar nicht, und dann gibt es eben E-Fuels – was gefühlte Wahrheiten sind. Das ist anekdotische Evidenz, die nichts mit der Sachlage zu tun hat.
Und das sage ich als jemand, der gesetzgeberisch viel mit dem Thema E-Fuels zu tun hat, nämlich im Luftfahrtbereich. Wir reden im Parlament die ganze Zeit von alternativen Kraftstoffen, aber eben nicht für PKW. Das, wo wir wirklich Hirnschmalz brauchen, sind die Bereiche, wo es keine Alternative gibt – Schifffahrt, Luftfahrt, große Teile der Industrie, die nicht elektrifizieren können – und da sind andere Lösungen notwendig.
Dieses Gesetz sollte so etwas wie ein Rettungsanker für die europäische Autoindustrie sein. Wir wollten einfach, dass jetzt jeder kapiert, in welche Richtung Europa und der europäische Markt marschieren. Um auch die letzten paar – vor allem deutschen – Autobauer, die eben noch nicht in diese Richtung unterwegs waren, wachzurütteln und zu sagen: Wir wollen nicht alle mit chinesischen Elektroautos herumfahren, und wir wollen, dass ihr eure Jobs behalten könnt.
CLAUDIA GAMON ist Mitglied des Europäischen Parlaments in der Fraktion „Renew Europe“ und NEOS-Europasprecherin. Sie setzt sich für eine handlungsfähige Europäische Union ein, die in die Vereinigten Staaten von Europa münden soll. Ihre Kernthemen sind Digitalisierung, Energie, Forschung und Technologie. Sie studierte Internationale Betriebswirtschaft und Internationales Management an der Wirtschaftsuniversität Wien und der Université catholique de Louvain. Erste politische Erfahrungen sammelte sie bereits 2011, als sie als Spitzenkandidatin die Jungen Liberalen in die Österreichische Hochschülerschaft führte. Ab 2015 vertrat Claudia Gamon NEOS als Abgeordnete zum Nationalrat im österreichischen Parlament, ehe sie 2019 ins EU-Parlament gewählt wurde.