EU: Hinter den Kulissen eines demokratischen Kunstwerks
Als Politikinsiderin, Lab-Expertin und Head of Office MEP weist Stefanie Gaismayer ein ganzes Bündel an Erfahrungen in verschiedensten NEOS-Funktionen auf. Gerade ist sie die Frau hinter Claudia Gamon in Brüssel. Was trotz der alltagspolitischen Hektik eine Konstante zu sein scheint: Stefanie Gaismayer ist eine zutiefst überzeugte Europäerin, was man an ihrem Handgelenk-Tattoo sehen kann. In einem Gespräch mit Katharina Geißler aus dem NEOS Lab erzählte die Brüssel-Insiderin Wissenswertes und Kurioses aus ihrer bisherigen Zeit im Europäischen Parlament.
Ab wann zählt man als Brüssel-Insiderin, und würdest du dich überhaupt als solche bezeichnen?
Ich denke darüber oft nach, weil ich mich einerseits nach eineinhalb Jahren noch immer neu fühle, andererseits nicht mehr ganz neu bin. Was ich in der Brüssel-Bubble auf jeden Fall gelernt habe: Alles ist so gestrickt, dass man sein Leben lang das Gefühl hat, man ist keine Insiderin. Erst wenn man aus der Blase heraustritt, merkt man, dass die anderen noch weniger Insider sind. Die großen Fragen und Verwirrungen hat man auch vor Ort, aber man weiß zumindest, dass man nichts weiß und man nie ausgelernt haben wird.
Lass uns zu deinem ersten Eindruck kommen. War der Sprung von NEOS Wien ins Europäische Parlament zu Beginn ein Kulturschock für dich?
Es war ein extremer Kulturschock, den ich so auch nicht antizipiert habe. Ich kam mit gefühlt viel politischer Vorerfahrung, kannte Parlamente von innen, und dachte das wird so oder so ähnlich auch auf europäischer Ebene ablaufen. Dann bin ich draufgekommen, dass dieses Haus ganz anders funktioniert als alles, was wir in Österreich kennen. Es gibt so viele Einflussfaktoren, die nicht niedergeschrieben sind und die man nicht lernen kann, sondern einfach erleben muss. Dazu kommt das Zusammenspiel der unterschiedlichen europäischen Institutionen, wie dem EuGH, dem Europäischen Rechnungshof, der Europäischen Zentralbank etc. Es ist einfach ein riesiges Sammelsurium an Agenturen und Organisationen. Das zu durchdringen ist eine Lebensaufgabe.
Wenn du an deine Anfangszeit zurückdenkst: Gibt es etwas, das dich zu Beginn besonders überrascht hat?
Positiv überrascht hat mich die relative Auflösung von Parteigrenzen: Statt Partei- gibt es Themenallianzen. In der liberalen Fraktion gibt es eine riesige Bandbreite, von der niederländischen D66, die eher grün-liberal ist, bis zu den deutschen Freien Wählern, die zuletzt mit Antisemitismus unangenehm aufgefallen sind. Dadurch ergeben sich auch außerhalb der Fraktion große Schnittmengen mit anderen. Außerdem ist das EU-Parlament ein echtes Arbeitsparlament: Die Abgeordneten schreiben tatsächlich Gesetze und verbringen den Großteil ihrer Arbeit damit, Satz für Satz auszuhandeln.
Gibt es auch Aspekte, die dir negativ aufgestoßen sind?
So ziemlich jedes Klischee, das man von Europa hat, trägt einen wahren Kern in sich. Es gibt schon eine Kultur, die suggeriert, dass es immer Ausnahmeregelungen oder Sonderbehandlungen für Abgeordnete gibt. Das ist keine Frage der Transparenz – im Übrigen ist das Europäische Parlament eines der transparentesten Parlamente der Welt. Irgendwer Schlauer hat das so zusammengefasst, dass es auch daran liegt, dass die Abgeordneten in Brüssel niemals mit Wähler:innen von sich aufeinandertreffen. Das hat auch einen Einfluss auf die gefühlte Distanz zwischen Bürger:innen und EU-Apparat.
Wie findet man sich in so einem großen, komplexen Institutionsapparat überhaupt zurecht?
Ich habe am Anfang mein Team total gebraucht. Es ist wirklich ein langes Lernen und sich Einlernen. Ein Jahr braucht man in jedem Fall, um die Basics durchstiegen zu haben, um alle Prozesse und Abläufe zu kennen. Aber nicht nur was die formellen Dinge anlangt, sondern auch alle Aspekte, die den gemeinsamen Umgang und die gelebte Kultur betreffen. Für mich ist es unvorstellbar, wie das am Anfang für uns NEOS war, wenn man niemanden hat, der sich schon auskennt und an dem man sich festhalten kann. Man wird also zur Insiderin, je länger man da ist. Vielleicht liegt darin auch eine Strategie, manche Dinge nebulös zu halten, um sich über die Zeit im Parlament einzuzementieren.
Du bist in einer turbulenten Zeit im EU-Parlament gelandet. Eine Zeit, in der politische Ereignisse auch dieses Europa stark beschäftigt haben. Was war bisher der politisch schönste und der politisch schwerste Moment, den du im EP miterleben konntest?
Was mir hier natürlich direkt einfällt, ist die Rede von Selenskyj letzten Februar. Jetzt ist es so, dass an normalen Plenartagen der Saal oft recht leer wirkt – egal, wer vorne steht. Aber als sich der ukrainische Präsident ankündigte, war das ganze Haus komplett in Aufruhr. So habe ich das vorher und nachher nie mehr so erlebt. Der Menschenandrang vor seiner Rede war außergewöhnlich. 100 Meter vor dem Saal haben sich Menschentrauben gesammelt, wie bei einem Rockkonzert. Das war gleichzeitig sehr erhebend und bedrückend, weil man weiß aus welchem Grund er an diesem Ort spricht.
Ein anderer Moment, der zwar keine weltpolitische Bedeutung hatte, den ich allerdings trotzdem nicht vergessen werde, war ein russischer Cyberangriff. Es war in einer Plenarwoche, als die EP-Webseite nicht mehr abrufbar war. Da war mir relativ schnell klar, dass das kein Zufall sein kann. Am Ende hat sich das auch bewahrheitet. Es wurden zwar keine Daten abgezogen, allerdings wird einem schon dadurch die Bedrohung bewusst, dass Europa im Fokus der Bösewichte steht.
Brüssel, also das systemische Europa, wirkt oft für Österreicher:innen sehr abstrakt und weit weg.
Der europäische Staatenbund ist ein Feldversuch einer neuen demokratischen Staatlichkeit, für die es in der Form kein Vorbild gibt. Man muss sich schon eingängig damit beschäftigen, um zu verstehen, wie Politik funktioniert – die EU ist da ungleich komplexer als die nationale Politik. Partikularinteressen von Interessengruppen und Stakeholdern und die schiere Masse an Interessen, die im Kompromiss vereint werden müssen, hat zur Folge, dass die Prozesse dorthin sehr komplex und langwierig sind. Der Entstehungszyklus eines europäischen Gesetzes von der Idee bis zum Inkrafttreten hat so viele formelle Stationen, dass es nicht diesen einen Zeitpunkt gibt, wo ich über dieses Gesetz kommunizieren kann. Ich kann also nicht von Bürger:innen erwarten, dass sie wissen, wie der aktuelle Stand von diesen Prozessen ist. Das ist das Problem, wenn man in einem demokratischen Kunstwerk wohnt.
Woran liegt das, und was könnte man für eine bessere Vermittlung europäischer Politik tun?
Es ist absolut der Aufgabe der Medien klarzumachen, was europäisch und was nationalstaatlich initiiert wurde, um die Vereinnahmung guter Projekte durch Regierungen einzudämmen bzw. einen Etikettenschwindel zu vermeiden. Kein:e Politiker:in kann ernsthaft behaupten, machtlos gegenüber einer externen Union zu sein, da im Rat die nationalstaatlichen Regierungen beteiligt sind. Langfristig ist die Vermittlung europapolitischer Arbeit ein Bildungsthema. Am besten fängt man bei sich selbst an: in jeder Situation über den Mehrwert von Europa zu sprechen, denn es gibt keine Alternative zur EU. Wir müssen alle verstehen, dass Europa kein Fremdkörper ist – Europa, das sind wir alle.
Österreich ist unter anderem für seine Spitzenrolle als EU-Skeptiker bekannt. NEOS nehmen als proeuropäischste österreichische Partei diesbezüglich eine andere Haltung ein. Was macht dich zu einer überzeugten Europäerin, und warum wird diese Überzeugung in Österreich vergleichsweise wenig geteilt?
Wenn man es negativ formulieren will, dann ist man zusammen einfach weniger allein. Für diese Haltung braucht man keine Europa-Enthusiastin zu sein. Wir können dadurch größere Herausforderungen meistern. „In Vielfalt geeint“ ist ein Leitspruch, der meint, dass wir menschlich, kulturell, wirtschaftlich etc. gemeinsam um vieles reicher sind. Persönlich pflege ich ein sehr ausgeprägtes Freiheitsverständnis und bin überzeugt, dass wir in diesem Europa freier leben, als das vermutlich in Summe jedes andere Volk der Welt kann. Kassenschlager wie die Abschaffung der Roaming-Gebühren oder die Personenfreizügigkeit mit Erasmus können von älteren Generationen lebensweltlich anders eingeordnet werden, weil sie die Zeit davor präsenter erinnern. In Österreich wird sich das weniger vergegenwärtigt, vielleicht auch weil wir verwöhnt sind. In unserem Alltag ist Europa nämlich überall greifbar.
Die Absurdität von EU-Vorgaben wie der Gurkenverordnung führen immer wieder zu Irritationen. Wenn du ein Missverständnis oder Vorurteil über die EU ausräumen könntest, welches wäre das?
Genau das würde ich gerne ausräumen. Die Gurkenverordnung gibt es seit zehn Jahren nicht mehr. Die steht symbolisch für die Überregulierung der Europäischen Union. Ich habe allerdings nie verstanden, warum wir uns an den Gurken aufhängen, weil es intuitiv verständlich ist, dass es für den Transport leichter ist, gerade Gurken einzuschlichten. Wer darauf achtet, findet auch wieder krumme Gurken. Fragen dazu bekomme ich immer noch regelmäßig.
Als Insiderin hast du in den letzten Jahren bestimmt auch viele interessante Akteur:innen getroffen. Gab es eine Aussage oder einen Ratschlag zu Europa, der dir besonders in Erinnerung geblieben ist und du teilen möchtest?
Mut zur Lücke! Denn die Überwältigung, die man hat, wenn man auf die EU blickt, hat jeder und jede.