Ferenc Gelencsér: „Der ungarische Staat fällt auseinander“
The English version of this interview can be found here.
Wer verstehen will, was „Orbánismus“ wirklich bedeutet, findet keinen besseren Gesprächspartner als seinen liberalen Gegner in Ungarn: Ferenc Gelencsér. Der 33-jährige Parteivorsitzende der liberalen Momentum-Bewegung ist sichtlich frustriert über die Situation in Ungarn: Noch bevor wir uns zum eigentlichen Interview hingesetzt haben, beginnt Gelencsér direkt, mit Beispielen, Analogien und Geschichten zu erklären, wie Orbán Ungarn prägt.
Schnell taucht er in die Details ein, springt dann zu einem anderen Punkt, nennt Namen, Zahlen und Anekdoten aus allen Bereichen des ungarischen Lebens, von der Kontrolle der Justiz und der Medien über das kaputte Gesundheitssystem bis hin zu der bizarren Geschichte eines Zauns in Budapest. Wir beginnen nicht einmal mit einer Frage, sondern schalten einfach das Mikrofon ein, als Gelencsér bereits mitten in seinen Ausführungen steckt. Es ist ein langes Gespräch, denn Gelencsér wirkt eher wie ein Untergrundaktivist in einem Polizeistaat als ein klassischer Parteivorsitzender im Parlament.
Das folgende Gespräch ist die Langfassung von Gelencsér’s Ausführungen. Die wichtigsten Eindrücke aus Budapest und die Kernaussagen des Gesprächs gibt es in dieser Reportage.
Gelencsér: Die Sache ist die. Ich war schon ein paar Mal in Brüssel, und mir wird oft die Frage gestellt: Was wird passieren, wenn die AfD in Deutschland oder die FPÖ in Österreich gewinnen? Immerhin wollen die das Orbán-Modell einführen. Und meine Antwort ist, dass es ein ganzes Paket ist. Es ist nicht so, wie viele im Ausland denken. Von außen sieht es so aus, als würde Orbán populistisch für die „Zivilisation“ kämpfen. Aber in den letzten 13 Jahren ist so ziemlich jede einzelne politische Institution gekapert worden. Der Staat ist gekapert. Wir haben keine unabhängige Justiz, keine unabhängige Legislative, keine unabhängige Exekutive. Sogar die Gerichte sind gekapert, genau wie die Medien.
Materie: Private und öffentlich-rechtliche Medien?
Ja, jede einzelne kleine Zeitung auf dem Land ist im Besitz einer Firma namens KESMA. Ihnen gehört so ziemlich jede einzelne Zeitung, die die Leute lesen. Sogar in den Sportnachrichten schreiben sie über Politik! Wir, Momentum, sind als Protestbewegung für ein Referendum gegen die Olympiabewerbung 2024 entstanden, weil wir glaubten, dass das Land zusammenbrechen würde, wenn Ungarn die Olympischen Spiele ausrichten würde. Viele Wirtschaftswissenschaftler und politische Analysten haben uns Recht gegeben. Wir haben mehr als eine Viertelmillion Unterschriften gegen die Bewerbung gesammelt, und das Orbán-Regime zog sich zurück, weil es das Ergebnis nicht hinnehmen wollte. Dafür bezeichnen uns jetzt Sportzeitungen als „anti Sport“, als anti-olympisch und damit anti-ungarisch.
Das ist besorgniserregend.
Das ist beunruhigend, ja, sogar in der Türkei gibt es mindestens vier unabhängige Nachrichtenagenturen, die einen hohen Prozentsatz an Lesern haben. In Ungarn haben wir nur RTL aus Deutschland. Jeder andere Sender ist im Besitz irgendeines Orbán-Oligarchen. Sie haben nicht nur die Institutionen, sondern ganze Sektoren in ihren Besitz gebracht. Wenn Sie zum Beispiel ein Hotel haben, kann es gut sein, dass eines Tages jemand an Ihre Tür klopft und sagt: „Das ist ein schönes Hotel. Wie viel kostet es?“ Und wenn Sie nicht verkaufen stehen Sie vor, nun ja … „Herausforderungen“, um es vorsichtig auszudrücken. Sie werden nicht in der Lage sein, zu arbeiten. Das ist schon vielen Leuten passiert. Sie beherrschen den gesamten Bausektor. Waren Sie schon beim Burgpalast?
Noch nicht, nur im Parlament.
Also in der Burg bauen sie gerade alles wieder auf, was im Zweiten Weltkrieg zerbombt worden ist. Als ich stellvertretender Bürgermeister war, habe ich gesehen, dass sie beschlossen haben, den Stall wieder aufzubauen, den es dort einmal gab. Ich habe gefragt wofür, und sie sagten: Wir haben absolut keine Ahnung.
Vielleicht aus nostalgischen Gründen?
Ja, vielleicht. Aus nostalgischen Gründen bauen wir Dinge ohne Funktion. In der Zwischenzeit haben gerade im letzten Monat 2.000 Lehrer ihren Job verloren. Im Moment haben wir so wenig Polizisten, dass die Leute, die normalerweise auf Fische aufpassen, aufgefordert werden, zur Polizei zu gehen und die Beamten zu unterstützen. Dieser Staat bricht auseinander. Ich zahle meine Einkommenssteuer, ich zahle meine Sozialversicherung, aber der Staat funktioniert nicht.
Wie hoch sind die Steuern in Ungarn?
Die Einkommenssteuer ist niedriger als in Österreich. Darüber führe ich eine große Diskussion mit meinen Freunden. Sie leben in Österreich und zahlen 44 Prozent – aber der Staat funktioniert.
In manchen Bereichen würde ich nicht so weit gehen, aber ja. Die Polizei ist oft unterbezahlt, aber zumindest funktioniert sie.
Ich gebe Ihnen noch ein Beispiel dafür, wie unser Staat nicht funktioniert. Ich hatte Bauchschmerzen und ging in eines der größten Krankenhäuser in Budapest. Dort wurde mir Blut abgenommen und … sie haben es mir einfach gegeben. Weil sie keine Krankenschwestern hatten! Sie sagten mir: „Bitte suchen Sie ein Labor und geben Sie das Blut dorthin“. Ich ging also mit meinem Blut in der Hosentasche dorthin und bekam eine Ultraschalluntersuchung. Und sie sagten mir, dass ich Krebs habe. Nach zwei Tagen des Schocks ging ich in ein anderes, privates Krankenhaus – und dort sagte man mir, dass es mir gut geht. Ich habe gar keinen Krebs.
Und das Problem dahinter ist: Ich zahle zwar für meine Sozialversicherung, aber sie geben es nicht für die Sozialversicherung aus! Es sollte ein Gesetz geben, das besagt, dass das Geld auch dafür verwendet wird, wofür es eingehoben wird. Und nicht, um einen Stall aus der Vergangenheit wieder aufzubauen. Es gibt so viel über den Orbánismus zu erzählen, und es tut mir leid, wenn ich da zwischen Themen springe, aber ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel: Im Moment haben wir Bücher, die einfoliert werden müssen.
Ja, das habe ich gesehen, auch in Österreich spricht man darüber.
Harry Potter! Im Moment wird Harry Potter einfoliert, weil Dumbledore schwul ist!
Was doppelt seltsam ist, weil es nicht einmal in der Handlung vorkommt.
Ja, man erfährt es erst, wenn man die Fortsetzung sieht. Und sie ist abgedeckt! Ich habe früher Geschichte studiert. Wenn man ein Buch verdeckt, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man es irgendwann verbrennt. Das Gesundheitswesen ist komplett kaputt, das Recht auf freie Meinungsäußerung nimmt rapide ab, LGBTIQ-Personen werden bedroht. Und in der Verfassung steht jetzt, dass „ein Vater ein Mann und eine Mutter eine Frau“ ist.
Sie haben die Geschlechterrollen in die Verfassung aufgenommen? Das löst eine Menge Probleme …
Ja, hurra, jetzt wird alles billiger! In der Zwischenzeit haben wir eine Lebensmittelinflation von 50 %. Die Löhne sind so niedrig, dass nur Bulgarien noch niedrigere Einkommen als Ungarn hat. Aus diesem Land hätte einfach alles werden können. Nach dem Fall des Kommunismus hatten wir eine sehr gute Ausgangsposition und die Chance, aufzuholen. Vielleicht nicht mit Österreich – aber zumindest mit Slowenien! Und wir hatten immer diese Probleme mit anderen Ländern: Schau dir diese armen Slowaken an, diese armen Rumänen. Wenn wir doch nur eine so niedrige Inflationsrate hätten wie die Slowakei! Wenn wir nur die Korruption so bekämpfen könnten wie Rumänien!
Was bedeutet es, in dieser Situation ein Liberaler zu sein?
Wenn Sie Viktor Orbán fragen, ist ein Liberaler ein Kommunist mit einem Abschluss. Er nennt sein System ein illiberales System, aber sie nennen die Liberalen Kommunisten. Inzwischen spricht er von einem „System der nationalen Kooperation“, das für mich ähnlich klingt wie das, was sie in Italien hatten.
Das erinnert an Mussolini: „Wir sind das Volk, wir arbeiten zusammen und wer nicht kooperiert, ist der Feind.“
Als Orbán seine erste Wahl verlor, erklärte er, dass „die Nation nicht in der Opposition sein kann“. Er hat also schon vor 21 Jahren erklärt, wer Teil der Nation ist und wer nicht. Ich war erst 12 Jahre alt, aber das war ein klares Zeichen dafür, dass etwas im Argen liegt und dass dieser Typ Ärger bedeutet. Und jetzt leben wir in Schwierigkeiten. Ich frage mich wirklich, ob wir im Jahr 2030 noch Teil der Europäischen Union sein werden.
Warum? Wegen eines Referendums? Oder wegen des Streits um die EU-Finanzierung?
Die EU gibt Ungarn keinen Cent, weil sie weiß, dass er gestohlen werden wird.
Wenn Sie wissen wollen, warum die EU uns keine Mittel gibt, zeige ich Ihnen etwas. Das ist ein Baumwipfelpfad – das einzige, was fehlt, sind die Bäume. Der Bürgermeister der Stadt hat 60 Millionen Euro aus EU-Mitteln erhalten, um diese Promenade zu bauen. Das Geld reichte aber nicht aus, um sie zu bauen, also fällte er alle Bäume. Das ist das ganze System in einem Bild!
Und das ist Orbáns Datscha. Sein Vater war vor dem Regimewechsel Mitglied der Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei. Er hatte eine Steinmine, und als seine Leute an die Macht kamen – tada! – kaufte der Staat die Steine von seinem Vater.
Und das ist ein Stadion in Budapest. Das Versprechen war, ein Studenten-Village zu bauen, einen riesigen Campus wie in Paris. Es hätte 30.000 Studenten beherbergen sollen, was auch die Häuser zum Einsturz gebracht hätte. Sie hätten beinahe die Fuda-Universität angesiedelt. Das ist keine schlechte Universität – aber ihr Hauptziel ist die Verbreitung des Maoismus und chinesischer Werte. Wir leben in einer Gesellschaft, in der Kommunismus das größte Schimpfwort ist, also war die Empörung groß. Aber sie haben das Stadion trotzdem gebaut!
Das ist der Grund, warum die EU Ungarn kein Geld geben will. Und Orbán denkt über ein Leben nach der EU nach. Er denkt, wir brauchen die EU-Gelder nicht, wir brauchen die Bürokraten oder „Brüsseliten“, was auch immer das sein mag, nicht: Sie verursachen die hohen Preise, sie wollen den alten Ungarn ihre Gender-Ansichten aufzwingen und so weiter. Aber Orbáns Leute machen es wie damals im Kommunismus: Sie arbeiten mit der Angst. Die Menschen erinnern sich, dass sie nach dem Krieg ihre Wohnungen teilen mussten, weil alles zerstört war. Und jetzt sagen sie: „Die Opposition will, dass die Migranten in eurer Wohnung wohnen.“
Und wenn man klarstellen will, dass es nicht so ist, gibt es keinen Platz in den Medien.
Ja, aber das ist nicht nur in den Medien so. Es ist auch auf Facebook und vielen sozialen Plattformen. Wir haben ein System von „Proxy-Medien“: Die Regierung gibt Instituten Geld, um konservative Werte zu fördern, und diese geben Geld an sogenannte „Megafone“. Und diese Megafone geben mehr Geld für politische Werbung aus als sonst jemand in Europa. Und das, obwohl es nicht mal ein Wahljahr ist! Können Sie sich das vorstellen? Niemand in Europa gibt mehr Geld dafür aus!
Und die Resultate kann man kaum übersehen: Sie gehen auf Facebook und egal, was Sie verfolgen – Sie werden nur das sehen. Diese Seiten haben 50.000 Follower, werden gesperrt und fangen mit frischem Geld wieder an. Und dann sagen sie den Menschen, dass wir Ungarn in eurer Heimat wollen, dass wir Truppen in der Ukraine wollen und dass wir der Grund für die hohe Inflation sind. Wir haben zwei Politiker im Europäischen Parlament, die sind angeblich der einzige Grund für die Inflation, weil sie für die Sanktionen gestimmt haben. Aber dann stimmen sie selbst für die Sanktionen, während sie „Nein zu Sanktionen“ sagen. Ich meine, komm schon!
Und die Menschen können die andere Seite nicht hören, richtig? Ich nehme an, Sie haben ein eigenes Budget für Facebook-Werbung, aber damit kommen Sie auch nicht so weit.
Wir geben weniger als 10.000 Euro pro Monat auf Facebook aus. Aber nur die stellvertretenden Facebook-Seiten geben Millionen von Euro im Monat aus. Und da sind Fidesz und die Regierung noch gar nicht mit eingerechnet. Ein anderes Beispiel: Im Moment sieht man überall Plakate mit der Aufschrift „Kriegstreiber“ mit fünf Gesichtern. Das ist Momentum und die anderen Parteiführer. Sie verwenden Regierungsgelder für Fake News über die Opposition – zum Beispiel, dass man in den Krieg ziehen muss, wenn man für uns stimmt.
Es ist also keine liberale Demokratie mehr, weil man keine Ideen äußern kann.
Ja, und das sage ich auch meinen österreichischen Freunden. So ein System wollt ihr nicht! Mein Hauptproblem mit Fidesz ist, dass das, was sie tun, intellektuelle Zerstörung ist. Was passiert mit dem Geist eines Landes, wenn man das tut?
Aber steht die Jugend auch hinter Fidesz? Oder neigen junge Leute dazu, zu sehen, dass es mehr im Leben gibt? Auch über das Internet?
Das mag sein, aber Sie werden wissen, dass die junge Generation nicht wählen geht. Sie haben das Gefühl: „Unsere Stimme zählt nicht, ich bin nur eine Person“, und auf diese Weise verlieren wir Zehntausende von Menschen.
Aber wir haben noch ein anderes Problem mit dieser Generation: Wir hatten vor einiger Zeit einen Protest. Wenn man zum Burgpalast geht, ist dort ein Zaun. Bei einem Studentenprotest haben wir den Zaun abgebaut, weil es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Einige Abgeordnete von uns und viele Leute wurden in Gewahrsam genommen. Wir haben die ganze Nacht auf die jungen Leute gewartet, und ich hatte die Gelegenheit, mit den Studenten zu sprechen. Und nicht einer von ihnen hatte vor, in Ungarn zu studieren. Alle verlassen das Land! Viele Menschen hatten die Möglichkeit zu reisen, ins Ausland zu gehen, Brüssel zu besuchen. Ich gehöre zu diesen Menschen. Aber ich habe mehr mit Menschen meines Alters in Kopenhagen gemeinsam als mit älteren Menschen in meinem Land.
Eine Politikwissenschaftlerin sagte mir, dass das Orbáns Plan sein könnte: Wenn alle, die anders leben wollen, das Land verlassen und die, die bleiben, kein Englisch sprechen, kennt niemand die Alternative.
Das könnte ein Plan sein, aber ein kurzsichtiger. Wenn nur die am wenigsten gebildeten Menschen hier bleiben, bin ich mir ziemlich sicher, dass in 20 bis 30 Jahren die Hälfte der Menschen arbeitslos sein wird. Der KI-Boom, die Digitalisierung und all die IT-Jobs werden dazu führen, dass es viele der heutigen Arbeitsplätze nicht mehr geben wird. Und wenn man eine ungebildete Gesellschaft hat, werden die Menschen Schwierigkeiten haben, einen Job zu finden.
Zurzeit gibt es in der Schule einen Pflichtkurs: Man kann entweder Religion oder Ethik studieren. Ich habe mich im Parlament zu Wort gemeldet und gefragt: Warum bringen wir den Kindern nicht IT bei? Ich habe Religion in meiner Freizeit gelernt und bin froh darüber, auch wenn es nicht verpflichtend war. Aber jetzt sehe ich, dass die jungen Leute IT brauchen. Sie werden keinen Job bekommen, wenn sie die Technik nicht verstehen.
Auf Ihrer Website sprechen Sie von einem „Rachegesetz“, das derzeit diskutiert wird. Was hat es damit auf sich?
Es gibt seit mehr als einem Jahr anhaltende Proteste von Studenten und Lehrern. Es gab Märsche für eine bessere Bildung in Budapest, um zu zeigen, dass die Lehrer unterbezahlt sind und keine Unterstützung erhalten. Aber die Lösung der Regierung war nicht, die Gehälter zu erhöhen, sondern diejenigen zu bestrafen, die unterrichten. Wenn du ein Lehrer bist, können dein Handy, dein Laptop und deine privaten E-Mails gecheckt werden. Um zu sehen, was du über das System denkst, denn das bist du: Ein Teil des Systems. Die Bildung gehört dem Innenminister!
In Ungarn gibt es also kein Bildungsministerium?
Nein, das ist alles dem Innenministerium unterstellt. Und anstatt zu versuchen, mehr Lehrer in das System zu bekommen, versuchen sie, die vorhandenen auszuquetschen. Sie sind so unterbezahlt, dass es viel Arbeit für wenig Geld ist. Und jetzt werden sie gezwungen, mehr zu arbeiten: Die Schülerzahl kann erhöht werden und Lehrer und ganze Klassen können verlegt werden. Das ist ein Racheakt gegen die Lehrer, weil sie für eine bessere Bildung protestiert haben. Und anstatt sie anzuhören, werden sie für ihren öffentlichen Aufschrei bestraft.
Und Sie können nichts ändern? Haben Sie im Parlament keine Chance, um etwas dagegen zu tun?
Orbán hat das Parlament so gut wie leergefegt, es gibt keine inhaltlichen Debatten mehr. Wenn man für eine Entschließung stimmen will, muss man erst zur sogenannten „Gesetzgebungskommission“ gehen, wo 99 % von dem, was wir vorschlagen, es nie ins Parlament schaffen wird.
Auch in Österreich wird das, was in den Parlamentssitzungen zur Debatte steht, de facto von der Regierungsmehrheit entschieden.
Wir stellen fest, dass die Entscheidungen nicht mehr im Parlament getroffen werden. Und in den letzten drei Jahren war ein Zaun um Orbáns Schloss gezogen. Es gibt also keinen Platz für unabhängige Medien, um die Mächtigen über ihre Politik zu befragen – niemand darf diesen Bereich betreten. Aber es ist ein öffentlicher Bereich, es ist eine Straße! Wenn wir also ins Büro gehen, bauen wir manchmal einfach den Zaun ab, wir zerstören ihn. Im Moment werden wir also wegen Ruhestörung angeklagt. Organisiert. Sogar bewaffnet! Denn die Dinge, die wir zum Abbau des Zauns benutzt haben, werden von der Regierung als Waffen betrachtet. Und die vierte Anklage ist der lustigste Teil: Wir haben den Betrieb der Straße gestört. Wie könnten überhaupt Autos fahren, wenn da ein Zaun ist?
Was war die Reaktion darauf, dass Sie den Zaun entfernt haben?
Beim letzten Mal wurde einer meiner Kollegen in Gewahrsam genommen. Manchmal haben sie Pfefferspray gegen uns eingesetzt. Auch ich wurde von Polizisten festgenommen. Ich habe ihnen gesagt: „Ich bin Parlamentsabgeordneter, Sie dürfen mich nicht einmal anfassen“, zumindest nicht nach dem Gesetz. Aber ich hörte, wie sie sagten: „Bringt ihn dorthin, damit die Medien ihn nicht sehen können“. Sie haben mir fast den Arm gebrochen. So versucht Momentum, etwas zu verändern. Die anderen Oppositionsparteien haben den Kampf aufgegeben.
Sie begannen als Protestbewegung gegen ein Stadion und sind jetzt eine liberale Partei. Was ist Ihr Gegenmodell zum Orbánismus?
Das große Bild ist: Europa wird ein Imperium werden oder es wird untergehen. China ist ein Imperium, eine ganze Zivilisation, Indien ist auch auf dem Weg dorthin. Die USA sind nicht mehr das, was sie einmal waren, aber sie sind immer noch eine Supermacht. Und Russland? Wir werden sehen. Aber für die europäischen Staaten, selbst für Deutschland, ist ihre relative Macht relativ gering. Aber wenn wir eine europäische Föderation mit einer halben Milliarde Menschen mit der besten Kaufkraft der Welt aufbauen könnten – mit zwei Nationen mit extrem gut ausgerüsteten Armeen –, dann könnte Europa die Zukunft sein. Aber die Zeit läuft uns davon. Und ich bin ein bisschen frustriert darüber. Diese Chance ist einfach da, und aus irgendeinem Grund ergreifen wir sie nicht! Wir brauchen eine starke Europäische Union. Wir können nicht in die 30er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückkehren.
Wie sehen Sie die Bedrohung durch die FPÖ oder die AfD?
Ich bin kein Experte für Ihre Politik, aber ich weiß, dass der Trend, gelinde gesagt, beunruhigend ist. Die Vision dieser Parteien ist einfach so unglaublich klein. Als Europäer in meinen 30ern denke ich, dass das kurzsichtige Politiker sind, die sich groß fühlen wollen – aber in Wirklichkeit sind sie wirklich klein. Ich meine, wir hatten eine Parlamentssitzung, um Schweden wegen der Türkei aus der NATO auszuschließen. Was ist mit der Souveränität? „Wir sind ein souveräner Staat und werden nicht tun, was Brüssel sagt …“
„… aber wir werden tun, was Erdogan sagt.“
Ja, genau. Es ist atemberaubend. Als Momentum wollen wir uns dem Projekt der Europäischen Union anschließen, unsere Position innerhalb der EU und der NATO erneuern und stärken. Denn im Moment bekämpft Orbán unsere Verbündeten, obwohl sie uns finanzieren und schützen. Wenn es nach mir ginge, nach Momentum, dann würden wir diesen Staat in die Zukunft führen. Denn es klingt hart, aber dieser Staat befriedigt nur die älteren Menschen. Unsere Gesellschaft sieht so aus (zeigt eine Pyramide mit seinen Händen). So viele Menschen stimmen für eine Zukunft, die sie nicht mehr erleben werden. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass die Generationen meiner Großeltern und meiner Eltern schuld sind, dass sie den Klimawandel verursacht haben, in dem ich jetzt leben muss.
Es ist ein Generationenkonflikt über die Zukunft.
Ja. Aber es gibt auch gute Gegenbeispiele. Estland hat 3 % seines BIP durch E-Government eingespart. Dort kann man so ziemlich alles online erledigen, außer zu heiraten, sich scheiden zu lassen oder eine Wohnung zu kaufen. Und das ist nicht die Zukunft: das ist die Gegenwart! Und 3 % des BIP sind eine Menge! Wir könnten es für Bildung ausgeben, wir könnten es für das Gesundheitswesen ausgeben. Wir müssten nicht in einem Land leben, in dem wir unsere eigenen Blutproben herumtragen müssen. Das ist nicht einmal lächerlich, das ist unerhört! Ich möchte, dass Kinder Dinge lernen, die ihnen helfen, im Leben erfolgreich zu sein. Was wollen wir also bieten? Einen funktionierenden Staat. Die Mehrwertsteuer beträgt 27 %. Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten 100 Stunden, bekommen 66 % davon als Einkommen und zahlen weitere 27 % nur über die Mehrwertsteuer.
Diese Steuer ist übrigens noch höher als in Österreich.
Wir haben 53 Arten von Steuern. Und wir wollen ein Land, in dem mindestens 24 Stunden lang niemand die Gesetze ändert. Ein Beispiel: Im Juli letzten Jahres gab es einen riesigen Aufschrei wegen KOTA, der Steuerform, die Selbständige verwenden. Sie hatten eine sehr einfache Möglichkeit, ihre Steuern und Sozialabgaben zu bezahlen. Und eines Tages sagte der Minister, dass dies reformiert werden müsse. Vier Tage später verkündeten sie: „Kann gut sein, dass wir es ändern werden“. Und am nächsten Tag haben sie das Gesetz einfach geändert. Stellen Sie sich vor, dass sich mitten im Jahr – während Sie planen, was Sie an Steuern zahlen müssen – in nur fünf Tagen alles ändert!
Man kann also nicht vorausplanen, wenn man selbständig ist?
In diesem Land kann man einfach nicht vorausplanen, denn es gibt keine Rechtsstaatlichkeit. Es gibt keine Sicherheit in den Gesetzen, alles kann sich in einer Minute ändern. Wir haben 53 verschiedene Arten von Steuern, obwohl wir das zweitniedrigste Einkommen in der EU haben. Die große Verheißung nach dem Regimewechsel und dem Fall der Europäischen Union war, dass man endlich sein eigenes Café in einer Gegend wie der Mariahilfer Straße eröffnen kann.
Und das ist nicht einmal ein großer Standard.
Das ist gar nichts! Und das ist es, was Momentum bietet: Wir wollen Prestige. Wir wollen, dass Ungarn Teil der EU, der NATO ist, um diese Bündnisse zu stärken. Wir wollen, dass die Regierung die Steuern für die Menschen ausgibt. Wir wollen Sicherheit für die Menschen, damit sie vorausplanen können. Damit sie ihre Zukunft sehen können und nicht von Tag zu Tag, von Woche zu Woche leben müssen. Damit sie nicht das Land verlassen müssen, wenn sie tun wollen, was sie wollen.
Das könnte das Problem mit großen Ideen und komplexen Antworten sein. Wenn kluge Leute an einem Ort sind, wo es nicht viele Chancen gibt, wo es keine funktionierende Infrastruktur gibt, gehen sie viel zu oft einfach weg. Sie gehen in die Großstädte und ziehen z.B. vom Land weg. Und sie lassen nur diejenigen zurück, die mit dem Status Quo zufrieden sind. Und in Ungarn ist im Grunde das ganze Land „das Land“, in dieser Analogie. Würden Sie dem zustimmen?
Ich stimme mit dem Argument der komplexen Antworten überein. Vor der Wahl hat Orbán eine 13. Monatsrente verschenkt. Mein Vater meinte: „Oh, wow, da kommt Geld ins Haus“. Und ich sagte: „Stell dir vor, du bräuchtest es nicht, denn dein monatlicher Lohn reicht aus!“
Aber es ist Gratis-Geld. Wir haben das gleiche in Österreich – mit der Gießkanne wurde während der Pandemie extrem viel Geld ausgegeben, dafür war die Inflationsrate lange zweistellig.
Aber es gibt kein Gratis-Geld! Und so ist es auch mit den Zinsen für Staatsanleihen: Die zahlen wir, und keiner bekommt sie! Und noch etwas, was mich ärgert: Als ich in Paris studiert habe, fragte mich eine Kommilitonin aus Deutschland, woher ich komme. Ich sagte Ungarn, und da fragte sie mich: „Was machst du denn hier? Du hasst uns!“ – So sehen uns die Leute also. Und das ist eine Schande.
Man kann ein Volk nicht auf seine Regierung reduzieren. Wir haben auch Probleme mit unserem Image in anderen Ländern, vor allem in der Außenpolitik.
Aber um mal etwas Positives über Österreich zu sagen: Ich möchte eine Regierung haben, in der die Leute zurücktreten. Kurz ist zurückgetreten. Aber ich kann mich nicht erinnern, wann das letzte Mal ein Minister zurückgetreten ist, weil er etwas falsch gemacht hat. Nehmen Sie zum Beispiel Judit Varga: Als Justizministerin hat sie ein Gesetz unterzeichnet, das es ermöglichte, Journalisten und einige unserer Parteimitglieder abzuhören. Und einfach so führt sie jetzt die Fidesz-Liste für die Europawahlen im nächsten Jahr an.
Aus den Augen, aus dem Sinn.
Ich möchte in einem Land leben, in dem die Legislative, die Judikative und die Exekutive getrennt sind und arbeiten. Wenn man als Politiker stiehlt, wird man bestraft. Wenn Sie ein Politiker sind, stehen Sie nicht über dem Gesetz.
Das ist die zentrale liberale Idee seit vielen hundert Jahren, und in Ungarn ist sie immer noch nicht umgesetzt?
Ja. Und ich will eine Welt, in der mir niemand vorschreibt, was ich denken soll, wen ich lieben soll und wie ich Teil der Nation sein soll. Ich bin ein Teil der Nation! Ich habe eine Frau, aber ich habe viele Freunde in der LGBTIQ-Gemeinschaft, und die fühlen sich bedroht. Warum würde man sie angreifen? Sie sind Bürger dieser Nation, sie zahlen ihre Steuern. Sie haben Rechte verdient. Aber in Ungarn haben die Menschen nicht die gleichen Rechte.
Es ist eine Schande, dass man im Jahr 2023 immer noch dafür kämpfen muss. Das ist … ein sehr deprimierender Punkt, um damit zu enden, finden Sie nicht?
Wenn Sie einen optimistischen Satz zum Schluss haben wollen, möchte ich Folgendes sagen: Wenn man einen Stein hochwirft, wird er irgendwann herunterfallen. Wir haben die Osmanen, die Russen und Dschingis Khan überlebt. Alles, was einen Anfang hat, hat auch ein Ende. Es ist nur die Frage, wer die Teile aufheben wird, wenn es zu Ende geht. Und ich denke, es wird unsere Generation sein.