Harald Oberhofer: „Bei Bildungsinvestitionen sieht man keine kurzfristigen Erfolge“
Genießt die Wissenschaft genug Anerkennung? Gerade durch die aktuelle Debatte um das Budget für die Universitäten drängt sich diese Frage geradezu auf. Einer, der es wissen muss, spricht mit uns darüber: Der Wirtschaftswissenschaftler Harald Oberhofer kommt aus einem Bereich, der es in der politischen Debatte besonders schwer hat.
Wir treffen Oberhofer am 29. November in den Räumlichkeiten des NEOS Parlamentsklubs. Der WU-Professor spricht im Interview mit Materie über den Forschungsstandort, das Niveau der wirtschaftspolitischen Debatte in Österreich – und darüber, welche Maßnahmen die Politik jetzt setzen müsste, um zukunftsfit zu werden.
Aktuell wird über das Budget für den Forschungsstandort diskutiert, es gibt viele Schuldzuweisungen zwischen Ministerium und den Universitäten. Unabhängig davon, welcher Betrag nun wirklich stimmt: Warum ist es eigentlich so, dass in Österreich gerade das Bildungssystem so oft um Geld fragen muss?
Die Universitäten sind zum Einen für eine nicht wahnsinnig große Personengruppe relevant – das sind die Angestellten an den Universitäten und die Student:innen. Die Wählergruppe ist nicht sehr groß und in ihren Interessen relativ heterogen. Andere Interessengruppen verfolgen viel stärker gemeinsame Ziele, sind besser und einheitlicher organisiert und können so erfolgreicher politischen Druck erzeugen.
Zum Anderen ist es so, dass die Politik von Wahlzyklus zu Wahlzyklus denkt. Der Beitrag der Wissenschaft zur Standortsicherung ist keiner, durch den man kurzfristig Erfolge sieht, deshalb ist es wahrscheinlich weniger attraktiv, dort zu investieren. Deshalb ist es für Politiker:innen, die wiedergewählt werden wollen, nicht sehr attraktiv, in den Universitätsbereich zu investieren.
Was es aber problematisch macht, ist, dass wir für die langfristige gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung diese Investitionen benötigen würden. Österreich ist kein großartig rohstoffreiches Land, unsere Ressourcen sind gut gebildete Menschen, Fachkräfte im hochtechnologischen Bereich, Menschen mit Expertise und Innovationen. Den Erfolg einer Investition in Bildung, Wissenschaft oder die Universitäten sieht man im Regelfall nicht bereits innerhalb von zwei Jahren, man kann ihn nicht bei der nächsten Wahl verkaufen. Darum ist es typischerweise für die Universitäten relativ schwierig in der politischen Arena.
Aber ist das immer noch so, dass wir durch unsere gebildeten Menschen erfolgreich sind? Wenn man über das österreichische Bildungssystem spricht, geht es ja eher selten um Best Practice oder Reformen. Wie schaut es mit der Anerkennung von Bildung und Wissenschaft in der Politik aus?
Den Stellenwert der Wissenschaft in Österreich hat man im Verlauf der Covid-Pandemie gut gesehen. Man sieht schon, in gewissen Bereichen gibt es durchaus Anerkennung. Die Vorstellung z. B., dass wir gute Mediziner brauchen und dass alle davon profitieren, sieht man schon irgendwie. Auf der anderen Seite haben wir in Österreich eine Debattenkultur, in der starke Meinungen oftmals über Fakten, Evidenz und wissenschaftliche Erkenntnisse gestellt werden. Wir erinnern uns an die nicht wenigen Hobbyvirolog:innen, die bei Covid vieles glaubten besser zu wissen, als an Universitäten tätige tatsächliche Virolog:innen.
Ist das bei der Wirtschaftspolitik genauso? Da ist es ja auch oft so, dass die Politik viele Empfehlungen der Wissenschaft ignoriert und lieber so tut, als könnte der Staat die Preise festsetzen.
Zum Einen ist es so, dass es im Interesse mehrerer Gruppen liegt, die Wirtschaftsforschung nicht als Wissenschaft zu begreifen, sondern eine Sammlung von normativen Vorstellungen und Werturteilen, aus der man relativ frei ziehen kann, was man glaubt, das sinnvoll ist. Unsere wirtschaftspolitischen Diskussionen leben von der Idee, in der Wirtschaft muss man einen Widerspruch machen. Es gibt immer eine Meinung, dann gibt es eine Gegenmeinung, beide werden gleich gewichtet. Und es wird nicht so genau darauf geschaut, ob die Argumente wissenschaftlich fundiert sind oder eher aus einer ideologischen, normativen Vorstellung stammen. Da wird de facto nicht getrennt. So etwas wie Wirtschaft wissenschaftlich zu erklären, hat keinen großen Markt in diesem Land. Es geht eher darum, die Wirtschaftspolitik aus Gruppeninteressen heraus stark zu beeinflussen.
Der andere Grund ist, dass wir als Gesellschaft grundlegende Mängel im Verständnis haben, wie die Wirtschaft funktioniert. Wie funktionieren Märkte, was sind ihre Vor- und Nachteile? Warum hat man den Markt als Allokationsmechanismus etabliert? Welche Möglichkeiten hat der Staat, in das Wirtschaftsgeschehen einzugreifen? Welche erwünschten und möglicherweise unerwünschten Folgen könnten solche Eingriffe haben? Dazu fehlt in vielen Diskussionen das notwendige Grundverständnis, um eine seriöse Diskussion zu führen. Und das geht zurück auf die de facto Nicht-Existenz von wirtschaftlicher Grundausbildung im österreichischen Schulsystem.
Also zu wenig Financial Literacy?
Financial Literacy ist sicher ein wichtiger Aspekt. Dass man ein Grundverständnis über die Funktionsweise von Kapitalmärkten hat und weiß, wie man sparen kann, was da unterschiedliche Möglichkeiten sind. Wie funktionieren unterschiedliche Märkte für Anlagen, wie funktionieren Kredite – das ist für private Konsum- oder Investitionsentscheidungen sicher relevant. Da gibt es aus meiner Sicht aus historischen Gründen relativ wenig Interesse, da die Bildung zu verbessern. Uns wurde z. B. über Jahrzehnte gesagt, auf den Kapitalmärkten zu investieren, ist immer schlecht –
Und immer riskant!
Genau, das Sparbuch ist immer das Bessere, weil man nicht ernsthaft darüber diskutieren will, was Risiko ist und welche möglichen Vorteile und Nachteile so etwas haben kann. Man geht immer davon aus, dass eh der Worst Case eintritt, und deshalb kommt das alles nicht in Frage. Gleichzeitig sagt man nicht dazu, dass nur in historischen Ausnahmefällen die Zinsen auf Sparbüchern höher sind als die Inflation. Man hat den Leuten suggeriert: Sparen am Sparbuch ermöglicht Vermögensaufbau. Stimmt halt nicht, wenn die Zinsen niedriger sind als die Inflation.
Jetzt spüren das die Leute, und das wäre ein Window of Opportunity, das seriöser zu diskutieren. Weil aktuell sind Spareinlagen knapp über 0 %, die Inflation ist bei 10 %, das ist dann relativ einfach: Alles, was am Sparbuch liegt, wird 10 % weniger wert in einem Jahr. Und das ist dann schon viel. Früher war das nicht in diesem Jahr, aber 1-2 % hat man auch jedes Jahr verloren – und das hat man dann als Erfolg verkauft.
Ich „weiß“ bei einem Sparbuch halt, wie viel oben ist, weil ich mit einem Sparplan regelmäßig drauflege und die Inflation nicht mit einberechne. Ich glaube also, es wird „ein Prozent mehr“ – aber Aktien könnten ja sogar runtergehen! Ist das die Vorstellung?
Das Problem bei solchen Entscheidungen ist, dass man sehr oft nur auf nominale Werte schaut und die reale Kaufkraft vergisst, die damit einhergeht. Oder den Unterschied gar nicht vermittelt bekommt – da sind wir wieder beim Bildungssystem. Wir müssen das immer real rechnen: Was kann ich mit meinem Ersparten kaufen? Was kann ich mir leisten? Das ist die entscheidende Frage, und nicht, welche Zahl da am Konto steht. Aus den 1920er-Jahren wissen wir, dass diese Zahl keine Rolle spielt, wenn das Bier 100.000 Kronen kostet. Davon sind wir weit weg, aber bei 10 % Verlust ist das schon massiv. Das sollte jeder Mensch wissen, und genau um diese Frage geht es aktuell ja auch bei den Kollektivvertragsverhandlungen.
Wo gibt es noch Verbesserungsbedarf in der wirtschaftlichen Allgemeinbildung?
Es geht auch um Economic Literacy – wir sehen in der aktuellen Debatte ja wunderbar, dass es kein grundlegendes Verständnis für den Marktmechanismus gibt. Darum können wir auch keine gehaltvolle Diskussion über Reformalternativen führen. Wir enden da immer am gleichen Punkt: Wir sind mit dem Marktmechanismus nicht zufrieden, es muss wirtschaftspolitisch was gemacht werden, und der Staat kann eh alles regeln. „Die Preise müssen runter“ zum Beispiel. Dann sind wir bei verkürzten, vereinfachten Antworten, aber über die Konsequenzen von Eingriffen in den Markt reden wir gar nicht.
Da hat dann „der Markt versagt“, und dann muss halt immer „der starke Staat“ her.
Dass der Markt über den Preis aber ein Signal sendet, was gerade knapp ist und wo man jetzt sparen muss, das wird überhaupt nicht diskutiert. Und wenn man sagt, man muss unbedingt in diesen Markt eingreifen und die Preise reduzieren – wie macht man das, ohne die Versorgungssicherheit zu gefährden?
Der Strompreis würde z.B. sofort fallen, würden wir den Betrieb von Gaskraftwerken von heute auf morgen verbieten. Dass dann morgen allerdings genug Strom für uns alle da ist, ist eine Illusion. Wir müssen dafür sorgen, dass wir bei Eingriffen in den Markt, die den Preis reduzieren, nicht die Versorgungssicherheit fahrlässig aufs Spiel setzen.
Das ist der Grund für die Schwierigkeiten mit einem EU-Preisdeckel für Strom oder Gas, oder?
Das ist ein Aspekt, warum das nicht so einfach ist. Ich finde es auch nachvollziehbar, dass die EU nicht einfach sagen kann, wir lösen das jetzt in zwei Stunden, weil das ist ein triviales Problem mit einer einfachen Lösung. Es ist ein komplexes Problem in einem relevanten Markt – wir brauchen Strom ja für eigentlich alles in unserem Leben. Man sollte da wirklich gut nachdenken und einen Mechanismus finden, der dafür sorgt, dass wir Strom in ausreichenden Mengen überall beziehen können, wenn wir etwas an der aktuellen Situation ändern. Darum muss man verstehen, dass wirtschaftspolitische Fragen nicht in zwei Minuten gelöst werden können – wenn man sie in zwei Minuten löst, steigt nämlich die Gefahr, dass man es eigentlich nur noch schlimmer macht.
In Österreich haben wir ja einen interessanten Widerspruch. Einerseits kommt einem vor, die Ablehnung von „Eliten“ ist in der Pandemie immer weiter gestiegen – aber andererseits romantisieren viele z. B. die Expertenregierung und wünschen sich die zurück. Was halten Sie als Wirtschaftsexperte von diesem Konzept?
Wir haben in Österreich ein generelles Phänomen, dass man Leute immer zuordnen möchte. Man glaubt gar nicht, dass es unabhängige Experten gibt: Die werden nur die Experten der Regierung sein, weil sie jemanden kennen oder im Dunstkreis einer Partei sind. Das ist diese grundsätzliche Skepsis gegenüber allen, die sich öffentlich äußern. Dass man meint, das ist alles Politik. Viele renommierte Experten verzichten darauf, sich in der Öffentlichkeit zu äußern, weil sie sich das nicht antun – was aber schade ist, weil wir wesentliche wissenschaftliche Erkenntnisse und Expertise so nicht in die gesellschaftliche Debatte einbringen können. Andere können das besser, z. B. die skandinavischen Länder. Dort wird nicht überall nach einem parteipolitischen Motiv gesucht, sondern wissenschaftliche Expertise kann einfach Expertise sein.
Zur Frage der Expertenregierung noch: Ich bin weder wissenschaftlich tätiger Politikwissenschaftler noch in der Markt- und Meinungsforschung tätig und vertraue auf die Einordnungen, die ich von diesen erhalte. Als empirisch arbeitender Wissenschaftler interessiert mich eher das Befragungsdesign und die Schwankungsbreiten, also die wissenschaftliche Qualität der gewählten Methoden mehr, als die konkreten Ergebnisse solcher Umfragen. Aus politökonomischen Überlegungen ist jedoch schon relevant, dass Politik im Rahmen von Wahlen zur Verantwortung gezogen werden kann. In der Theorie erfüllen politische Parteien in einer Demokratie eine wichtige Aufgabe, die nicht dauerhaft auf unpolitische Expert:innen abgewälzt werden sollte. Wenn Expert:innen Politik betreiben wollen, dann können Sie das tun und sich innerhalb von Parteien und in der Öffentlichkeit zur Wahl stellen.
Wenn Sie als Experte in einer Regierung säßen – ohne damit die repräsentative Demokratie zu untergraben -, was würden Sie anhand Ihrer Forschung unbedingt umsetzen wollen?
Über so etwas habe ich noch nicht nachgedacht. Wenn ich das tun würde, würde ich wahrscheinlich selbst in die Politik gehen. Was jetzt wirtschaftspolitisch am Tisch liegt, sind aber Probleme, die teilweise seit Jahrzehnten am Tisch liegen. Da gäbe es genug – z. B. die Zukunftsinvestitionen, also Investitionen in die Angebotsseite am Markt, damit wir langfristig wettbewerbsfähig sind.
Zum Beispiel Kinderbetreuung und Grundlagenforschung?
Kinderbetreuung ist ein anderes Thema. Wenn man sich unseren Arbeitsmarkt ansieht, z. B. den Gender-Pay-Gap und den Teilzeit-Anteil an Frauen, der auch ein bisschen mit unseren konservativen Wertvorstellungen zusammenhängt, ist das sicher ein Punkt. Da sollte jeder frei wählen können, aber dafür braucht es das Angebot.
Das andere sind Investitionen ins Bildungssystem, in die Universitäten, in die Forschung. Eine zentrale Frage wird sein: Kriegen wir Produktionstechnologien hin, die uns am Weg zur Klimaneutralität helfen und uns auch noch helfen, wenn wir dann klimaneutral sind? Das ist ein riesiger Zukunftsmarkt. Da wird man erst in ein paar Jahren gewisse Erkenntnisse haben – aber wir wissen, wohin wir wollen und was wir jetzt tun müssten, um dorthinzukommen.