Kim Lane Scheppele: „Ungarn ist keine Demokratie mehr“
The English version of this interview can be found here.
Viktor Orbán wird von so mancher Polit-Größe in Österreich hofiert und als Vorbild genannt – vor allem von der FPÖ. Dabei zeichnet sich das Land nicht nur durch die höchste Inflation in Europa aus, sondern auch durch die Kontrolle von Justiz und Medien. Ist das bloße Anti-Ausländer-Rhetorik? Oder doch eine offene Drohung, die Demokratie Schritt für Schritt abzuschaffen?
Die Politikwissenschaftlerin Kim Lane Scheppele beschäftigt sich genau mit diesem Thema. An der Princeton-Universität in den USA lehrt und forscht sie über den Aufstieg und Fall von rechtsstaatlichen Demokratien – also auch dazu, wie Demokratie in Autokratie übergeht. Dadurch hat sie zwangsläufig einen starken Fokus auf Ungarn, das sie nicht mehr als Demokratie sieht. Scheppele lebte einige Zeit selbst in Ungarn, kennt die Sprache und liest regelmäßig Gesetze, um den Umbau Ungarns in eine autoritäre Staatsform zu beobachten.
Worüber reden wir eigentlich genau, wenn wir von „Orbánisierung“ sprechen?
Eigentlich über zwei verschiedene Themen. Einerseits die Rhetorik, in den USA würden wir sie als „anti-woke“ bezeichnen. Orbán ist gegen die queere Community, gegen Migration, für traditionelle Werte. Er bezeichnet sich als Vertreter des „christlichen Europa“. Das „illiberal“ in seiner illiberalen Demokratie bezieht sich auf ein traditionelles, christliches Europa – das zieht Leute aus mehreren Ecken des politischen Spektrums an.
Bei Orbán geht es aber auch darum, die Demokratie in ein autoritäres System umzubauen. Die institutionellen Beschränkungen der Macht werden durch die Exekutive nach und nach abgebaut. Das wird zwar durch Orbáns Logik begleitet, ist aber keine zwingende Folge daraus. Man muss nicht die Justiz kontrollieren, um gegen Migration und LGBTIQ-Rechte zu sein. Man muss dafür auch nicht die Medien, die Zentralbank, die Wettbewerbsbehörde oder die Staatsanwaltschaft kontrollieren. Und man muss dafür auch keine Wahlen manipulieren.
Das sind also zwei verschiedene Merkmale, die „Orbánistan“ ausmachen, wie es einige Leute nennen. Aber sie ziehen unterschiedliche politische Gruppen an. Willst du die Rhetorik, die anti-woke politische Agenda? Willst du einen autoritären Staat? Oder willst du beides?
Ist Ungarn immer noch eine Demokratie?
Ich glaube, Ungarn ist seit 2013 keine Demokratie mehr. Damals hat Orbán die Wahlgesetze so geändert, dass es für jede andere Partei unmöglich ist, die Wahl zu gewinnen. Jedes Mal, wenn die Oppositionsparteien Orbáns System knacken und versuchen, sich zu organisieren, um Schlupflöcher im System auszunutzen, ändert er die Regeln wieder und macht es ihnen unmöglich zu gewinnen. Ich habe eine einfache Definition von Demokratie: Kann man die Führung durch Wahlen ändern? Und wenn das nicht mehr möglich ist, ist es keine Demokratie. Und unter diesem Gesichtspunkt ist Ungarn eben auch keine Demokratie mehr.
Warum genau kann die Opposition nicht gewinnen?
Das Wahlgesetz ist entscheidend. Das Wichtigste ist, dass Orbán einen Vorschlag gemacht hat, das Parlament zu halbieren. Und das schien eigentlich eine gute Idee zu sein: Das Parlament war riesig, und nicht einmal die Opposition hielt das für eine schlechte Idee. Aber sobald das Parlament halbiert war, mussten alle Einzelwahlkreise, alle Wahlkreise neu gebildet werden. Und das gab Orbán die Möglichkeit, das ganze Land auf einmal umzugestalten. Im Jahr 2014, der ersten Wahl nach diesen Änderungen, gewann er 44 Prozent der Stimmen und erhielt 91 Prozent der Bezirke.
Und es gibt noch einen Haufen anderer Regeln, die alle diese Mehrheiten ergänzen. Jedes Mal, wenn in Ungarn gewählt wird, gewinnt Orbán die Hälfte oder weniger als die Hälfte der Stimmen, erhält aber zwei Drittel der Sitze. In Ungarn kann man dann die Verfassung ändern – das bedeutet, dass er über dem Gesetz steht. Er kann am Morgen aufwachen und beschließen, die Verfassung zu ändern.
Kim Lane Scheppele
Welche Rolle spielen die Medien? Wissen die Ungarn eigentlich darüber Bescheid?
Von allen EU-Mitgliedstaaten hat Ungarn den geringsten Anteil an Menschen, die eine Fremdsprache sprechen. Das ist ein bisschen seltsam, denn es ist eine wenig verbreitete, seltsame Sprache. Aber die meisten Menschen konsumieren nur ungarische Nachrichten, und Orbán hat sich zuerst auf Fernsehen und Radio konzentriert, wo die meisten Menschen ihre Nachrichten beziehen. Dann folgten die Printmedien, dann die Streaming-Medien. Wenn also medial etwas auf Englisch oder Deutsch passiert, kümmert er sich nicht wirklich darum, es zu unterdrücken, weil die meisten Menschen es nicht lesen können.
Orbán begann damit, dass seine Oligarchen einige der privaten Medien aufkaufen durften. Denn die privaten Medien waren alle durch das Internet in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Als Orbán an die Macht kam, übernahm er die öffentlichen Medien: Er entließ viele Journalist:innen und stellte seine eigenen Parteimitglieder wieder ein. Und dann nutzte er die Macht der Regulierung, um alle anderen Medien unter seine Kontrolle zu bringen. Es gibt einen unabhängigen Radiosender im Internet, und es gibt kleine Zeitungen, vor allem in der Hauptstadt Budapest. Aber der Rest ist eine Orbán-Echokammer.
Einer unserer Autoren schreibt über eine Szene in einem Wahlkampf, wenn man es so nennen will, als Orbán in Budapest einen Pressetermin hatte. Als internationale Journalisten ihn zu diesem Thema befragten, ging er in ein Geschäft und fragte nach Zeitungen, die ihn kritisierten.
Das ist die neue Diktatur: Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts verschlossen die Tore, hielten ihre Bevölkerung im Lande, warfen Dissidenten ins Gefängnis, führten Schauprozesse durch und folterten sie. Die neuen Diktatoren tun nichts von alledem: Sie öffnen fröhlich die Tore! Sie lieben es, wenn die Opposition das Land verlässt! Und die EU macht es einem sehr leicht: Wenn man in einem EU-Mitgliedstaat ist, hat man das Recht, überallhin zu reisen. Man will nicht, dass die Opposition im Gefängnis sitzt, man will, dass sie geht. Sie schließen nicht alle Medien – nur die, die ihre Leute lesen.
Teil des Plans ist also, dass die Ungarn, die nicht mit Orbán einverstanden sind, das Land verlassen und ihn in Ruhe lassen?
Ganz genau. Das ist der Grund, warum die Central European University jetzt in Wien ist. Aber es ist auch der Grund, warum zwischen 500.000 und einer Million Ungarn das Land verlassen haben, seit Orbán an die Macht kam. Es ist schwer, genau zu sagen, wie viele das Land verlassen haben: In Ungarn wird keine Statistik geführt, aber in den anderen Ländern weiß man, wie viele Ungarn zugezogen sind. Das sind zum Beispiel Studierende, die keine Stipendien an teuren Universitäten bekommen, oder Journalisten, die von keinem anderen Medienunternehmen eingestellt werden können. Sie müssen dann ins Ausland gehen.
Er drängt diese Leute wirklich aus dem Land: Er hat die Arbeitslosenunterstützung auf das niedrigste Niveau in der EU gesenkt und die Sozialleistungen von Rechts wegen abgeschafft. Das alles geschieht auf Kosten der örtlichen Bürgermeister. Wenn sie dich also im öffentlichen Sektor entlassen oder dafür sorgen, dass du in der Privatwirtschaft entlassen wirst, kannst du nirgendwo mehr einen Job finden – natürlich gehst du dann!
Kann das auf lange Sicht funktionieren? Wenn es überall in Europa Dissidenten gibt, kann dieses Land dann weiterhin geschlossen bleiben?
Eine der Folgen des Rauswurfs von Fachkräften ist, dass Ungarn einen Arbeitskräftemangel hat. Also muss es jetzt Gastarbeiter von irgendwoher holen. Ja, es gibt einige Dinge, die mit Orbáns Wirtschaftspolitik nur schwer aufrechtzuerhalten sind.
Dennoch gab es in den ersten zehn Jahren seiner Regierung ein Wirtschaftswachstum in Ungarn. Sie senkte die Unternehmenssteuersätze und schuf viele Anreize für die Ansiedlung von Unternehmen in Ungarn. Und es wurden viele Geschäfte mit – gelinde gesagt – nicht ganz demokratischen Ländern wie China oder Russland gemacht. Aber der Preis, den Orbán dafür zahlt, ist, dass diese neuen Unternehmen keine Arbeitskräfte finden können. Ungarn hat jetzt einen wirtschaftlichen Abschwung erlebt: Das Land hat die höchste Inflationsrate in der EU.
Das liegt zum großen Teil daran, dass die EU die Haupttriebkraft für Entwicklungsgelder war. Und die EU hat alles außer den Agrargeldern für Ungarn eingefroren, weil das Land eine Diktatur ist. Sie versuchen, Ungarn dazu zu bringen, zur Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren.
In den internationalen Beziehungen gibt es die Debatte über den Übergang von einer unipolaren, von westlichen Werten geprägten Welt zu einer eher „transaktionalen“ Welt, in der Autokraten und demokratische Staaten meist anderen gleichgesinnten Nationen helfen. Ist das Teil von Orbáns Plan?
Ich denke schon, dass wir die Entwicklung alternativer Institutionen beobachten, die nicht die Werte der Demokratie und der Menschenrechte in ihrem Kern haben. Ungarn ist zu klein, um das allein zu schaffen, aber man sieht es an Chinas Belt and Road Initiative. China ist ein wichtiger Akteur in diesem Bereich, Russland ebenfalls. Und Ungarn ist mit all den Ländern befreundet, die versuchen, diese alternativen Institutionen aufzubauen, um die westliche Hegemonie herauszufordern.
Auch die USA sind nicht mehr unbedingt ein verlässlicher internationaler Partner, wie jeder nach der Wahl Trumps sehen konnte. Das hat Europa auf jeden Fall aufgeschreckt, und man sieht, dass die EU jetzt ihre eigenen Verteidigungskapazitäten aufstockt. Die Fähigkeit, der Ukraine zu helfen, eine proaktivere Außenpolitik zu betreiben, wird ein wenig ausgebaut. Die USA haben ihre eigenen Probleme. Früher brauchte der Rest der Welt die Wahlen in den USA nicht so genau zu verfolgen, weil es egal war, wer gewann.
Weil sowohl die Demokraten als auch die Republikaner Transatlantiker waren.
Die transatlantischen Beziehungen waren immer das Zentrum der amerikanischen Außenpolitik und sehr solide. Jetzt ist das nicht mehr so klar: Die Demokraten und die Republikaner haben sehr unterschiedliche Ansichten über die Welt. Deshalb baut die EU ihre eigene Verteidigung etwas mehr aus – weil die USA nicht mehr so solide sind wie früher.
Aber das bietet auch Autokraten eine Chance. Die USA versuchen nun, die Demokratien auf der ganzen Welt zu verteidigen – und dann laden sie Herrn Modi aus Indien ein, der, sagen wir, nicht der engagierteste Demokrat ist. Sie laden Polen zum Gipfel der Demokratien ein, obwohl dessen Regierung gerade dabei ist, die Unabhängigkeit der Justiz zu zerstören. Selbst die USA haben erkannt, dass sie die Hilfe von Regierungen brauchen, die sich nicht unbedingt für die Demokratie im eigenen Land einsetzen.
Ich verstehe, warum nicht jeder Partner eine 10/10-Demokratie sein kann. Denn Indien ist wichtig, egal wie. Aber wenn Trump nächstes Jahr besiegt wird, wie viele in Europa hoffen …
Herr Orbán hofft das nicht! Er gratulierte Trump zu seiner Anklage wegen föderaler Straftaten!
… sagen wir, wie viele im westlich orientierten Europa hoffen … ist die Phase vorbei, in der die Republikaner autoritären Regierungen gegenüber positiver eingestellt sind?
Nun, die republikanische Partei steht kurz vor dem Zusammenbruch. Sie war die Wirtschaftspartei, die Deregulierungspartei, die Partei des kleinen Staates, die Partei der individuellen Freiheit. Jetzt ist sie nichts von alledem mehr. Sie ist die neue Partei des großen Staates geworden, die Partei des „Wir wollen alles wissen, was Sie in Ihrem Leben tun“. Sie ist zu einer Partei der Kleptokraten und Autokraten geworden. Und sie ist nicht mehr der US-Verfassung verpflichtet. Das ist ein echter Schock.
Am interessantesten in der US-Politik finde ich jetzt die Gruppe, die ich die „heimatlosen Republikaner“ nenne. Diejenigen, die sich dem verpflichtet fühlen, wofür die alte Partei stand, und die verstehen, dass die Trump-Partei das nicht ist. Die Frage ist, wohin sie gehen – die Zukunft des Landes liegt in ihren Händen. Denn ohne eine Mitte-Rechts-Partei, die sich für die Aufrechterhaltung des Systems einsetzt, kann man keine Demokratie haben. Und im Moment haben die USA ein Land ohne eine Mitte-Rechts-Partei, weil die Republikaner so weit nach rechts gerückt sind.
Die amerikanische Demokratie ist also in Gefahr. Nicht weil die Demokraten so gefährlich sind – auch wenn man nicht mit ihnen übereinstimmt, halten sie sich an die Regeln und glauben an das System. Sondern weil es für die Mitte-Rechts-Partei keinen Platz mehr gibt, wo sie hingehen kann.
Das kommt mir irgendwie bekannt vor.
Deshalb habe ich es ja auch so gesagt – man kann sich auch hier ein bisschen Sorgen um das Parteiensystem machen, oder?
Sind wir in der gleichen Situation, nur ohne die Waffendebatte? Worauf sollten wir achten?
Eines der Warnzeichen ist die Normalisierung der extremen Rechten. Das ist der Fall, wenn eine Mitte-Rechts-Partei merkt, dass sie an Boden verliert, und sich deshalb nach rechts bewegt, um genügend Unterstützung zu bekommen. Das ist sehr gefährlich, denn diese rechtsextremen Parteien glauben nicht an die Aufrechterhaltung der verfassungsmäßigen Ordnung.
Orbán hat das in Ungarn getan: Er begann als libertäre Partei, dann wechselte er zur nationalistischen Mitte-Rechts-Partei. Und dann, als er sah, wo die Stimmen sind, stahl er ständig Themen von den Rechtsextremen und neutralisierte die rechtsextremen Parteien. Man hat also systemfeindliche Elemente in der Mitte des Systems. Demokratien brauchen also eine Vielfalt von Parteien. Wenn die Mitte-Rechts-Parteien nicht wissen, wohin sie gehen sollen, dann fallen Demokratien auseinander. Mitte-Rechts und Mitte-Links müssen sich an die Spielregeln halten – denn in der Demokratie geht es um die friedliche Rotation der Macht.
KIM LANE SCHEPPELE ist Laurance S. Rockefeller-Professorin für Soziologie und internationale Angelegenheiten an der Princeton School of Public and International Affairs und am University Center for Human Values der Princeton University. Außerdem ist sie Lehrbeauftragte an der University of Pennsylvania Law School. Ihr Hauptgebiet ist die Rechtssoziologie, wobei sie sich auf ethnografische und archivarische Forschungen über Gerichte und öffentliche Institutionen spezialisiert hat. Sie beschäftigt sich auch mit soziologischer Theorie, vergleichender/historischer Soziologie, politischer Soziologie, Wissenssoziologie und Menschenrechten. Sie lebte längere Zeit in Ungarn und Russland und untersuchte die Art und Weise, in der neue Verfassungen erlassen und verankert wurden.