Martina Künsberg Sarre: „Der Bildungsminister ist ein mutloser Verwalter“
Die Schulen werden von Verwaltungsaufgaben erdrückt, der Lehrkräftemangel verschärft sich zunehmend, und eine zu große Zahl an Pflichtschulabsolvent:innen kann nicht sinnerfassend lesen: Beim österreichischen Bildungssystem scheint einiges im Argen zu liegen. Grund dafür seien fehlende Ziele und Strategien im Bildungsbereich, sagt NEOS-Bildungssprecherin Martina Künsberg Sarre. Warum sie dennoch zuversichtlich gestimmt ist und was in anderen Ländern besser läuft, erzählt sie im Materie-Interview.
MATERIE: Im Sommer waren noch rund 200 Lehrer:innenstellen in Österreich unbesetzt. Es wird vermehrt auf Quereinsteiger:innen gesetzt, die Ausbildungsdauer für Lehrkräfte wird verkürzt – reicht das, um den Lehrkräftemangel abzufangen?
Künsberg Sarre: Quereinsteiger sind eine gute Ergänzung im Schulbetrieb, weil sie andere Sichtweisen und Erfahrungen einbringen. Aber sie werden diese Lücke nicht füllen können. Die roten und schwarzen Bildungsminister der letzten Jahre haben schon lange gewusst, wann wer in Pension geht und wie viele neue Lehrer nachkommen, haben aber nicht gegengesteuert. Der Bildungsminister versucht hilflos, Leute zu rekrutieren. Zuletzt wurden Personen aus dem Militär an Schulen vorgeschlagen.
Was müsste der Bildungsminister tun, um mehr Lehrkräfte zu gewinnen?
Es geht nicht nur darum, dass irgendjemand in der Klasse steht – man muss die „Richtigen“ finden, die Engagierten, die Leute, die mit jungen Menschen arbeiten wollen. Und dazu gehört auch, dass man das Bildungssystem an sich verändert: Bessere Arbeitsbedingungen, moderne Arbeitsplätze und Aufstiegsmöglichkeiten für Lehrkräfte schaffen, mehr Autonomie und Entscheidungskompetenz am Schulstandort, Bürokratie abbauen. Es geht aber auch darum, dass Lehrerinnen und Lehrer ihren eigentlichen Job machen können: Ein Lehrer ist kein Schulpsychologe, kein Schulsozialarbeiter und keine Verwaltungskraft. Das muss er jetzt aber alles mitmachen, weil dieses Supportpersonal an unseren Schulen zu wenig vorhanden ist. All das würde den Lehrerberuf attraktiver machen.
Warum ist der Lehrerberuf von einem hochangesehenen Job zu einem geworden, den niemand mehr machen will?
Das stimmt ja so nicht. Es wollen nur zu wenige Lehrer werden. Der Lehrerberuf ist anspruchsvoll und herausfordernd, aber auch großartig! Was gibt es denn Schöneres als junge, wissbegierige Menschen zu begleiten und sie auf das Leben vorzubereiten? Schau in die Konferenzräume vieler Schulen – das sind keine Arbeitsplätze. Dabei wäre es längst notwendig, dass Lehrer nicht nur ihre Stunden in den Klassen abhalten, sondern mehr Zeit an den Schulen verbringen und Ansprechpartner für die Schüler sind. Das geht aber in vielen Fällen nicht, weil sie auf engstem Raum mit anderen Lehrkräften im Konferenzzimmer zusammensitzen. Dass es auch anders geht, sehen wir etwa in Finnland und Estland: Dort sind Lehrerinnen und Lehrer während ihrer gesamten Arbeitszeit vor Ort. Da entstehen dann auch gemeinsame Projekte, weil man mit den Kollegen vermehrt zusammenarbeitet.
Finnland und Estland gelten generell als Best-Practice-Beispiele im Bildungsbereich. Warum schaut sich Österreich nicht mehr von solchen Bildungssystemen ab?
Das Credo in diesen Ländern ist „Vertrauen statt Kontrolle“, bei uns ist es umgekehrt. Wir haben eine überbordende Bürokratie und zu viele Vorgaben. Dort setzt man auf Autonomie statt Zentralismus. Fast alle Entscheidungen werden am Schulstandort getroffen und nicht im fernen Ministerium. Dort fragt man sich: Was ist aus bildungswissenschaftlicher Sicht gut für unsere Kinder? Bei uns geht Ideologie vor Evidenz. In anderen Ländern reicht die Politik nicht so weit in das Bildungssystem hinein. Wer was wird, entscheiden in vielen Fällen noch immer die roten oder schwarzen Landeshauptleute. Und das ist der Punkt: Schule wurde für Kinder gemacht, nicht für Lehrerinnen oder Gewerkschafter. Jede Maßnahme, die gesetzt wird, muss in erster Linie für die Kinder gut sein. Wir haben im Bildungsbereich überhaupt keine Ziele: Wo wollen wir sein, wie kommen wir dahin?
Welche Ziele könnten das sein?
Ein Ziel wäre etwa zu sagen, wir wollen in den nächsten zehn Jahren die Anzahl der 15-Jährigen, die nicht sinnerfassend lesen können, halbieren – und das sind unsere Schritte, die dort hinführen. Oder: Wir wollen, dass Bildung nicht mehr so stark vom Bildungsstand der Eltern abhängt, und deshalb führen wir den Chancenindex ein und bauen den Elementarbereich aus, weil dort der Grundstein für gute Bildung gelegt wird. Oder: Wir wollen nicht länger Mittelmaß sein, sondern unter den Besten! Minister Polaschek hat noch kein einziges Ziel formuliert. Er ist ein mutloser Verwalter, kein Gestalter!
Das Bildungsniveau nach der Pflichtschule ist dermaßen schlecht, dass sich sogar schon die Wirtschaft einmischt: Man finde keine geeigneten Lehrlinge mehr, weil Bewerber:innen oft nicht sinnerfassend lesen oder einfache Rechenaufgaben lösen können. Sollte es nach der Pflichtschule eine Art Leistungsüberprüfung geben?
Wir sprechen uns für die mittlere Reife aus, aber zuerst muss das System davor geändert werden. Sonst hat man einfach nur schwarz auf weiß, wer was kann und wer zu wenig kann. Das Ziel muss sein, die Kinder vom ersten Tag an so zu fördern und zu unterstützen, dass sie so einen Zwischenschritt bestehen. Wir brauchen endlich eine Debatte darüber, was unsere Kinder in der Schule lernen sollen. Es geht nicht nur darum, ihnen Lerninhalte zu vermitteln.
Es geht auch um das soziale Miteinander. Es braucht Zeit für Projektarbeiten, es braucht Zeit für „21st Century Skills“, für Wirtschafts- und Finanzbildung. Wir brauchen mehr verschränkte Ganztagsschulen, weil davon sowohl Kinder mit Herausforderungen als auch Kinder mit besonderen Talenten profitieren. Wir reden immer nur über Kinder, die Unterstützung brauchen, aber es gibt auch ganz viele Kinder in Österreich, die in bestimmten Bereichen ganz stark sind und deren Talente nicht so gefördert werden, wie sie sollten.
NEOS-Bildungssprecherin Martina Künsberg Sarre
Das Bildungsniveau und auch das Einkommen der Eltern spielen in Österreich laut OECD überdurchschnittlich oft eine Rolle dabei, wie gut Kinder in der Schule sind. Wie kann man dem Vererben von Bildung entgegenwirken?
Das beginnt bei den Kindergärten, die endlich als erste Bildungseinrichtung gesehen werden müssen. Es geht um eine bessere Ausstattung, um kleinere Gruppen, ein besseres Betreuungsverhältnis, aber natürlich auch um gute Öffnungszeiten, damit es beiden Elternteilen möglich ist, arbeiten zu gehen.
In der Schule ist die Trennung mit zehn Jahren viel zu früh. Die Kinder haben schon ab der dritten Klasse Volksschule einen enormen Stress, welche Noten sie haben und in welche Schule sie dann kommen, weil es viele Gymnasien gibt, die nur noch Kinder mit lauter Einsern aufnehmen. Wir brauchen eine Schule, in der die Kinder länger zusammen sind, mit guter innerer Differenzierung. Es geht nicht um Gleichmacherei. Wer Unterstützung braucht, wird gefördert, wer besondere Stärken hat, wird gefordert. Das System muss da flexibler werden. Die Digitalisierung sehe ich hier als große Chance und Bereicherung für den Unterricht.
Das eine Problem ist der Lehrkräftemangel, das andere das veraltete Schulsystem. Sind unsere Lehrpläne und unsere 50-Minuten-Einheiten mit strikt voneinander getrennten Inhalten noch zeitgemäß?
Es gibt schon jetzt die Möglichkeit im Rahmen des Autonomiepaketes, diese 50-Minuten-Einheiten aufzuheben, aber es setzen zu wenige Schulen um. Unser Fächerkanon ist über 80 Jahre alt. Das Zeugnis meiner Kinder und das ihrer Großeltern schaut quasi gleich aus. Die Fächerlogik ist nicht mehr zeitgemäß und muss an die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler angepasst werden. Die Aufgabe des Bildungsministers ist es, das zu ermöglichen.
Du hast vom mutlosen Bildungsminister gesprochen. Was wären denn mutige Maßnahmen der Politik?
Die ersten Schritte wären, dass man die Bildungsdirektion als Behörde abschafft und zu einer Servicestelle macht und dass man den Schulen am Standort mehr Freiheiten und damit auch mehr Verantwortung übergibt. Direktorinnen und Lehrer können sehr wohl auch selber gute Entscheidungen treffen, es muss nicht immer alles vom Ministerium oder der Bildungsdirektion vorgegeben werden. Den Lehrkräften und Direktoren ist es ein Anliegen, über ihre Arbeit und ihre Herausforderungen zu sprechen. Deswegen bin ich auch auf Bildungstour und besuche in allen Bundesländern verschiedene Schulen. Es gibt viele engagierte Menschen innerhalb und außerhalb der Schule, die etwas voranbringen wollen, und das stimmt mich zuversichtlich, dass sich langfristig trotz der vielen Blockierer auch was verändert. Wir NEOS wollen, dass Schule ein Ort ist, an dem Kinder und Jugendliche gerne lernen und Lehrkräfte gerne arbeiten.